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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

allwöchentlich Gesang und Musik, Spiel und Tanz und einen belebenden
Trunk so notwendig wie das liebe Brot, wenn es geistig gesund bleiben soll.
Wollen sich die Behörde"? um diese Privatangelegenheiten der Staatsbürger
kümmern, was durchaus nicht nötig ist, so würde wahre Staatsweisheit fordern,
daß es nach dieser Richtung hin geschähe, nicht nach der entgegengesetzten.
Eine stillschweigende Verschwörung der Parteien hat bisher zu verhindern ver¬
standen, daß die so wichtige Kenntnis des wirklichen modernen Englands im
deutschen Volke verbreitet werde. Die Konservativen schonen es aus Hoch¬
achtung vor seiner Aristokratie, ferner weil es ein protestantisches Land ist
und um unliebsamen Vergleichungen vorzubeugen. Die Liberalen sind noch
eifriger bemüht, uns die Scheuklappen der Unwissenheit vorzubinden, denn ihr
System steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, ob die Engländer ein
glückliches oder ein unglückliches Volk seien. Von den Katholiken endlich sind
die angesehensten zu sehr in das Interesse der herrschenden Stände verwickelt,
die übrigen zu unwissend, und den einzigen von ihren Leuten, der dem deutscheu
Publikum über englische Verhältnisse reinen Wem eingeschenkt hat, Döllinger,
dürfen sie nicht mehr lesen, weil er ein Ketzer ist.

Man braucht aber diese Dinge sowie die sogenannte Justiz bei den
Dentschen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts nur kennen zu lernen,
um sofort einzusehen, wie unentbehrlich ihre Kenntnis ist, und daß die Un¬
kenntnis die leitenden Geister der Nationen der Gefahr höchst verderblicher
Irrtümer aussetzt. Denn diese Geschichten beweisen, daß die christliche Kirche
in keiner ihrer vier Hauptformen, und zwar weder für sich allein noch im
Bunde mit dem Staate, das Menschengeschlecht vor dem Sturz in eine Ver¬
derbnis zu bewahren vermag, die alle heidnische Verderbnis überbietet, ja daß
die Kirche solche Verderbnis jedesmal selbst erzeugt, wenn sie einen gewissen
genau anzugebenden Irrweg betritt. Dieser Irrweg besteht darin, daß an
Stelle des in Liebe wirksamen Glaubens, der sie beleben soll, der tote Buch-
stabenglaube gesetzt wird, daß man diesen Glauben allen Widerstrebenden
fanatisch aufzuzwingen sucht, daß man die Natur sür das Böse erklärt und
den ästhetischen Sinn unterdrückt. Was Schiller über die ästhetische Erziehung
des Menschengeschlechts geschrieben hat, bleibt ewig wahr. Für uns kommen
in diesem Zusammenhange besonders zwei Wirkungen in Betracht. Der
ästhetisch gebildete Mensch vermag erstens den Geschlechtstrieb nicht an jedem
beliebigen Stück Fleisch zu .befriedigen, sondern er fordert Bedingungen, die
sich weit seltner einfinden als das Physische Bedürfnis, und zweitens fühlt
er kein Bedürfnis, im Gegenteil das stärkste Widerstreben gegen jede Ver¬
letzung und Entstellung des Menschenleibes, den er als die Verkörperung
seines höchsten Ideals mit zarter Schen verehrt. Die Ästhetik kann verweich¬
lichen, aber sie erzeugt keine Ungeheuer.

K. A. Menzel, der königlich preußische Schulrat und aufrichtig fromme,


Grenzbvte" I 1892 62
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

allwöchentlich Gesang und Musik, Spiel und Tanz und einen belebenden
Trunk so notwendig wie das liebe Brot, wenn es geistig gesund bleiben soll.
Wollen sich die Behörde«? um diese Privatangelegenheiten der Staatsbürger
kümmern, was durchaus nicht nötig ist, so würde wahre Staatsweisheit fordern,
daß es nach dieser Richtung hin geschähe, nicht nach der entgegengesetzten.
Eine stillschweigende Verschwörung der Parteien hat bisher zu verhindern ver¬
standen, daß die so wichtige Kenntnis des wirklichen modernen Englands im
deutschen Volke verbreitet werde. Die Konservativen schonen es aus Hoch¬
achtung vor seiner Aristokratie, ferner weil es ein protestantisches Land ist
und um unliebsamen Vergleichungen vorzubeugen. Die Liberalen sind noch
eifriger bemüht, uns die Scheuklappen der Unwissenheit vorzubinden, denn ihr
System steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, ob die Engländer ein
glückliches oder ein unglückliches Volk seien. Von den Katholiken endlich sind
die angesehensten zu sehr in das Interesse der herrschenden Stände verwickelt,
die übrigen zu unwissend, und den einzigen von ihren Leuten, der dem deutscheu
Publikum über englische Verhältnisse reinen Wem eingeschenkt hat, Döllinger,
dürfen sie nicht mehr lesen, weil er ein Ketzer ist.

Man braucht aber diese Dinge sowie die sogenannte Justiz bei den
Dentschen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts nur kennen zu lernen,
um sofort einzusehen, wie unentbehrlich ihre Kenntnis ist, und daß die Un¬
kenntnis die leitenden Geister der Nationen der Gefahr höchst verderblicher
Irrtümer aussetzt. Denn diese Geschichten beweisen, daß die christliche Kirche
in keiner ihrer vier Hauptformen, und zwar weder für sich allein noch im
Bunde mit dem Staate, das Menschengeschlecht vor dem Sturz in eine Ver¬
derbnis zu bewahren vermag, die alle heidnische Verderbnis überbietet, ja daß
die Kirche solche Verderbnis jedesmal selbst erzeugt, wenn sie einen gewissen
genau anzugebenden Irrweg betritt. Dieser Irrweg besteht darin, daß an
Stelle des in Liebe wirksamen Glaubens, der sie beleben soll, der tote Buch-
stabenglaube gesetzt wird, daß man diesen Glauben allen Widerstrebenden
fanatisch aufzuzwingen sucht, daß man die Natur sür das Böse erklärt und
den ästhetischen Sinn unterdrückt. Was Schiller über die ästhetische Erziehung
des Menschengeschlechts geschrieben hat, bleibt ewig wahr. Für uns kommen
in diesem Zusammenhange besonders zwei Wirkungen in Betracht. Der
ästhetisch gebildete Mensch vermag erstens den Geschlechtstrieb nicht an jedem
beliebigen Stück Fleisch zu .befriedigen, sondern er fordert Bedingungen, die
sich weit seltner einfinden als das Physische Bedürfnis, und zweitens fühlt
er kein Bedürfnis, im Gegenteil das stärkste Widerstreben gegen jede Ver¬
letzung und Entstellung des Menschenleibes, den er als die Verkörperung
seines höchsten Ideals mit zarter Schen verehrt. Die Ästhetik kann verweich¬
lichen, aber sie erzeugt keine Ungeheuer.

K. A. Menzel, der königlich preußische Schulrat und aufrichtig fromme,


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[0497] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche allwöchentlich Gesang und Musik, Spiel und Tanz und einen belebenden Trunk so notwendig wie das liebe Brot, wenn es geistig gesund bleiben soll. Wollen sich die Behörde«? um diese Privatangelegenheiten der Staatsbürger kümmern, was durchaus nicht nötig ist, so würde wahre Staatsweisheit fordern, daß es nach dieser Richtung hin geschähe, nicht nach der entgegengesetzten. Eine stillschweigende Verschwörung der Parteien hat bisher zu verhindern ver¬ standen, daß die so wichtige Kenntnis des wirklichen modernen Englands im deutschen Volke verbreitet werde. Die Konservativen schonen es aus Hoch¬ achtung vor seiner Aristokratie, ferner weil es ein protestantisches Land ist und um unliebsamen Vergleichungen vorzubeugen. Die Liberalen sind noch eifriger bemüht, uns die Scheuklappen der Unwissenheit vorzubinden, denn ihr System steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, ob die Engländer ein glückliches oder ein unglückliches Volk seien. Von den Katholiken endlich sind die angesehensten zu sehr in das Interesse der herrschenden Stände verwickelt, die übrigen zu unwissend, und den einzigen von ihren Leuten, der dem deutscheu Publikum über englische Verhältnisse reinen Wem eingeschenkt hat, Döllinger, dürfen sie nicht mehr lesen, weil er ein Ketzer ist. Man braucht aber diese Dinge sowie die sogenannte Justiz bei den Dentschen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts nur kennen zu lernen, um sofort einzusehen, wie unentbehrlich ihre Kenntnis ist, und daß die Un¬ kenntnis die leitenden Geister der Nationen der Gefahr höchst verderblicher Irrtümer aussetzt. Denn diese Geschichten beweisen, daß die christliche Kirche in keiner ihrer vier Hauptformen, und zwar weder für sich allein noch im Bunde mit dem Staate, das Menschengeschlecht vor dem Sturz in eine Ver¬ derbnis zu bewahren vermag, die alle heidnische Verderbnis überbietet, ja daß die Kirche solche Verderbnis jedesmal selbst erzeugt, wenn sie einen gewissen genau anzugebenden Irrweg betritt. Dieser Irrweg besteht darin, daß an Stelle des in Liebe wirksamen Glaubens, der sie beleben soll, der tote Buch- stabenglaube gesetzt wird, daß man diesen Glauben allen Widerstrebenden fanatisch aufzuzwingen sucht, daß man die Natur sür das Böse erklärt und den ästhetischen Sinn unterdrückt. Was Schiller über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts geschrieben hat, bleibt ewig wahr. Für uns kommen in diesem Zusammenhange besonders zwei Wirkungen in Betracht. Der ästhetisch gebildete Mensch vermag erstens den Geschlechtstrieb nicht an jedem beliebigen Stück Fleisch zu .befriedigen, sondern er fordert Bedingungen, die sich weit seltner einfinden als das Physische Bedürfnis, und zweitens fühlt er kein Bedürfnis, im Gegenteil das stärkste Widerstreben gegen jede Ver¬ letzung und Entstellung des Menschenleibes, den er als die Verkörperung seines höchsten Ideals mit zarter Schen verehrt. Die Ästhetik kann verweich¬ lichen, aber sie erzeugt keine Ungeheuer. K. A. Menzel, der königlich preußische Schulrat und aufrichtig fromme, Grenzbvte» I 1892 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/497>, abgerufen am 26.08.2024.