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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Uirche

so klingt diese nicht: du mußt, du sollst! sondern: ich will es, ich mag nud
kann nicht anders. Das einzige, was einen solchen bewegen konnte, wider die
Pflicht zu handeln, wäre eine harte, grobe und plumpe Obrigkeit, die ihm
durch ihre Befehle und Anordnungen fortwährend zu verstehen gäbe, daß er
gar nichts zu wollen, sondern nur zu gehorchen habe. Ein solcher Zustand
raubt der Pflichterfüllung alle Freudigkeit, und wenn der also gemaßregelte
endlich einsieht, daß sein guter Wille ganz überflüssig ist und daß der erste
beste Lump mit Hilfe der Fuchtel in eine ebenso brauchbare und glatt arbeitende
Maschine "erwartete wird, dann sagt er wohl einmal: Nun will ich gerade
nicht, um zu zeigen, daß ich ein Mensch bin und freien Willen habe! Die
Zahl der einfachen, schlichten Seelen, deren Leben, von außen betrachtet, als
ein beständiges Opfer im Dienste der Pflicht erscheint, die aber nie etwas von
Kant und Fichte gehört, nie im Leben ein erhabnes Moralsystem studirt oder
erhabne Gedanken ersonnen haben, und die weiter nichts thun, als dem Zuge
ihres edeln Herzens folgen, ist zum Glück für die Menschheit nicht gering.
Nicht bloß Mütter giebt es, sondern auch Vater, Brüder, Schwestern, Muhmen,
die für ein Häuflein Kinder einen Tag wie den andern arbeiten und entbehren,
bis sie eines Tages tot umfallen, ohne sich etwas besonderes dabei zu denken
oder außer dem Drange ihres Herzens noch eines andern Antriebes zu be¬
dürfen. Auch durch Gewissenskonflikte kommt kein fremdes Element in edle
Gemüter: in der Außenwelt, nicht in ihnen liegt der Widerspruch, der sie zer¬
reißt und vielleicht tötet. Wenn ein Liebender von solchem Charakter entdeckt,
daß er den Gegenstand seiner Liebe ohne Verletzung der Rechte eines andern
nicht besitzen kann, so versteht sich der Entschluß der Entsagung von selbst,
aber der Schmerz, den sie ihm zufügt, ist nichts unedles, kein Widerstreben
gegen die Pflicht, kein Beweis für das radikale Böse, so wenig wie die leib¬
liche Pein einer Mutter, die sür ihr Kind hungert, und ihre Sehnsucht nach
Speise die Erbsünde beweisen. Bei manchen Konflikten wird die Entscheidung
einer edeln Natur gerade gegen das ausschlagen, was äußerlich als Pflicht
erscheint; wenn ein Mann sich oder die Seiingen in eine unwürdige, uner¬
trägliche Lage eingezwängt sieht und nach dem Worte des alten Arndt handelt:
der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, dann wird ge¬
wöhnlich eine Verletzung der äußern gesetzlichen Ordnung, eine Pflichtwidrig¬
keit herauskommen, eine kleine oder große Revolution.

Für gewöhnlich allerdings erscheinen die edeln Seelen pflichttreu, wenn
sie auch bei allem, was sie thun, lediglich ihrer Natur folgen und gnr nicht
daran denken, daß sie Pflichten erfüllen. Ihre Moral ist Tugendübung, sie
geht aus den sie beherrschenden sittlichen Ideen hervor. Für die rohern
Seelen, die des Antriebs von außen und der Abschreckung, des Sporns und
Zügels bedürfen, eignet sich die Pflichtenmvral, und die ist nun eben vor
allem nicht autonom. Ein "Du sollst" und "Dn sollst nicht" hört kein


Grenzboten 1 IK92 67
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Uirche

so klingt diese nicht: du mußt, du sollst! sondern: ich will es, ich mag nud
kann nicht anders. Das einzige, was einen solchen bewegen konnte, wider die
Pflicht zu handeln, wäre eine harte, grobe und plumpe Obrigkeit, die ihm
durch ihre Befehle und Anordnungen fortwährend zu verstehen gäbe, daß er
gar nichts zu wollen, sondern nur zu gehorchen habe. Ein solcher Zustand
raubt der Pflichterfüllung alle Freudigkeit, und wenn der also gemaßregelte
endlich einsieht, daß sein guter Wille ganz überflüssig ist und daß der erste
beste Lump mit Hilfe der Fuchtel in eine ebenso brauchbare und glatt arbeitende
Maschine »erwartete wird, dann sagt er wohl einmal: Nun will ich gerade
nicht, um zu zeigen, daß ich ein Mensch bin und freien Willen habe! Die
Zahl der einfachen, schlichten Seelen, deren Leben, von außen betrachtet, als
ein beständiges Opfer im Dienste der Pflicht erscheint, die aber nie etwas von
Kant und Fichte gehört, nie im Leben ein erhabnes Moralsystem studirt oder
erhabne Gedanken ersonnen haben, und die weiter nichts thun, als dem Zuge
ihres edeln Herzens folgen, ist zum Glück für die Menschheit nicht gering.
Nicht bloß Mütter giebt es, sondern auch Vater, Brüder, Schwestern, Muhmen,
die für ein Häuflein Kinder einen Tag wie den andern arbeiten und entbehren,
bis sie eines Tages tot umfallen, ohne sich etwas besonderes dabei zu denken
oder außer dem Drange ihres Herzens noch eines andern Antriebes zu be¬
dürfen. Auch durch Gewissenskonflikte kommt kein fremdes Element in edle
Gemüter: in der Außenwelt, nicht in ihnen liegt der Widerspruch, der sie zer¬
reißt und vielleicht tötet. Wenn ein Liebender von solchem Charakter entdeckt,
daß er den Gegenstand seiner Liebe ohne Verletzung der Rechte eines andern
nicht besitzen kann, so versteht sich der Entschluß der Entsagung von selbst,
aber der Schmerz, den sie ihm zufügt, ist nichts unedles, kein Widerstreben
gegen die Pflicht, kein Beweis für das radikale Böse, so wenig wie die leib¬
liche Pein einer Mutter, die sür ihr Kind hungert, und ihre Sehnsucht nach
Speise die Erbsünde beweisen. Bei manchen Konflikten wird die Entscheidung
einer edeln Natur gerade gegen das ausschlagen, was äußerlich als Pflicht
erscheint; wenn ein Mann sich oder die Seiingen in eine unwürdige, uner¬
trägliche Lage eingezwängt sieht und nach dem Worte des alten Arndt handelt:
der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, dann wird ge¬
wöhnlich eine Verletzung der äußern gesetzlichen Ordnung, eine Pflichtwidrig¬
keit herauskommen, eine kleine oder große Revolution.

Für gewöhnlich allerdings erscheinen die edeln Seelen pflichttreu, wenn
sie auch bei allem, was sie thun, lediglich ihrer Natur folgen und gnr nicht
daran denken, daß sie Pflichten erfüllen. Ihre Moral ist Tugendübung, sie
geht aus den sie beherrschenden sittlichen Ideen hervor. Für die rohern
Seelen, die des Antriebs von außen und der Abschreckung, des Sporns und
Zügels bedürfen, eignet sich die Pflichtenmvral, und die ist nun eben vor
allem nicht autonom. Ein „Du sollst" und „Dn sollst nicht" hört kein


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[0537] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Uirche so klingt diese nicht: du mußt, du sollst! sondern: ich will es, ich mag nud kann nicht anders. Das einzige, was einen solchen bewegen konnte, wider die Pflicht zu handeln, wäre eine harte, grobe und plumpe Obrigkeit, die ihm durch ihre Befehle und Anordnungen fortwährend zu verstehen gäbe, daß er gar nichts zu wollen, sondern nur zu gehorchen habe. Ein solcher Zustand raubt der Pflichterfüllung alle Freudigkeit, und wenn der also gemaßregelte endlich einsieht, daß sein guter Wille ganz überflüssig ist und daß der erste beste Lump mit Hilfe der Fuchtel in eine ebenso brauchbare und glatt arbeitende Maschine »erwartete wird, dann sagt er wohl einmal: Nun will ich gerade nicht, um zu zeigen, daß ich ein Mensch bin und freien Willen habe! Die Zahl der einfachen, schlichten Seelen, deren Leben, von außen betrachtet, als ein beständiges Opfer im Dienste der Pflicht erscheint, die aber nie etwas von Kant und Fichte gehört, nie im Leben ein erhabnes Moralsystem studirt oder erhabne Gedanken ersonnen haben, und die weiter nichts thun, als dem Zuge ihres edeln Herzens folgen, ist zum Glück für die Menschheit nicht gering. Nicht bloß Mütter giebt es, sondern auch Vater, Brüder, Schwestern, Muhmen, die für ein Häuflein Kinder einen Tag wie den andern arbeiten und entbehren, bis sie eines Tages tot umfallen, ohne sich etwas besonderes dabei zu denken oder außer dem Drange ihres Herzens noch eines andern Antriebes zu be¬ dürfen. Auch durch Gewissenskonflikte kommt kein fremdes Element in edle Gemüter: in der Außenwelt, nicht in ihnen liegt der Widerspruch, der sie zer¬ reißt und vielleicht tötet. Wenn ein Liebender von solchem Charakter entdeckt, daß er den Gegenstand seiner Liebe ohne Verletzung der Rechte eines andern nicht besitzen kann, so versteht sich der Entschluß der Entsagung von selbst, aber der Schmerz, den sie ihm zufügt, ist nichts unedles, kein Widerstreben gegen die Pflicht, kein Beweis für das radikale Böse, so wenig wie die leib¬ liche Pein einer Mutter, die sür ihr Kind hungert, und ihre Sehnsucht nach Speise die Erbsünde beweisen. Bei manchen Konflikten wird die Entscheidung einer edeln Natur gerade gegen das ausschlagen, was äußerlich als Pflicht erscheint; wenn ein Mann sich oder die Seiingen in eine unwürdige, uner¬ trägliche Lage eingezwängt sieht und nach dem Worte des alten Arndt handelt: der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, dann wird ge¬ wöhnlich eine Verletzung der äußern gesetzlichen Ordnung, eine Pflichtwidrig¬ keit herauskommen, eine kleine oder große Revolution. Für gewöhnlich allerdings erscheinen die edeln Seelen pflichttreu, wenn sie auch bei allem, was sie thun, lediglich ihrer Natur folgen und gnr nicht daran denken, daß sie Pflichten erfüllen. Ihre Moral ist Tugendübung, sie geht aus den sie beherrschenden sittlichen Ideen hervor. Für die rohern Seelen, die des Antriebs von außen und der Abschreckung, des Sporns und Zügels bedürfen, eignet sich die Pflichtenmvral, und die ist nun eben vor allem nicht autonom. Ein „Du sollst" und „Dn sollst nicht" hört kein Grenzboten 1 IK92 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/537>, abgerufen am 23.07.2024.