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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Straßenrecht zur See nud seine Mängel

fach falschen Grundsätze aufmerksam. Aber mau kümmerte sich nicht um die
seemännischen Bedenken und vermochte auch nicht die Notwendigkeit einer
Gesetzesvcrbesserung zu erkennen. Obwohl sich binnen drei Jahrzehnten die
Anzahl der Seedampfer verzehnfachte und sich ihre Geschwindigkeit verdoppelte,
obwohl sich von Jahr zu Jahr die Schiffszusammenstvße ungeheuer mehrten,
blieb doch alles so ziemlich beim alten. Freilich wurden hie und da, um
das aufgeregte Publikum etwas zu beruhigen, Vorschriften erlassen über die
Anzahl der Rettungsboote und Schwimmgürtel, die ein Passagierdampfer führen
muß; der Seemann weiß aber recht gut, daß trotz aller Rettungsboote und
Schwimmgürtel fast bei jedem Zusammenstoß eine mehr oder minder große
Zahl von Passagieren den Tod in den Wellen findet. Der ahnungslose Laie
fragt nie darnach, ob vielleicht ein Fehler in den bestehenden Vorschriften vor¬
liegen könne; hatten doch die Juristen bei der Aburteilung von Kollisivnsfüllen
nie solche Mängel entdecken können, vielmehr jedes Unglück auf seemännisches
Verschulden oder toros miWurs zurückgeführt. Jeder Fachmann kann es nur
als "Glück und Zufall" bezeichnen, daß Deutschland seit dem entsetzlichen
Untergang der Cimbria am 19. Juli 1883, bei dem 437 Menschen ertranken,
nicht durch neuere Vorkommnisse den ernsten Mahnruf erhalten hat, darüber
nachzudenken: ob auch wirklich alles, was Menschenkraft vermag, geschehe, um
Seeunfälle zu vermeiden. Von Interesse ist es, zu sehen, welche Fehler der schon
genannte Aufsatz der Berliner Börsenzeitung als die Ursache des Zusammen¬
stoßes der Dampfer Cimbria und Sultan ansieht. Er sagt hierüber: "Verfolgt
man die Seeamtsverhandlnng, die in die Ursache der Katastrophe Klarheit
bringen sollte, so sieht man, daß die beiden Schiffe, als sie sich schon in
großer Nähe in Sicht bekamen, nicht über ihre gegenseitige Kursrichtuug
klar werden konnten und, dadurch mißgeleitet, Manöver machten, die zu dem
verhängnisvollen Ergebnis führten. Nicht in der zu geringen Fähigkeit der
verantwortlichen Seeleute lag die Schuld, sondern der Fehler war in dem
unzureichenden System der Nebelsignale und des Lichtersystems, sowie in zu
wenig präziser Fassung der Gesetze zu suchen. Das Unglück verursachte in
erster Linie, die dem jetzigen Gesetz entsprechende und dennoch ungenügende
Art der Aufstellung und Beschirmung der Positionslaternen beider Schiffe (so
nennt man die Signallaternen der Schiffe, von denen eine grüne an Steuer¬
bordseite, eine rote an Backbordseitc jedes Schiffes und dazu noch eine weiße
Laterne am Mast, bei Dampfschiffen während der Fahrt gesetzt wird), ferner
daß die Schiffe während des starken Nebels mit zu großer Geschwindigkeit
fuhren, was aber nach dem heutigen Gesetz auch zulässig ist, da keine be¬
stimmte Geschwindigkeit vorgeschrieben ist, und schließlich, daß die Nebelsignal¬
apparate so ungenügend waren, daß die damit gegebenen Schallsignale erst
dann von den Schiffen gegenseitig gehört wurden, als diese einander schon
sehr nahe gekommen waren."


Das Straßenrecht zur See nud seine Mängel

fach falschen Grundsätze aufmerksam. Aber mau kümmerte sich nicht um die
seemännischen Bedenken und vermochte auch nicht die Notwendigkeit einer
Gesetzesvcrbesserung zu erkennen. Obwohl sich binnen drei Jahrzehnten die
Anzahl der Seedampfer verzehnfachte und sich ihre Geschwindigkeit verdoppelte,
obwohl sich von Jahr zu Jahr die Schiffszusammenstvße ungeheuer mehrten,
blieb doch alles so ziemlich beim alten. Freilich wurden hie und da, um
das aufgeregte Publikum etwas zu beruhigen, Vorschriften erlassen über die
Anzahl der Rettungsboote und Schwimmgürtel, die ein Passagierdampfer führen
muß; der Seemann weiß aber recht gut, daß trotz aller Rettungsboote und
Schwimmgürtel fast bei jedem Zusammenstoß eine mehr oder minder große
Zahl von Passagieren den Tod in den Wellen findet. Der ahnungslose Laie
fragt nie darnach, ob vielleicht ein Fehler in den bestehenden Vorschriften vor¬
liegen könne; hatten doch die Juristen bei der Aburteilung von Kollisivnsfüllen
nie solche Mängel entdecken können, vielmehr jedes Unglück auf seemännisches
Verschulden oder toros miWurs zurückgeführt. Jeder Fachmann kann es nur
als „Glück und Zufall" bezeichnen, daß Deutschland seit dem entsetzlichen
Untergang der Cimbria am 19. Juli 1883, bei dem 437 Menschen ertranken,
nicht durch neuere Vorkommnisse den ernsten Mahnruf erhalten hat, darüber
nachzudenken: ob auch wirklich alles, was Menschenkraft vermag, geschehe, um
Seeunfälle zu vermeiden. Von Interesse ist es, zu sehen, welche Fehler der schon
genannte Aufsatz der Berliner Börsenzeitung als die Ursache des Zusammen¬
stoßes der Dampfer Cimbria und Sultan ansieht. Er sagt hierüber: „Verfolgt
man die Seeamtsverhandlnng, die in die Ursache der Katastrophe Klarheit
bringen sollte, so sieht man, daß die beiden Schiffe, als sie sich schon in
großer Nähe in Sicht bekamen, nicht über ihre gegenseitige Kursrichtuug
klar werden konnten und, dadurch mißgeleitet, Manöver machten, die zu dem
verhängnisvollen Ergebnis führten. Nicht in der zu geringen Fähigkeit der
verantwortlichen Seeleute lag die Schuld, sondern der Fehler war in dem
unzureichenden System der Nebelsignale und des Lichtersystems, sowie in zu
wenig präziser Fassung der Gesetze zu suchen. Das Unglück verursachte in
erster Linie, die dem jetzigen Gesetz entsprechende und dennoch ungenügende
Art der Aufstellung und Beschirmung der Positionslaternen beider Schiffe (so
nennt man die Signallaternen der Schiffe, von denen eine grüne an Steuer¬
bordseite, eine rote an Backbordseitc jedes Schiffes und dazu noch eine weiße
Laterne am Mast, bei Dampfschiffen während der Fahrt gesetzt wird), ferner
daß die Schiffe während des starken Nebels mit zu großer Geschwindigkeit
fuhren, was aber nach dem heutigen Gesetz auch zulässig ist, da keine be¬
stimmte Geschwindigkeit vorgeschrieben ist, und schließlich, daß die Nebelsignal¬
apparate so ungenügend waren, daß die damit gegebenen Schallsignale erst
dann von den Schiffen gegenseitig gehört wurden, als diese einander schon
sehr nahe gekommen waren."


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[0578] Das Straßenrecht zur See nud seine Mängel fach falschen Grundsätze aufmerksam. Aber mau kümmerte sich nicht um die seemännischen Bedenken und vermochte auch nicht die Notwendigkeit einer Gesetzesvcrbesserung zu erkennen. Obwohl sich binnen drei Jahrzehnten die Anzahl der Seedampfer verzehnfachte und sich ihre Geschwindigkeit verdoppelte, obwohl sich von Jahr zu Jahr die Schiffszusammenstvße ungeheuer mehrten, blieb doch alles so ziemlich beim alten. Freilich wurden hie und da, um das aufgeregte Publikum etwas zu beruhigen, Vorschriften erlassen über die Anzahl der Rettungsboote und Schwimmgürtel, die ein Passagierdampfer führen muß; der Seemann weiß aber recht gut, daß trotz aller Rettungsboote und Schwimmgürtel fast bei jedem Zusammenstoß eine mehr oder minder große Zahl von Passagieren den Tod in den Wellen findet. Der ahnungslose Laie fragt nie darnach, ob vielleicht ein Fehler in den bestehenden Vorschriften vor¬ liegen könne; hatten doch die Juristen bei der Aburteilung von Kollisivnsfüllen nie solche Mängel entdecken können, vielmehr jedes Unglück auf seemännisches Verschulden oder toros miWurs zurückgeführt. Jeder Fachmann kann es nur als „Glück und Zufall" bezeichnen, daß Deutschland seit dem entsetzlichen Untergang der Cimbria am 19. Juli 1883, bei dem 437 Menschen ertranken, nicht durch neuere Vorkommnisse den ernsten Mahnruf erhalten hat, darüber nachzudenken: ob auch wirklich alles, was Menschenkraft vermag, geschehe, um Seeunfälle zu vermeiden. Von Interesse ist es, zu sehen, welche Fehler der schon genannte Aufsatz der Berliner Börsenzeitung als die Ursache des Zusammen¬ stoßes der Dampfer Cimbria und Sultan ansieht. Er sagt hierüber: „Verfolgt man die Seeamtsverhandlnng, die in die Ursache der Katastrophe Klarheit bringen sollte, so sieht man, daß die beiden Schiffe, als sie sich schon in großer Nähe in Sicht bekamen, nicht über ihre gegenseitige Kursrichtuug klar werden konnten und, dadurch mißgeleitet, Manöver machten, die zu dem verhängnisvollen Ergebnis führten. Nicht in der zu geringen Fähigkeit der verantwortlichen Seeleute lag die Schuld, sondern der Fehler war in dem unzureichenden System der Nebelsignale und des Lichtersystems, sowie in zu wenig präziser Fassung der Gesetze zu suchen. Das Unglück verursachte in erster Linie, die dem jetzigen Gesetz entsprechende und dennoch ungenügende Art der Aufstellung und Beschirmung der Positionslaternen beider Schiffe (so nennt man die Signallaternen der Schiffe, von denen eine grüne an Steuer¬ bordseite, eine rote an Backbordseitc jedes Schiffes und dazu noch eine weiße Laterne am Mast, bei Dampfschiffen während der Fahrt gesetzt wird), ferner daß die Schiffe während des starken Nebels mit zu großer Geschwindigkeit fuhren, was aber nach dem heutigen Gesetz auch zulässig ist, da keine be¬ stimmte Geschwindigkeit vorgeschrieben ist, und schließlich, daß die Nebelsignal¬ apparate so ungenügend waren, daß die damit gegebenen Schallsignale erst dann von den Schiffen gegenseitig gehört wurden, als diese einander schon sehr nahe gekommen waren."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/578>, abgerufen am 23.07.2024.