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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Moralgrundsätze, die von den guten beobachtet, von den schlechten verletzt
werden, überall so ziemlich dieselben sind. Wenn an dem einen Orte die
Diebstähle, an einem andern Trunksucht und Vollere!, an einem dritten Ver¬
letzungen der Keuschheit oder Körperverletzungen auffällig mild oder auffällig
streng beurteilt werden, so kommt das meistens nicht von der Verschiedenheit
der Konfessionen, sondern von Unterschieden des Temperaments und der so¬
zialen Verhältnisse. Was den Tiroler Bauern vom pommerschen, den Spanier
vom Norweger unterscheidet, das ist uicht eine andre Auffassung seiner bür¬
gerlichen und häuslichen Pflichten, sondern daß er neben diesen noch allerlei
kirchliche Pflichten anerkennt; er macht bei verschiednen Gelegenheiten Kreuze
und Kuiebeuguugeu und hält sich für verpflichtet, Sonn- und Feiertags in
die Kirche zu gehen und auch an andern Tagen gewissen Andachtsübnnge"
obzuliegen. Damit hätte" wir den einzigen greifbaren und unzweifelhaften
Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Sittlichkeit genannt; der
katholische Pflichtenkreis umschließt religiöse Pflichten, die im protestantischen
fehlen, und die Wirkung der Reformation im sittlichen Gebiete beschränkt sich
darauf, daß der Mensch von dem Übermaß kirchlicher Pflichten befreit und
mit Ernst auf seine bürgerlichen Pflichten verwiesen worden ist, daß die
Männer und Frauen wieder gelernt haben, Gott weniger mit Kirchengehen
und Wallfahrer, mit Spendung von Ablaß- und Meßgelder", als mit Hobeln,
Schmieden und Kindermarten zu dienen. Und nicht einmal dieser Unterschied
ist grundsätzlicher Natur; deun mich der katholische Katechismus lehrt, daß die
Berufsarbeit des frommen Christen ein beständiger Gottesdienst sei, die ältern
Mönchsorden haben die bei Griechen, Römern und Germanen gering geachtete
Handarbeit zu Ehren gebracht, und schon Thomas a Kempis hat gemurrt:
Hui irnUtmn pöröKrilmntnr, rav Nmotilivanwr. Anderseits würde sich doch
mich der fromme Lutheraner oder Kalviuist der Sünde schuldig zu machen
glauben, wenn er beharrlich den Gottesdienst versäumen und auch im Käm¬
merlein niemals beten wollte. Aber im großen und ganzen tritt allerdings
dort mehr der Zug nach dem Jenseits, hier mehr der nach dem Diesseits hervor;
der Protestant hält es im allgemeinen mit Martha, während der fromme
Katholik, und noch mehr die Katholikin, gern den bessern und meistens auch
bequemern Teil wählt, mit Maria zu des Herr" Füßen zu sitzen. Dort liegt
die Gefahr weltlicher Verfluchung und Gottvergessenheit, hier die des frommen
Müßiggangs und der Schwärmerei näher.

Das andre, was der konfessionellen Moral hie und da eine andre Färbung
verleiht, ist schon besprochen worden. Der Katholizismus legt auf die Barm¬
herzigkeit, der Protestantismus auf die Gerechtigkeit größeres Gewicht. Nur
ganz kurz wollen wir noch ans die juristische", sozialen und politischen
Wirkungen dieses Unterschiedes hinweisen. Während die Barmherzigkeit den
Hungrigen speist, ohne nach seiner Würdigkeit zu fragen, fordert die Geraes-


Moralgrundsätze, die von den guten beobachtet, von den schlechten verletzt
werden, überall so ziemlich dieselben sind. Wenn an dem einen Orte die
Diebstähle, an einem andern Trunksucht und Vollere!, an einem dritten Ver¬
letzungen der Keuschheit oder Körperverletzungen auffällig mild oder auffällig
streng beurteilt werden, so kommt das meistens nicht von der Verschiedenheit
der Konfessionen, sondern von Unterschieden des Temperaments und der so¬
zialen Verhältnisse. Was den Tiroler Bauern vom pommerschen, den Spanier
vom Norweger unterscheidet, das ist uicht eine andre Auffassung seiner bür¬
gerlichen und häuslichen Pflichten, sondern daß er neben diesen noch allerlei
kirchliche Pflichten anerkennt; er macht bei verschiednen Gelegenheiten Kreuze
und Kuiebeuguugeu und hält sich für verpflichtet, Sonn- und Feiertags in
die Kirche zu gehen und auch an andern Tagen gewissen Andachtsübnnge»
obzuliegen. Damit hätte» wir den einzigen greifbaren und unzweifelhaften
Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Sittlichkeit genannt; der
katholische Pflichtenkreis umschließt religiöse Pflichten, die im protestantischen
fehlen, und die Wirkung der Reformation im sittlichen Gebiete beschränkt sich
darauf, daß der Mensch von dem Übermaß kirchlicher Pflichten befreit und
mit Ernst auf seine bürgerlichen Pflichten verwiesen worden ist, daß die
Männer und Frauen wieder gelernt haben, Gott weniger mit Kirchengehen
und Wallfahrer, mit Spendung von Ablaß- und Meßgelder», als mit Hobeln,
Schmieden und Kindermarten zu dienen. Und nicht einmal dieser Unterschied
ist grundsätzlicher Natur; deun mich der katholische Katechismus lehrt, daß die
Berufsarbeit des frommen Christen ein beständiger Gottesdienst sei, die ältern
Mönchsorden haben die bei Griechen, Römern und Germanen gering geachtete
Handarbeit zu Ehren gebracht, und schon Thomas a Kempis hat gemurrt:
Hui irnUtmn pöröKrilmntnr, rav Nmotilivanwr. Anderseits würde sich doch
mich der fromme Lutheraner oder Kalviuist der Sünde schuldig zu machen
glauben, wenn er beharrlich den Gottesdienst versäumen und auch im Käm¬
merlein niemals beten wollte. Aber im großen und ganzen tritt allerdings
dort mehr der Zug nach dem Jenseits, hier mehr der nach dem Diesseits hervor;
der Protestant hält es im allgemeinen mit Martha, während der fromme
Katholik, und noch mehr die Katholikin, gern den bessern und meistens auch
bequemern Teil wählt, mit Maria zu des Herr» Füßen zu sitzen. Dort liegt
die Gefahr weltlicher Verfluchung und Gottvergessenheit, hier die des frommen
Müßiggangs und der Schwärmerei näher.

Das andre, was der konfessionellen Moral hie und da eine andre Färbung
verleiht, ist schon besprochen worden. Der Katholizismus legt auf die Barm¬
herzigkeit, der Protestantismus auf die Gerechtigkeit größeres Gewicht. Nur
ganz kurz wollen wir noch ans die juristische», sozialen und politischen
Wirkungen dieses Unterschiedes hinweisen. Während die Barmherzigkeit den
Hungrigen speist, ohne nach seiner Würdigkeit zu fragen, fordert die Geraes-


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[0541] Moralgrundsätze, die von den guten beobachtet, von den schlechten verletzt werden, überall so ziemlich dieselben sind. Wenn an dem einen Orte die Diebstähle, an einem andern Trunksucht und Vollere!, an einem dritten Ver¬ letzungen der Keuschheit oder Körperverletzungen auffällig mild oder auffällig streng beurteilt werden, so kommt das meistens nicht von der Verschiedenheit der Konfessionen, sondern von Unterschieden des Temperaments und der so¬ zialen Verhältnisse. Was den Tiroler Bauern vom pommerschen, den Spanier vom Norweger unterscheidet, das ist uicht eine andre Auffassung seiner bür¬ gerlichen und häuslichen Pflichten, sondern daß er neben diesen noch allerlei kirchliche Pflichten anerkennt; er macht bei verschiednen Gelegenheiten Kreuze und Kuiebeuguugeu und hält sich für verpflichtet, Sonn- und Feiertags in die Kirche zu gehen und auch an andern Tagen gewissen Andachtsübnnge» obzuliegen. Damit hätte» wir den einzigen greifbaren und unzweifelhaften Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Sittlichkeit genannt; der katholische Pflichtenkreis umschließt religiöse Pflichten, die im protestantischen fehlen, und die Wirkung der Reformation im sittlichen Gebiete beschränkt sich darauf, daß der Mensch von dem Übermaß kirchlicher Pflichten befreit und mit Ernst auf seine bürgerlichen Pflichten verwiesen worden ist, daß die Männer und Frauen wieder gelernt haben, Gott weniger mit Kirchengehen und Wallfahrer, mit Spendung von Ablaß- und Meßgelder», als mit Hobeln, Schmieden und Kindermarten zu dienen. Und nicht einmal dieser Unterschied ist grundsätzlicher Natur; deun mich der katholische Katechismus lehrt, daß die Berufsarbeit des frommen Christen ein beständiger Gottesdienst sei, die ältern Mönchsorden haben die bei Griechen, Römern und Germanen gering geachtete Handarbeit zu Ehren gebracht, und schon Thomas a Kempis hat gemurrt: Hui irnUtmn pöröKrilmntnr, rav Nmotilivanwr. Anderseits würde sich doch mich der fromme Lutheraner oder Kalviuist der Sünde schuldig zu machen glauben, wenn er beharrlich den Gottesdienst versäumen und auch im Käm¬ merlein niemals beten wollte. Aber im großen und ganzen tritt allerdings dort mehr der Zug nach dem Jenseits, hier mehr der nach dem Diesseits hervor; der Protestant hält es im allgemeinen mit Martha, während der fromme Katholik, und noch mehr die Katholikin, gern den bessern und meistens auch bequemern Teil wählt, mit Maria zu des Herr» Füßen zu sitzen. Dort liegt die Gefahr weltlicher Verfluchung und Gottvergessenheit, hier die des frommen Müßiggangs und der Schwärmerei näher. Das andre, was der konfessionellen Moral hie und da eine andre Färbung verleiht, ist schon besprochen worden. Der Katholizismus legt auf die Barm¬ herzigkeit, der Protestantismus auf die Gerechtigkeit größeres Gewicht. Nur ganz kurz wollen wir noch ans die juristische», sozialen und politischen Wirkungen dieses Unterschiedes hinweisen. Während die Barmherzigkeit den Hungrigen speist, ohne nach seiner Würdigkeit zu fragen, fordert die Geraes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/541>, abgerufen am 23.07.2024.