Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Mensch von Natur in seinem Herzen. Von außen wird es in ihn hinein-
gerufen, von Eltern, Lehrern, Priestern, Vorgesetzten, und tönt dann fort in
ihm. In keinem Lande der Welt wird dieses Wort so oft und so nachdrücklich
gerufen wie in Preußen, und da allgemein anerkannt ist, daß Kant nirgends
anders gedacht werden kann als in Preußen, und daß er zu Friedrich dein
Großen gehört, wie Fichte zum Freiherrn vou Stein, so ist damit auch schon
der Charakter seiner Moral als der Unteroffiziermoral deutlich genng aus¬
gesprochen. Damit widerfährt ihr keine Herabsetzung; der preußische Unter¬
offizier ist eine weltgeschichtliche Größe; ihm verdankt unser Staatswesen jene
Strammhcit, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit, die es befähigten, Frankreich
niederzuwerfen und das Deutsche Reich aufzurichten. Aber die höchste und
feinste Moral ist sie nicht, und autonom auch nicht; der in ihr erzogne
Soldat oder Beamte erfüllt seine Pflicht mit der Zuverlässigkeit einer Ma¬
schine, so lauge ihm ein Vorgesetzter sagt, was für ihn Pflicht sei, aber wenn
er selbständig handeln soll, wird er nur zu leicht ratlos. Wenn in Deutsch¬
land die Vorzüge der protestantischen Moral gepriesen werden, so meint man
gewöhnlich die preußische. Manche scheinen sie darum für besonders evan¬
gelisch zu halten, weil das uxus ZupörsroZ^toriuin ein für allemal aus¬
geschlossen ist, wenn keiner mehr als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit
thun kann. Aber daß es den Norddeutschen mit dem Verzicht auf alle Ver¬
dienstlichkeit ihrer Tugend ernst sei, wird nicht eher glaubhaft sein, als bis
der König von Preußen das Ordensfest abschaffen muß, weil ihm alle Orden
zurückgeschickt werden. Der EinWurf: wir wollen ja nnr vor Gott kein Ver¬
dienst haben, vor Menschen ist das etwas andres! ist hinfällig; es ist eine
billige Tugend, sich vor Gott einen unnützen Knecht zu nennen, wenn man
die Ehren einheimst, die die Welt vergiebt. Den Papst kostet es auch keine
Selbstüberwindung, sich deu Knecht der Knechte Gottes zu nennen; wenn er
auf die dreifache Krone, den Fußkuß, die ssUg. Mswtorm und auf seine
Souveränität verzichtete, dann könnte man an seine aufrichtige Demut glauben.

Die dritte Art vou Moral, die Gütermoral, ist besonders in England
ausgebildet worden, weil kein Volk der Welt mit solcher bewußten Absicht
und solcher Beharrlichkeit nach Reichtum strebt wie die Engländer. Daß
dieser Krämertypus nicht gerade der höchste Moraltypus sei, wird in England
selbst anerkannt. Wer den Engländer veredeln wolle, meint John Stuart
Mill, der müsse vor allem seinen Erwerbssinn schwächen. Unter den ökono¬
mischen Tugenden, die dieses Moralsystem begünstigt, ist natürlicherweise die
am meisten ausgebildet worden, die der Britte am nötigsten braucht: die
Zuverlässigkeit im Handelsverkehr. Darin waren ihm die Holländer voran¬
gegangen, von denen Sir William Temple seinerzeit schrieb: "Wo sie mit
Sachverständigen verkehren, sind sie ehrlich, sonst suchen sie ans der Einfalt
und Unwissenheit des andern Teils Nutzen zu ziehen." Aber die gleich-


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Mensch von Natur in seinem Herzen. Von außen wird es in ihn hinein-
gerufen, von Eltern, Lehrern, Priestern, Vorgesetzten, und tönt dann fort in
ihm. In keinem Lande der Welt wird dieses Wort so oft und so nachdrücklich
gerufen wie in Preußen, und da allgemein anerkannt ist, daß Kant nirgends
anders gedacht werden kann als in Preußen, und daß er zu Friedrich dein
Großen gehört, wie Fichte zum Freiherrn vou Stein, so ist damit auch schon
der Charakter seiner Moral als der Unteroffiziermoral deutlich genng aus¬
gesprochen. Damit widerfährt ihr keine Herabsetzung; der preußische Unter¬
offizier ist eine weltgeschichtliche Größe; ihm verdankt unser Staatswesen jene
Strammhcit, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit, die es befähigten, Frankreich
niederzuwerfen und das Deutsche Reich aufzurichten. Aber die höchste und
feinste Moral ist sie nicht, und autonom auch nicht; der in ihr erzogne
Soldat oder Beamte erfüllt seine Pflicht mit der Zuverlässigkeit einer Ma¬
schine, so lauge ihm ein Vorgesetzter sagt, was für ihn Pflicht sei, aber wenn
er selbständig handeln soll, wird er nur zu leicht ratlos. Wenn in Deutsch¬
land die Vorzüge der protestantischen Moral gepriesen werden, so meint man
gewöhnlich die preußische. Manche scheinen sie darum für besonders evan¬
gelisch zu halten, weil das uxus ZupörsroZ^toriuin ein für allemal aus¬
geschlossen ist, wenn keiner mehr als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit
thun kann. Aber daß es den Norddeutschen mit dem Verzicht auf alle Ver¬
dienstlichkeit ihrer Tugend ernst sei, wird nicht eher glaubhaft sein, als bis
der König von Preußen das Ordensfest abschaffen muß, weil ihm alle Orden
zurückgeschickt werden. Der EinWurf: wir wollen ja nnr vor Gott kein Ver¬
dienst haben, vor Menschen ist das etwas andres! ist hinfällig; es ist eine
billige Tugend, sich vor Gott einen unnützen Knecht zu nennen, wenn man
die Ehren einheimst, die die Welt vergiebt. Den Papst kostet es auch keine
Selbstüberwindung, sich deu Knecht der Knechte Gottes zu nennen; wenn er
auf die dreifache Krone, den Fußkuß, die ssUg. Mswtorm und auf seine
Souveränität verzichtete, dann könnte man an seine aufrichtige Demut glauben.

Die dritte Art vou Moral, die Gütermoral, ist besonders in England
ausgebildet worden, weil kein Volk der Welt mit solcher bewußten Absicht
und solcher Beharrlichkeit nach Reichtum strebt wie die Engländer. Daß
dieser Krämertypus nicht gerade der höchste Moraltypus sei, wird in England
selbst anerkannt. Wer den Engländer veredeln wolle, meint John Stuart
Mill, der müsse vor allem seinen Erwerbssinn schwächen. Unter den ökono¬
mischen Tugenden, die dieses Moralsystem begünstigt, ist natürlicherweise die
am meisten ausgebildet worden, die der Britte am nötigsten braucht: die
Zuverlässigkeit im Handelsverkehr. Darin waren ihm die Holländer voran¬
gegangen, von denen Sir William Temple seinerzeit schrieb: „Wo sie mit
Sachverständigen verkehren, sind sie ehrlich, sonst suchen sie ans der Einfalt
und Unwissenheit des andern Teils Nutzen zu ziehen." Aber die gleich-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0538" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211706"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1572" prev="#ID_1571"> Mensch von Natur in seinem Herzen. Von außen wird es in ihn hinein-<lb/>
gerufen, von Eltern, Lehrern, Priestern, Vorgesetzten, und tönt dann fort in<lb/>
ihm. In keinem Lande der Welt wird dieses Wort so oft und so nachdrücklich<lb/>
gerufen wie in Preußen, und da allgemein anerkannt ist, daß Kant nirgends<lb/>
anders gedacht werden kann als in Preußen, und daß er zu Friedrich dein<lb/>
Großen gehört, wie Fichte zum Freiherrn vou Stein, so ist damit auch schon<lb/>
der Charakter seiner Moral als der Unteroffiziermoral deutlich genng aus¬<lb/>
gesprochen. Damit widerfährt ihr keine Herabsetzung; der preußische Unter¬<lb/>
offizier ist eine weltgeschichtliche Größe; ihm verdankt unser Staatswesen jene<lb/>
Strammhcit, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit, die es befähigten, Frankreich<lb/>
niederzuwerfen und das Deutsche Reich aufzurichten. Aber die höchste und<lb/>
feinste Moral ist sie nicht, und autonom auch nicht; der in ihr erzogne<lb/>
Soldat oder Beamte erfüllt seine Pflicht mit der Zuverlässigkeit einer Ma¬<lb/>
schine, so lauge ihm ein Vorgesetzter sagt, was für ihn Pflicht sei, aber wenn<lb/>
er selbständig handeln soll, wird er nur zu leicht ratlos. Wenn in Deutsch¬<lb/>
land die Vorzüge der protestantischen Moral gepriesen werden, so meint man<lb/>
gewöhnlich die preußische. Manche scheinen sie darum für besonders evan¬<lb/>
gelisch zu halten, weil das uxus ZupörsroZ^toriuin ein für allemal aus¬<lb/>
geschlossen ist, wenn keiner mehr als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit<lb/>
thun kann. Aber daß es den Norddeutschen mit dem Verzicht auf alle Ver¬<lb/>
dienstlichkeit ihrer Tugend ernst sei, wird nicht eher glaubhaft sein, als bis<lb/>
der König von Preußen das Ordensfest abschaffen muß, weil ihm alle Orden<lb/>
zurückgeschickt werden. Der EinWurf: wir wollen ja nnr vor Gott kein Ver¬<lb/>
dienst haben, vor Menschen ist das etwas andres! ist hinfällig; es ist eine<lb/>
billige Tugend, sich vor Gott einen unnützen Knecht zu nennen, wenn man<lb/>
die Ehren einheimst, die die Welt vergiebt. Den Papst kostet es auch keine<lb/>
Selbstüberwindung, sich deu Knecht der Knechte Gottes zu nennen; wenn er<lb/>
auf die dreifache Krone, den Fußkuß, die ssUg. Mswtorm und auf seine<lb/>
Souveränität verzichtete, dann könnte man an seine aufrichtige Demut glauben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1573" next="#ID_1574"> Die dritte Art vou Moral, die Gütermoral, ist besonders in England<lb/>
ausgebildet worden, weil kein Volk der Welt mit solcher bewußten Absicht<lb/>
und solcher Beharrlichkeit nach Reichtum strebt wie die Engländer. Daß<lb/>
dieser Krämertypus nicht gerade der höchste Moraltypus sei, wird in England<lb/>
selbst anerkannt. Wer den Engländer veredeln wolle, meint John Stuart<lb/>
Mill, der müsse vor allem seinen Erwerbssinn schwächen. Unter den ökono¬<lb/>
mischen Tugenden, die dieses Moralsystem begünstigt, ist natürlicherweise die<lb/>
am meisten ausgebildet worden, die der Britte am nötigsten braucht: die<lb/>
Zuverlässigkeit im Handelsverkehr. Darin waren ihm die Holländer voran¬<lb/>
gegangen, von denen Sir William Temple seinerzeit schrieb: &#x201E;Wo sie mit<lb/>
Sachverständigen verkehren, sind sie ehrlich, sonst suchen sie ans der Einfalt<lb/>
und Unwissenheit des andern Teils Nutzen zu ziehen."  Aber die gleich-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0538] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche Mensch von Natur in seinem Herzen. Von außen wird es in ihn hinein- gerufen, von Eltern, Lehrern, Priestern, Vorgesetzten, und tönt dann fort in ihm. In keinem Lande der Welt wird dieses Wort so oft und so nachdrücklich gerufen wie in Preußen, und da allgemein anerkannt ist, daß Kant nirgends anders gedacht werden kann als in Preußen, und daß er zu Friedrich dein Großen gehört, wie Fichte zum Freiherrn vou Stein, so ist damit auch schon der Charakter seiner Moral als der Unteroffiziermoral deutlich genng aus¬ gesprochen. Damit widerfährt ihr keine Herabsetzung; der preußische Unter¬ offizier ist eine weltgeschichtliche Größe; ihm verdankt unser Staatswesen jene Strammhcit, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit, die es befähigten, Frankreich niederzuwerfen und das Deutsche Reich aufzurichten. Aber die höchste und feinste Moral ist sie nicht, und autonom auch nicht; der in ihr erzogne Soldat oder Beamte erfüllt seine Pflicht mit der Zuverlässigkeit einer Ma¬ schine, so lauge ihm ein Vorgesetzter sagt, was für ihn Pflicht sei, aber wenn er selbständig handeln soll, wird er nur zu leicht ratlos. Wenn in Deutsch¬ land die Vorzüge der protestantischen Moral gepriesen werden, so meint man gewöhnlich die preußische. Manche scheinen sie darum für besonders evan¬ gelisch zu halten, weil das uxus ZupörsroZ^toriuin ein für allemal aus¬ geschlossen ist, wenn keiner mehr als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit thun kann. Aber daß es den Norddeutschen mit dem Verzicht auf alle Ver¬ dienstlichkeit ihrer Tugend ernst sei, wird nicht eher glaubhaft sein, als bis der König von Preußen das Ordensfest abschaffen muß, weil ihm alle Orden zurückgeschickt werden. Der EinWurf: wir wollen ja nnr vor Gott kein Ver¬ dienst haben, vor Menschen ist das etwas andres! ist hinfällig; es ist eine billige Tugend, sich vor Gott einen unnützen Knecht zu nennen, wenn man die Ehren einheimst, die die Welt vergiebt. Den Papst kostet es auch keine Selbstüberwindung, sich deu Knecht der Knechte Gottes zu nennen; wenn er auf die dreifache Krone, den Fußkuß, die ssUg. Mswtorm und auf seine Souveränität verzichtete, dann könnte man an seine aufrichtige Demut glauben. Die dritte Art vou Moral, die Gütermoral, ist besonders in England ausgebildet worden, weil kein Volk der Welt mit solcher bewußten Absicht und solcher Beharrlichkeit nach Reichtum strebt wie die Engländer. Daß dieser Krämertypus nicht gerade der höchste Moraltypus sei, wird in England selbst anerkannt. Wer den Engländer veredeln wolle, meint John Stuart Mill, der müsse vor allem seinen Erwerbssinn schwächen. Unter den ökono¬ mischen Tugenden, die dieses Moralsystem begünstigt, ist natürlicherweise die am meisten ausgebildet worden, die der Britte am nötigsten braucht: die Zuverlässigkeit im Handelsverkehr. Darin waren ihm die Holländer voran¬ gegangen, von denen Sir William Temple seinerzeit schrieb: „Wo sie mit Sachverständigen verkehren, sind sie ehrlich, sonst suchen sie ans der Einfalt und Unwissenheit des andern Teils Nutzen zu ziehen." Aber die gleich-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/538
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/538>, abgerufen am 23.07.2024.