Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche

streng konservative Mann, hat die Philosophie des vorigen Jahrhunderts ge¬
priesen, weil sie die orthodoxen Christen aus blutdürstigen Bestien wieder in
Menschen zurückverwaudelt, und die französische Revolution gesegnet, weil sie
durch die Guillotine den entsetzlichen Verbrechen gegen das göttliche Ebenbild
ein Ende gemacht habe. Das letzte der Scheusale, beiläufig bemerkt, die
die Folter- und Hinrichtungskünste gepflegt haben, ist der Jesuitentöter Pombal
in Portugal gewesen. Was auch die Jakobinerbanden verbrochen haben mögen,
sie haben das Menschenquälen nicht als Kunst betrieben. Und, wohl gemerkt,
nicht aus der Zügellosigkeit eines von den Fesseln der Staatsordnung be¬
freiten Volkes sind das Jakobinertum und die Schreckensherrschaft hervor¬
gegangen, sondern sie waren auch wieder nur das Produkt eines Fanatismus:
des Fanatismus theoretischer Volksbeglücker,die meistens Advokaten, also
studirte Juristen waren, und denen sich ausgehungerte Proletarier zur Ver¬
fügung stellten; diese Proletarier aber waren wiederum das Produkt der alten
Negierung, die das Volk dnrch Steuerdruck arm gemacht hatte.

Phantasievolle Freunde der bestehenden Ordnung haben uns die Greuel
ausgemalt, denen unser Volk dereinst unter der Herrschaft des Kommunisten¬
staates verfallen würde. Nun, diese Greuel sind alle, und zwar weit schlimmer,
schon dagewesen, nnter höchst gottesfürchtigen, strammen Regierungen dage¬
wesen, und sie kommen hente noch vor im frommen London wie im ortho¬
doxen Nußland, das wir als fünften Schandfleck der Christenheit hätten nennen
können. Wer es aber gar für möglich hält, daß diese Greuel schon in naher
Zukunft über uns hereinbrechen könnten, der stellt unserm angeblichen Erzieher,
dem gegenwärtigen Staate, ein um so vernichtenderes Zeugnis aus, als dieser
mit einer Macht über seine Angehörigen ausgerüstet ist, wie vor ihm kein
andrer, so daß er jeden, der sich seinen Anordnungen widersetzt, wie einen
wehrlosen Wurm zu zermalmen vermag. Aber selbst wenn trotz solcher Über¬
macht des Staates eine Revolution über uns hereinbrechen sollte, so würde
das zwar ein großes Unglück sein, jedoch nicht zur Auflösung aller mensch¬
lichen Bande führen. Was wir heute Staat nennen, war im Mittelalter so
gut wie nicht vorhanden, aber die Menschen haben trotzdem nicht wie das
liebe Vieh gelebt und nur in den von der Kirche eingerichteten Folterkammern
wie Teufel gewütet. Die Franzosen haben sich im laufenden Jahrhundert
mehr als einmal ohne alle oder mit einer sehr mangelhaften Negierung behelfen
müssen, aber die Familien und Gemeinden sind nicht aus Rand und Band
gegangen; auch 1879 war es, wie 1789, wieder nur der hauptstädtische Pöbel,
der, noch dazu durch außerordentliche Ereignisse zum Wahnsinn erhitzt, blutige
Orgien feierte. Auch bei den Naturvölkern bilden die Kannibalen die Aus¬
nahme. Vor den Unruhen in Deutsch-Ostafrika konnte, wie Kenner versichern,
der Europäer bloß mit einem Regenschirm bewaffnet ungefährdet von der
Küste bis an die Seen spazieren, und nicht wenige abenteuerlustige englische


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche

streng konservative Mann, hat die Philosophie des vorigen Jahrhunderts ge¬
priesen, weil sie die orthodoxen Christen aus blutdürstigen Bestien wieder in
Menschen zurückverwaudelt, und die französische Revolution gesegnet, weil sie
durch die Guillotine den entsetzlichen Verbrechen gegen das göttliche Ebenbild
ein Ende gemacht habe. Das letzte der Scheusale, beiläufig bemerkt, die
die Folter- und Hinrichtungskünste gepflegt haben, ist der Jesuitentöter Pombal
in Portugal gewesen. Was auch die Jakobinerbanden verbrochen haben mögen,
sie haben das Menschenquälen nicht als Kunst betrieben. Und, wohl gemerkt,
nicht aus der Zügellosigkeit eines von den Fesseln der Staatsordnung be¬
freiten Volkes sind das Jakobinertum und die Schreckensherrschaft hervor¬
gegangen, sondern sie waren auch wieder nur das Produkt eines Fanatismus:
des Fanatismus theoretischer Volksbeglücker,die meistens Advokaten, also
studirte Juristen waren, und denen sich ausgehungerte Proletarier zur Ver¬
fügung stellten; diese Proletarier aber waren wiederum das Produkt der alten
Negierung, die das Volk dnrch Steuerdruck arm gemacht hatte.

Phantasievolle Freunde der bestehenden Ordnung haben uns die Greuel
ausgemalt, denen unser Volk dereinst unter der Herrschaft des Kommunisten¬
staates verfallen würde. Nun, diese Greuel sind alle, und zwar weit schlimmer,
schon dagewesen, nnter höchst gottesfürchtigen, strammen Regierungen dage¬
wesen, und sie kommen hente noch vor im frommen London wie im ortho¬
doxen Nußland, das wir als fünften Schandfleck der Christenheit hätten nennen
können. Wer es aber gar für möglich hält, daß diese Greuel schon in naher
Zukunft über uns hereinbrechen könnten, der stellt unserm angeblichen Erzieher,
dem gegenwärtigen Staate, ein um so vernichtenderes Zeugnis aus, als dieser
mit einer Macht über seine Angehörigen ausgerüstet ist, wie vor ihm kein
andrer, so daß er jeden, der sich seinen Anordnungen widersetzt, wie einen
wehrlosen Wurm zu zermalmen vermag. Aber selbst wenn trotz solcher Über¬
macht des Staates eine Revolution über uns hereinbrechen sollte, so würde
das zwar ein großes Unglück sein, jedoch nicht zur Auflösung aller mensch¬
lichen Bande führen. Was wir heute Staat nennen, war im Mittelalter so
gut wie nicht vorhanden, aber die Menschen haben trotzdem nicht wie das
liebe Vieh gelebt und nur in den von der Kirche eingerichteten Folterkammern
wie Teufel gewütet. Die Franzosen haben sich im laufenden Jahrhundert
mehr als einmal ohne alle oder mit einer sehr mangelhaften Negierung behelfen
müssen, aber die Familien und Gemeinden sind nicht aus Rand und Band
gegangen; auch 1879 war es, wie 1789, wieder nur der hauptstädtische Pöbel,
der, noch dazu durch außerordentliche Ereignisse zum Wahnsinn erhitzt, blutige
Orgien feierte. Auch bei den Naturvölkern bilden die Kannibalen die Aus¬
nahme. Vor den Unruhen in Deutsch-Ostafrika konnte, wie Kenner versichern,
der Europäer bloß mit einem Regenschirm bewaffnet ungefährdet von der
Küste bis an die Seen spazieren, und nicht wenige abenteuerlustige englische


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0498" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211666"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1444" prev="#ID_1443"> streng konservative Mann, hat die Philosophie des vorigen Jahrhunderts ge¬<lb/>
priesen, weil sie die orthodoxen Christen aus blutdürstigen Bestien wieder in<lb/>
Menschen zurückverwaudelt, und die französische Revolution gesegnet, weil sie<lb/>
durch die Guillotine den entsetzlichen Verbrechen gegen das göttliche Ebenbild<lb/>
ein Ende gemacht habe. Das letzte der Scheusale, beiläufig bemerkt, die<lb/>
die Folter- und Hinrichtungskünste gepflegt haben, ist der Jesuitentöter Pombal<lb/>
in Portugal gewesen. Was auch die Jakobinerbanden verbrochen haben mögen,<lb/>
sie haben das Menschenquälen nicht als Kunst betrieben. Und, wohl gemerkt,<lb/>
nicht aus der Zügellosigkeit eines von den Fesseln der Staatsordnung be¬<lb/>
freiten Volkes sind das Jakobinertum und die Schreckensherrschaft hervor¬<lb/>
gegangen, sondern sie waren auch wieder nur das Produkt eines Fanatismus:<lb/>
des Fanatismus theoretischer Volksbeglücker,die meistens Advokaten, also<lb/>
studirte Juristen waren, und denen sich ausgehungerte Proletarier zur Ver¬<lb/>
fügung stellten; diese Proletarier aber waren wiederum das Produkt der alten<lb/>
Negierung, die das Volk dnrch Steuerdruck arm gemacht hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1445" next="#ID_1446"> Phantasievolle Freunde der bestehenden Ordnung haben uns die Greuel<lb/>
ausgemalt, denen unser Volk dereinst unter der Herrschaft des Kommunisten¬<lb/>
staates verfallen würde. Nun, diese Greuel sind alle, und zwar weit schlimmer,<lb/>
schon dagewesen, nnter höchst gottesfürchtigen, strammen Regierungen dage¬<lb/>
wesen, und sie kommen hente noch vor im frommen London wie im ortho¬<lb/>
doxen Nußland, das wir als fünften Schandfleck der Christenheit hätten nennen<lb/>
können. Wer es aber gar für möglich hält, daß diese Greuel schon in naher<lb/>
Zukunft über uns hereinbrechen könnten, der stellt unserm angeblichen Erzieher,<lb/>
dem gegenwärtigen Staate, ein um so vernichtenderes Zeugnis aus, als dieser<lb/>
mit einer Macht über seine Angehörigen ausgerüstet ist, wie vor ihm kein<lb/>
andrer, so daß er jeden, der sich seinen Anordnungen widersetzt, wie einen<lb/>
wehrlosen Wurm zu zermalmen vermag. Aber selbst wenn trotz solcher Über¬<lb/>
macht des Staates eine Revolution über uns hereinbrechen sollte, so würde<lb/>
das zwar ein großes Unglück sein, jedoch nicht zur Auflösung aller mensch¬<lb/>
lichen Bande führen. Was wir heute Staat nennen, war im Mittelalter so<lb/>
gut wie nicht vorhanden, aber die Menschen haben trotzdem nicht wie das<lb/>
liebe Vieh gelebt und nur in den von der Kirche eingerichteten Folterkammern<lb/>
wie Teufel gewütet. Die Franzosen haben sich im laufenden Jahrhundert<lb/>
mehr als einmal ohne alle oder mit einer sehr mangelhaften Negierung behelfen<lb/>
müssen, aber die Familien und Gemeinden sind nicht aus Rand und Band<lb/>
gegangen; auch 1879 war es, wie 1789, wieder nur der hauptstädtische Pöbel,<lb/>
der, noch dazu durch außerordentliche Ereignisse zum Wahnsinn erhitzt, blutige<lb/>
Orgien feierte. Auch bei den Naturvölkern bilden die Kannibalen die Aus¬<lb/>
nahme. Vor den Unruhen in Deutsch-Ostafrika konnte, wie Kenner versichern,<lb/>
der Europäer bloß mit einem Regenschirm bewaffnet ungefährdet von der<lb/>
Küste bis an die Seen spazieren, und nicht wenige abenteuerlustige englische</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0498] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche streng konservative Mann, hat die Philosophie des vorigen Jahrhunderts ge¬ priesen, weil sie die orthodoxen Christen aus blutdürstigen Bestien wieder in Menschen zurückverwaudelt, und die französische Revolution gesegnet, weil sie durch die Guillotine den entsetzlichen Verbrechen gegen das göttliche Ebenbild ein Ende gemacht habe. Das letzte der Scheusale, beiläufig bemerkt, die die Folter- und Hinrichtungskünste gepflegt haben, ist der Jesuitentöter Pombal in Portugal gewesen. Was auch die Jakobinerbanden verbrochen haben mögen, sie haben das Menschenquälen nicht als Kunst betrieben. Und, wohl gemerkt, nicht aus der Zügellosigkeit eines von den Fesseln der Staatsordnung be¬ freiten Volkes sind das Jakobinertum und die Schreckensherrschaft hervor¬ gegangen, sondern sie waren auch wieder nur das Produkt eines Fanatismus: des Fanatismus theoretischer Volksbeglücker,die meistens Advokaten, also studirte Juristen waren, und denen sich ausgehungerte Proletarier zur Ver¬ fügung stellten; diese Proletarier aber waren wiederum das Produkt der alten Negierung, die das Volk dnrch Steuerdruck arm gemacht hatte. Phantasievolle Freunde der bestehenden Ordnung haben uns die Greuel ausgemalt, denen unser Volk dereinst unter der Herrschaft des Kommunisten¬ staates verfallen würde. Nun, diese Greuel sind alle, und zwar weit schlimmer, schon dagewesen, nnter höchst gottesfürchtigen, strammen Regierungen dage¬ wesen, und sie kommen hente noch vor im frommen London wie im ortho¬ doxen Nußland, das wir als fünften Schandfleck der Christenheit hätten nennen können. Wer es aber gar für möglich hält, daß diese Greuel schon in naher Zukunft über uns hereinbrechen könnten, der stellt unserm angeblichen Erzieher, dem gegenwärtigen Staate, ein um so vernichtenderes Zeugnis aus, als dieser mit einer Macht über seine Angehörigen ausgerüstet ist, wie vor ihm kein andrer, so daß er jeden, der sich seinen Anordnungen widersetzt, wie einen wehrlosen Wurm zu zermalmen vermag. Aber selbst wenn trotz solcher Über¬ macht des Staates eine Revolution über uns hereinbrechen sollte, so würde das zwar ein großes Unglück sein, jedoch nicht zur Auflösung aller mensch¬ lichen Bande führen. Was wir heute Staat nennen, war im Mittelalter so gut wie nicht vorhanden, aber die Menschen haben trotzdem nicht wie das liebe Vieh gelebt und nur in den von der Kirche eingerichteten Folterkammern wie Teufel gewütet. Die Franzosen haben sich im laufenden Jahrhundert mehr als einmal ohne alle oder mit einer sehr mangelhaften Negierung behelfen müssen, aber die Familien und Gemeinden sind nicht aus Rand und Band gegangen; auch 1879 war es, wie 1789, wieder nur der hauptstädtische Pöbel, der, noch dazu durch außerordentliche Ereignisse zum Wahnsinn erhitzt, blutige Orgien feierte. Auch bei den Naturvölkern bilden die Kannibalen die Aus¬ nahme. Vor den Unruhen in Deutsch-Ostafrika konnte, wie Kenner versichern, der Europäer bloß mit einem Regenschirm bewaffnet ungefährdet von der Küste bis an die Seen spazieren, und nicht wenige abenteuerlustige englische

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/498
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/498>, abgerufen am 23.07.2024.