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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

mäßigste Ausbildung und allgemeinste Verbreitung aller ökonomischen Tugenden
ist nicht in England, sondern in Frankreich zu finden. Alle Beobachter des
gewerblichen und sozialen Lebens Frankreichs stimmen darin überein, daß der
Bienenfleiß und die Sparsamkeit der französischen Bauern, Kleinhändler und
kleinen Gewerbetreibenden Bewunderung verdienen, und daß die gewerblichen
Erzeugnisse Frankreichs die jedes andern Landes in Schatten stellen. Die
ökonomischen Tugenden finden sich nämlich überall unfehlbar von selbst in
den, Maße ein, als sie dem Inhaber nützen. In Frankreich kann es much
der kleine Mann durch Fleiß, Mäßigkeit und Sparsamkeit zu bescheidnen
Wohlstand bringen, seitdem die Revolution den Großgrundbesitz zerschlagen,
Millionen kleine Besitzer geschaffen und diesen den Ertrag ihrer Arbeit leidlich
gesichert hat, während unter den letzten Königen des vorigen Jahrhunderts,
wo der Bauer in Lumpen gehen und seine Vorräte verscharren mußte, wenn
er mir etwas vor dein Stenererheber retten wollte, hunderttausend" dieser
Unglücklichen fortliefen und ganze Armeen von Schmugglern, Vagabunden und
Banditen bildeten. Dieselbe Wirtschaftlichkeit findet man in allen den deutschen
Provinzen, die sich eines tüchtigen Bauernstandes erfreuen, bei den Halb¬
pächter" Tvsmnas, und wo sonst die Verhältnisse ähnlich liegen. In England
ist das nicht der Fall. Am Anfange unsers Jahrhunderts waren daher die
Engländer der untern Klassen wenig besser als die Jrländer und aller wirt¬
schaftlichen Tugenden bar; erst die Gewerkvereine haben den Bestand einer
gehobnen Arbeiterschaft möglich gemacht, und kleine Besitzer giebts überhaupt
nicht. Der Fabrikant Escher in Zürich, der zweitausend Arbeiter verschiedner
Nationen zu beschäftigen pflegte, hat die Nationalitäten von seinem Stand-
Punkte ans charakterisirt. Die intelligentesten, die des Fabriksleiters Meinung
rasch auffassen und sich in neue Verhältnisse leicht hineinfinden, sind die
Italiener. (Sehr natürlich! Von Haus aus gut begabt, haben sie sich in
ihrer Heimat frei entfalten können; ihr Geist ist in der Jngend weder durch
Schuldrill noch durch Fabrikarbeit steif und einseitig geworden.) Dann kommen
die Franzosen, dann erst die langsamen Engländer, Schweizer, Deutschen und
Holländer. Die Engländer sind unübertrefflich in der einen Arbeit, für die
niam sie abgerichtet hat, aber sonst zu nichts zu gebrauchen. Bei deu Sachsen
hat die gute Schulbildung günstig gewirkt, sie sind, ähnlich wie die Schweizer,
von großer allgemeiner Brauchbarkeit und nach kürzer Vorbereitung tauglich,
jede Beschäftigung zu übernehmen. In sittlicher Beziehung stehen die Engländer
am tiefsten. "Sie zeigen sich als die unordentlichsten, ausschweifendsten und
widerspenstigsten, als die am mindesten achtungswerten und zuverlässigen von
allen Nationen, ans denen ich Leute beschäftigt habe. Das gilt allerdings
nur von denen, die keine Erziehung genossen haben. Wenn diese ungebildeten
Arbeiter von den Banden der eisernen Disziplin, worin sie von ihren Arbeit¬
gebern in England gehalten werden, freikommen und mit derjenigen Höflich-


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

mäßigste Ausbildung und allgemeinste Verbreitung aller ökonomischen Tugenden
ist nicht in England, sondern in Frankreich zu finden. Alle Beobachter des
gewerblichen und sozialen Lebens Frankreichs stimmen darin überein, daß der
Bienenfleiß und die Sparsamkeit der französischen Bauern, Kleinhändler und
kleinen Gewerbetreibenden Bewunderung verdienen, und daß die gewerblichen
Erzeugnisse Frankreichs die jedes andern Landes in Schatten stellen. Die
ökonomischen Tugenden finden sich nämlich überall unfehlbar von selbst in
den, Maße ein, als sie dem Inhaber nützen. In Frankreich kann es much
der kleine Mann durch Fleiß, Mäßigkeit und Sparsamkeit zu bescheidnen
Wohlstand bringen, seitdem die Revolution den Großgrundbesitz zerschlagen,
Millionen kleine Besitzer geschaffen und diesen den Ertrag ihrer Arbeit leidlich
gesichert hat, während unter den letzten Königen des vorigen Jahrhunderts,
wo der Bauer in Lumpen gehen und seine Vorräte verscharren mußte, wenn
er mir etwas vor dein Stenererheber retten wollte, hunderttausend« dieser
Unglücklichen fortliefen und ganze Armeen von Schmugglern, Vagabunden und
Banditen bildeten. Dieselbe Wirtschaftlichkeit findet man in allen den deutschen
Provinzen, die sich eines tüchtigen Bauernstandes erfreuen, bei den Halb¬
pächter» Tvsmnas, und wo sonst die Verhältnisse ähnlich liegen. In England
ist das nicht der Fall. Am Anfange unsers Jahrhunderts waren daher die
Engländer der untern Klassen wenig besser als die Jrländer und aller wirt¬
schaftlichen Tugenden bar; erst die Gewerkvereine haben den Bestand einer
gehobnen Arbeiterschaft möglich gemacht, und kleine Besitzer giebts überhaupt
nicht. Der Fabrikant Escher in Zürich, der zweitausend Arbeiter verschiedner
Nationen zu beschäftigen pflegte, hat die Nationalitäten von seinem Stand-
Punkte ans charakterisirt. Die intelligentesten, die des Fabriksleiters Meinung
rasch auffassen und sich in neue Verhältnisse leicht hineinfinden, sind die
Italiener. (Sehr natürlich! Von Haus aus gut begabt, haben sie sich in
ihrer Heimat frei entfalten können; ihr Geist ist in der Jngend weder durch
Schuldrill noch durch Fabrikarbeit steif und einseitig geworden.) Dann kommen
die Franzosen, dann erst die langsamen Engländer, Schweizer, Deutschen und
Holländer. Die Engländer sind unübertrefflich in der einen Arbeit, für die
niam sie abgerichtet hat, aber sonst zu nichts zu gebrauchen. Bei deu Sachsen
hat die gute Schulbildung günstig gewirkt, sie sind, ähnlich wie die Schweizer,
von großer allgemeiner Brauchbarkeit und nach kürzer Vorbereitung tauglich,
jede Beschäftigung zu übernehmen. In sittlicher Beziehung stehen die Engländer
am tiefsten. „Sie zeigen sich als die unordentlichsten, ausschweifendsten und
widerspenstigsten, als die am mindesten achtungswerten und zuverlässigen von
allen Nationen, ans denen ich Leute beschäftigt habe. Das gilt allerdings
nur von denen, die keine Erziehung genossen haben. Wenn diese ungebildeten
Arbeiter von den Banden der eisernen Disziplin, worin sie von ihren Arbeit¬
gebern in England gehalten werden, freikommen und mit derjenigen Höflich-


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[0539] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche mäßigste Ausbildung und allgemeinste Verbreitung aller ökonomischen Tugenden ist nicht in England, sondern in Frankreich zu finden. Alle Beobachter des gewerblichen und sozialen Lebens Frankreichs stimmen darin überein, daß der Bienenfleiß und die Sparsamkeit der französischen Bauern, Kleinhändler und kleinen Gewerbetreibenden Bewunderung verdienen, und daß die gewerblichen Erzeugnisse Frankreichs die jedes andern Landes in Schatten stellen. Die ökonomischen Tugenden finden sich nämlich überall unfehlbar von selbst in den, Maße ein, als sie dem Inhaber nützen. In Frankreich kann es much der kleine Mann durch Fleiß, Mäßigkeit und Sparsamkeit zu bescheidnen Wohlstand bringen, seitdem die Revolution den Großgrundbesitz zerschlagen, Millionen kleine Besitzer geschaffen und diesen den Ertrag ihrer Arbeit leidlich gesichert hat, während unter den letzten Königen des vorigen Jahrhunderts, wo der Bauer in Lumpen gehen und seine Vorräte verscharren mußte, wenn er mir etwas vor dein Stenererheber retten wollte, hunderttausend« dieser Unglücklichen fortliefen und ganze Armeen von Schmugglern, Vagabunden und Banditen bildeten. Dieselbe Wirtschaftlichkeit findet man in allen den deutschen Provinzen, die sich eines tüchtigen Bauernstandes erfreuen, bei den Halb¬ pächter» Tvsmnas, und wo sonst die Verhältnisse ähnlich liegen. In England ist das nicht der Fall. Am Anfange unsers Jahrhunderts waren daher die Engländer der untern Klassen wenig besser als die Jrländer und aller wirt¬ schaftlichen Tugenden bar; erst die Gewerkvereine haben den Bestand einer gehobnen Arbeiterschaft möglich gemacht, und kleine Besitzer giebts überhaupt nicht. Der Fabrikant Escher in Zürich, der zweitausend Arbeiter verschiedner Nationen zu beschäftigen pflegte, hat die Nationalitäten von seinem Stand- Punkte ans charakterisirt. Die intelligentesten, die des Fabriksleiters Meinung rasch auffassen und sich in neue Verhältnisse leicht hineinfinden, sind die Italiener. (Sehr natürlich! Von Haus aus gut begabt, haben sie sich in ihrer Heimat frei entfalten können; ihr Geist ist in der Jngend weder durch Schuldrill noch durch Fabrikarbeit steif und einseitig geworden.) Dann kommen die Franzosen, dann erst die langsamen Engländer, Schweizer, Deutschen und Holländer. Die Engländer sind unübertrefflich in der einen Arbeit, für die niam sie abgerichtet hat, aber sonst zu nichts zu gebrauchen. Bei deu Sachsen hat die gute Schulbildung günstig gewirkt, sie sind, ähnlich wie die Schweizer, von großer allgemeiner Brauchbarkeit und nach kürzer Vorbereitung tauglich, jede Beschäftigung zu übernehmen. In sittlicher Beziehung stehen die Engländer am tiefsten. „Sie zeigen sich als die unordentlichsten, ausschweifendsten und widerspenstigsten, als die am mindesten achtungswerten und zuverlässigen von allen Nationen, ans denen ich Leute beschäftigt habe. Das gilt allerdings nur von denen, die keine Erziehung genossen haben. Wenn diese ungebildeten Arbeiter von den Banden der eisernen Disziplin, worin sie von ihren Arbeit¬ gebern in England gehalten werden, freikommen und mit derjenigen Höflich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/539>, abgerufen am 23.07.2024.