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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristentmn, Staat und tiirche

liehen Vernunft) zu seinem eignen Papst und Kaiser krönen ließ, ist bereits
erwähnt worden, und die sogenannten Mystiker haben alle kein andres lormu
intorrmni anerkannt als ihr eignes Gewissen. Die Gewissen des Volkes aber
werden im Protestantismus so gut von Autoritäten regiert wie in der römischen
Kirche, und wo wirklich größre Freiheit herrscht, dn entspringt sie, wie im
dogmatischen Gebiete, nicht aus dem Fehlen der Autorität, sondern aus der
Mehrheit einander widersprechender Autoritäten. Die Ohrenbeichte ist zwar
ein prinzipiell sehr bedenkliches und in der Praxis oft verwerfliches In¬
stitut und dabei vor allem sehr lästig, aber eine Fesselung der Gewissen
kaun man sie kaum nennen. In der Beichte wird ja den Leute" nicht gesagt,
was sie thun oder lassen sollen -- das geschieht vielmehr, gerade so wie bei
den Protestanten, im Religionsunterricht und in der Predigt - - sondern sie
selbst haben zu sagen, in welchen Stücken sie die Gebote Gottes und der Kirche
übertrete" haben. Fast nur mit Beziehung auf die Kirchengebote kommt es
bei Erwachsnen vor, daß sie fragen, ob dies oder jenes Sünde sei; im übrigen
entscheiden sie ganz autonom, und die Entscheidung fällt gewöhnlich dahin aus,
daß, was immer auch einen? so vollkommenen Manne, oder einer so voll¬
kommenen Fran zu thun beliebt, selbstverständlich keine Sünde sein könne.
Kennt man den Poenitenteu zufällig, seineu Wandel und seine Verhältnisse,
nud erinnert ihn an seine wirklichen Chnralterfehler und Verschuldungen, so
kommt man schön MI. Zu ^nor Betschwester, die sich wie gewöhnlich ihrer Zer-
streuungen im Gebet mit großer Zerknirschung anklagte, sagte einmal ein
Priester: "Ach, lasse" Sie doch de" Firlefanz, aber wie können Sie so nieder¬
trächtig gegen die gute Frau N. handeln!" Da fuhr das heilige Wesen wie
eine Furie zum Beichtstuhl heraus und der Priester war sie für immer
los; sie wählte sich einen andern Beichtvater. Noch übler würde "tan natür¬
lich ankommen, wenn man einen angesehneu Mann wegen stadtbekannter Dinge,
deren er sich aber nicht anklagt, zur Rechenschaft ziehe" wollte. Sünden, grobe
und schwere, und zahlreich wie der Sand ant Meere, findet der Beichtvater
wohl nur bei Knaben und Mädchen im Alter von dreizehn bis sechzehn
Jahre". Die stöbern mit Gewissenhaftigkeit jede winzige Kleinigkeit auf,
zittern, ob ihnen Gott auch ihre schwere Schuld vergeben werde, erkundigen
sich mit Angst, ob sie sich eines sehr groben Verbrechens schuldig gemacht
haben, wenn sie ein Stückchen Trvpfwachs von der Größe einer Nuß unter¬
schlage" haben, und nehmen sich mit Ernst vor, Heilige zu werden. Es ist
ja auch da viel Mechanismus dabei. Sie legen gewöhnlich einen sogenannten
Beichtspiegel zu Grunde, den sie teilweise abschreiben, und da zudem Menschen,
die in denselben Verhältnissen leben, einander sehr zu gleichen pflegen, weiß der
Priester bei jeder Kinderbeichte schon im voraus so ziemlich, was kommt; er
atmet erleichtert auf, wenn der kleine Sünder endlich flüstert: "Ich habe
Tiere gequält," den" das macht gewöhnlich den Schluß. Aber ein ganz


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristentmn, Staat und tiirche

liehen Vernunft) zu seinem eignen Papst und Kaiser krönen ließ, ist bereits
erwähnt worden, und die sogenannten Mystiker haben alle kein andres lormu
intorrmni anerkannt als ihr eignes Gewissen. Die Gewissen des Volkes aber
werden im Protestantismus so gut von Autoritäten regiert wie in der römischen
Kirche, und wo wirklich größre Freiheit herrscht, dn entspringt sie, wie im
dogmatischen Gebiete, nicht aus dem Fehlen der Autorität, sondern aus der
Mehrheit einander widersprechender Autoritäten. Die Ohrenbeichte ist zwar
ein prinzipiell sehr bedenkliches und in der Praxis oft verwerfliches In¬
stitut und dabei vor allem sehr lästig, aber eine Fesselung der Gewissen
kaun man sie kaum nennen. In der Beichte wird ja den Leute» nicht gesagt,
was sie thun oder lassen sollen — das geschieht vielmehr, gerade so wie bei
den Protestanten, im Religionsunterricht und in der Predigt - - sondern sie
selbst haben zu sagen, in welchen Stücken sie die Gebote Gottes und der Kirche
übertrete» haben. Fast nur mit Beziehung auf die Kirchengebote kommt es
bei Erwachsnen vor, daß sie fragen, ob dies oder jenes Sünde sei; im übrigen
entscheiden sie ganz autonom, und die Entscheidung fällt gewöhnlich dahin aus,
daß, was immer auch einen? so vollkommenen Manne, oder einer so voll¬
kommenen Fran zu thun beliebt, selbstverständlich keine Sünde sein könne.
Kennt man den Poenitenteu zufällig, seineu Wandel und seine Verhältnisse,
nud erinnert ihn an seine wirklichen Chnralterfehler und Verschuldungen, so
kommt man schön MI. Zu ^nor Betschwester, die sich wie gewöhnlich ihrer Zer-
streuungen im Gebet mit großer Zerknirschung anklagte, sagte einmal ein
Priester: „Ach, lasse» Sie doch de» Firlefanz, aber wie können Sie so nieder¬
trächtig gegen die gute Frau N. handeln!" Da fuhr das heilige Wesen wie
eine Furie zum Beichtstuhl heraus und der Priester war sie für immer
los; sie wählte sich einen andern Beichtvater. Noch übler würde »tan natür¬
lich ankommen, wenn man einen angesehneu Mann wegen stadtbekannter Dinge,
deren er sich aber nicht anklagt, zur Rechenschaft ziehe» wollte. Sünden, grobe
und schwere, und zahlreich wie der Sand ant Meere, findet der Beichtvater
wohl nur bei Knaben und Mädchen im Alter von dreizehn bis sechzehn
Jahre». Die stöbern mit Gewissenhaftigkeit jede winzige Kleinigkeit auf,
zittern, ob ihnen Gott auch ihre schwere Schuld vergeben werde, erkundigen
sich mit Angst, ob sie sich eines sehr groben Verbrechens schuldig gemacht
haben, wenn sie ein Stückchen Trvpfwachs von der Größe einer Nuß unter¬
schlage» haben, und nehmen sich mit Ernst vor, Heilige zu werden. Es ist
ja auch da viel Mechanismus dabei. Sie legen gewöhnlich einen sogenannten
Beichtspiegel zu Grunde, den sie teilweise abschreiben, und da zudem Menschen,
die in denselben Verhältnissen leben, einander sehr zu gleichen pflegen, weiß der
Priester bei jeder Kinderbeichte schon im voraus so ziemlich, was kommt; er
atmet erleichtert auf, wenn der kleine Sünder endlich flüstert: „Ich habe
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[0534] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristentmn, Staat und tiirche liehen Vernunft) zu seinem eignen Papst und Kaiser krönen ließ, ist bereits erwähnt worden, und die sogenannten Mystiker haben alle kein andres lormu intorrmni anerkannt als ihr eignes Gewissen. Die Gewissen des Volkes aber werden im Protestantismus so gut von Autoritäten regiert wie in der römischen Kirche, und wo wirklich größre Freiheit herrscht, dn entspringt sie, wie im dogmatischen Gebiete, nicht aus dem Fehlen der Autorität, sondern aus der Mehrheit einander widersprechender Autoritäten. Die Ohrenbeichte ist zwar ein prinzipiell sehr bedenkliches und in der Praxis oft verwerfliches In¬ stitut und dabei vor allem sehr lästig, aber eine Fesselung der Gewissen kaun man sie kaum nennen. In der Beichte wird ja den Leute» nicht gesagt, was sie thun oder lassen sollen — das geschieht vielmehr, gerade so wie bei den Protestanten, im Religionsunterricht und in der Predigt - - sondern sie selbst haben zu sagen, in welchen Stücken sie die Gebote Gottes und der Kirche übertrete» haben. Fast nur mit Beziehung auf die Kirchengebote kommt es bei Erwachsnen vor, daß sie fragen, ob dies oder jenes Sünde sei; im übrigen entscheiden sie ganz autonom, und die Entscheidung fällt gewöhnlich dahin aus, daß, was immer auch einen? so vollkommenen Manne, oder einer so voll¬ kommenen Fran zu thun beliebt, selbstverständlich keine Sünde sein könne. Kennt man den Poenitenteu zufällig, seineu Wandel und seine Verhältnisse, nud erinnert ihn an seine wirklichen Chnralterfehler und Verschuldungen, so kommt man schön MI. Zu ^nor Betschwester, die sich wie gewöhnlich ihrer Zer- streuungen im Gebet mit großer Zerknirschung anklagte, sagte einmal ein Priester: „Ach, lasse» Sie doch de» Firlefanz, aber wie können Sie so nieder¬ trächtig gegen die gute Frau N. handeln!" Da fuhr das heilige Wesen wie eine Furie zum Beichtstuhl heraus und der Priester war sie für immer los; sie wählte sich einen andern Beichtvater. Noch übler würde »tan natür¬ lich ankommen, wenn man einen angesehneu Mann wegen stadtbekannter Dinge, deren er sich aber nicht anklagt, zur Rechenschaft ziehe» wollte. Sünden, grobe und schwere, und zahlreich wie der Sand ant Meere, findet der Beichtvater wohl nur bei Knaben und Mädchen im Alter von dreizehn bis sechzehn Jahre». Die stöbern mit Gewissenhaftigkeit jede winzige Kleinigkeit auf, zittern, ob ihnen Gott auch ihre schwere Schuld vergeben werde, erkundigen sich mit Angst, ob sie sich eines sehr groben Verbrechens schuldig gemacht haben, wenn sie ein Stückchen Trvpfwachs von der Größe einer Nuß unter¬ schlage» haben, und nehmen sich mit Ernst vor, Heilige zu werden. Es ist ja auch da viel Mechanismus dabei. Sie legen gewöhnlich einen sogenannten Beichtspiegel zu Grunde, den sie teilweise abschreiben, und da zudem Menschen, die in denselben Verhältnissen leben, einander sehr zu gleichen pflegen, weiß der Priester bei jeder Kinderbeichte schon im voraus so ziemlich, was kommt; er atmet erleichtert auf, wenn der kleine Sünder endlich flüstert: „Ich habe Tiere gequält," den» das macht gewöhnlich den Schluß. Aber ein ganz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/534>, abgerufen am 26.08.2024.