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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Bedingungen des sittlichen Lebens machen. Ich bitte um Entschuldigung,
wenn ich aus einem alten Werke, das allgemein bekannt sein sollte, dessen Ver¬
breitung aber vom Parteigeiste verhindert worden ist,- nur zwei kurze Stellen
hersetze, die noch nicht das schlimmste enthalten. "Während die Theologen,
sagt Menzel a. a. O. (III, 64) nach einem Bericht über Glaubensgezänk, in
so barbarischem Geiste die Bedingungen der Seligkeit feststellten, und jede der
mancherlei Schulen ihre Bahn für den allein richtigen Weg zum Himmel,
die der andern für den gewissen Weg zur Hölle erklärte, ließen es sich
die Juristen angelegen sein, schon die Erde zur Schaubühne höllischer
Szenen zu machen. In den Jahrbüchern der Landschaften und Städte kommt
es nun (gegen Ende des sechszehnten Jahrhundert) immer häufiger vor, daß
Weiber ersäuft, lebendig begraben oder verbrannt, zuweilen uach Abschneidung
der Brüste, männliche Verbrecher an den vier Ecken des Marktes mit glühenden
Zangen gerissen, vor ihrem oder vor des Ermordeten Hause durch Abhauung
der Hand verstümmelt, dann gerädert und lebendig aufs Rad gelegt oder,
nach schamloser Verstümmelung, langsam zu Tode geschmaucht worden sind.
Nicht leicht gab es eine Stadt, deren Obrigkeit nicht das ihr zustehende Recht
über Leben und Tod alljährlich durch einige Verbrannte, Geräderte, Gehenkte
und Enthauptete beurkundet Hütte. In dein einzigen Fürstentum Ansbach, das
damals schwerlich über einhunde'rttausend Seelen enthalten haben mag, haben
in einem Zeitraume von neunundzwanzig Jahren, von 1575 -- 1603, mehr als
1441 Menschen die Qualen der Folterwerkzeuge, 30!) die Strafe des Prangers
und Staupbesens, die übrigen grausamen Verstümmelungen an Ohren, Händen
und Fingern nicht mitgezählt, 474 den Tod durch das Schwert, Galgen, Rad
oder Feuer gelitten. Die meisten Opfer des letzter" starben dem Hexenwahne,
der den in frühern Jahrhunderten erhobnen Widerspruch der Vernünftigen
völlig zum Schweigen gebracht hatte, seitdem die Reformatoren diesen, erst kurz
vor ihrer Zeit von einem Papste begünstigten Irrtum durch das volle Gewicht
ihres Ansehens und ihrer Überzeugungen bekräftigt hatten. Herzog Heinrich
Julius von Braunschweig ließ in der Nähe von Wolfenbüttel so viele Hexen
verbrennen, daß die Pfähle, an denen die Unglücklichen angebunden wurde",
das Ansehen eines Waldes gewannen. Noch mehr aber als die große Zahl
der Hingerichteten -- denn die Menge der Verbrechen, die Strenge der Ge¬
setze und selbst der Wahnglaube der Richter kann dieselben entschuldigen --
zeugt wider den Geist des Jahrhunderts das Wohlgefallen und die ver¬
führerische Lust, mit welcher die Kunst der Qualen von srommgläubigen
Obrigkeiten geübt ward. Wir erinnern an den gräßlichen Tod des lebendig
Vierteilens, den Grumbach und Brück auf das Geheiß des Kurfürsten August
erlitten, Brück um keiner andern Schuld7willen, als weil er seinem Fürsten
in den Tagen des Unglücks tren geblieben war und den Dienst als Kanzler
Verseyen hatte. Die Untersuchungsrichter behandelten das Foltern als Wissen-


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Bedingungen des sittlichen Lebens machen. Ich bitte um Entschuldigung,
wenn ich aus einem alten Werke, das allgemein bekannt sein sollte, dessen Ver¬
breitung aber vom Parteigeiste verhindert worden ist,- nur zwei kurze Stellen
hersetze, die noch nicht das schlimmste enthalten. „Während die Theologen,
sagt Menzel a. a. O. (III, 64) nach einem Bericht über Glaubensgezänk, in
so barbarischem Geiste die Bedingungen der Seligkeit feststellten, und jede der
mancherlei Schulen ihre Bahn für den allein richtigen Weg zum Himmel,
die der andern für den gewissen Weg zur Hölle erklärte, ließen es sich
die Juristen angelegen sein, schon die Erde zur Schaubühne höllischer
Szenen zu machen. In den Jahrbüchern der Landschaften und Städte kommt
es nun (gegen Ende des sechszehnten Jahrhundert) immer häufiger vor, daß
Weiber ersäuft, lebendig begraben oder verbrannt, zuweilen uach Abschneidung
der Brüste, männliche Verbrecher an den vier Ecken des Marktes mit glühenden
Zangen gerissen, vor ihrem oder vor des Ermordeten Hause durch Abhauung
der Hand verstümmelt, dann gerädert und lebendig aufs Rad gelegt oder,
nach schamloser Verstümmelung, langsam zu Tode geschmaucht worden sind.
Nicht leicht gab es eine Stadt, deren Obrigkeit nicht das ihr zustehende Recht
über Leben und Tod alljährlich durch einige Verbrannte, Geräderte, Gehenkte
und Enthauptete beurkundet Hütte. In dein einzigen Fürstentum Ansbach, das
damals schwerlich über einhunde'rttausend Seelen enthalten haben mag, haben
in einem Zeitraume von neunundzwanzig Jahren, von 1575 — 1603, mehr als
1441 Menschen die Qualen der Folterwerkzeuge, 30!) die Strafe des Prangers
und Staupbesens, die übrigen grausamen Verstümmelungen an Ohren, Händen
und Fingern nicht mitgezählt, 474 den Tod durch das Schwert, Galgen, Rad
oder Feuer gelitten. Die meisten Opfer des letzter» starben dem Hexenwahne,
der den in frühern Jahrhunderten erhobnen Widerspruch der Vernünftigen
völlig zum Schweigen gebracht hatte, seitdem die Reformatoren diesen, erst kurz
vor ihrer Zeit von einem Papste begünstigten Irrtum durch das volle Gewicht
ihres Ansehens und ihrer Überzeugungen bekräftigt hatten. Herzog Heinrich
Julius von Braunschweig ließ in der Nähe von Wolfenbüttel so viele Hexen
verbrennen, daß die Pfähle, an denen die Unglücklichen angebunden wurde»,
das Ansehen eines Waldes gewannen. Noch mehr aber als die große Zahl
der Hingerichteten — denn die Menge der Verbrechen, die Strenge der Ge¬
setze und selbst der Wahnglaube der Richter kann dieselben entschuldigen —
zeugt wider den Geist des Jahrhunderts das Wohlgefallen und die ver¬
führerische Lust, mit welcher die Kunst der Qualen von srommgläubigen
Obrigkeiten geübt ward. Wir erinnern an den gräßlichen Tod des lebendig
Vierteilens, den Grumbach und Brück auf das Geheiß des Kurfürsten August
erlitten, Brück um keiner andern Schuld7willen, als weil er seinem Fürsten
in den Tagen des Unglücks tren geblieben war und den Dienst als Kanzler
Verseyen hatte. Die Untersuchungsrichter behandelten das Foltern als Wissen-


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[0492] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche Bedingungen des sittlichen Lebens machen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich aus einem alten Werke, das allgemein bekannt sein sollte, dessen Ver¬ breitung aber vom Parteigeiste verhindert worden ist,- nur zwei kurze Stellen hersetze, die noch nicht das schlimmste enthalten. „Während die Theologen, sagt Menzel a. a. O. (III, 64) nach einem Bericht über Glaubensgezänk, in so barbarischem Geiste die Bedingungen der Seligkeit feststellten, und jede der mancherlei Schulen ihre Bahn für den allein richtigen Weg zum Himmel, die der andern für den gewissen Weg zur Hölle erklärte, ließen es sich die Juristen angelegen sein, schon die Erde zur Schaubühne höllischer Szenen zu machen. In den Jahrbüchern der Landschaften und Städte kommt es nun (gegen Ende des sechszehnten Jahrhundert) immer häufiger vor, daß Weiber ersäuft, lebendig begraben oder verbrannt, zuweilen uach Abschneidung der Brüste, männliche Verbrecher an den vier Ecken des Marktes mit glühenden Zangen gerissen, vor ihrem oder vor des Ermordeten Hause durch Abhauung der Hand verstümmelt, dann gerädert und lebendig aufs Rad gelegt oder, nach schamloser Verstümmelung, langsam zu Tode geschmaucht worden sind. Nicht leicht gab es eine Stadt, deren Obrigkeit nicht das ihr zustehende Recht über Leben und Tod alljährlich durch einige Verbrannte, Geräderte, Gehenkte und Enthauptete beurkundet Hütte. In dein einzigen Fürstentum Ansbach, das damals schwerlich über einhunde'rttausend Seelen enthalten haben mag, haben in einem Zeitraume von neunundzwanzig Jahren, von 1575 — 1603, mehr als 1441 Menschen die Qualen der Folterwerkzeuge, 30!) die Strafe des Prangers und Staupbesens, die übrigen grausamen Verstümmelungen an Ohren, Händen und Fingern nicht mitgezählt, 474 den Tod durch das Schwert, Galgen, Rad oder Feuer gelitten. Die meisten Opfer des letzter» starben dem Hexenwahne, der den in frühern Jahrhunderten erhobnen Widerspruch der Vernünftigen völlig zum Schweigen gebracht hatte, seitdem die Reformatoren diesen, erst kurz vor ihrer Zeit von einem Papste begünstigten Irrtum durch das volle Gewicht ihres Ansehens und ihrer Überzeugungen bekräftigt hatten. Herzog Heinrich Julius von Braunschweig ließ in der Nähe von Wolfenbüttel so viele Hexen verbrennen, daß die Pfähle, an denen die Unglücklichen angebunden wurde», das Ansehen eines Waldes gewannen. Noch mehr aber als die große Zahl der Hingerichteten — denn die Menge der Verbrechen, die Strenge der Ge¬ setze und selbst der Wahnglaube der Richter kann dieselben entschuldigen — zeugt wider den Geist des Jahrhunderts das Wohlgefallen und die ver¬ führerische Lust, mit welcher die Kunst der Qualen von srommgläubigen Obrigkeiten geübt ward. Wir erinnern an den gräßlichen Tod des lebendig Vierteilens, den Grumbach und Brück auf das Geheiß des Kurfürsten August erlitten, Brück um keiner andern Schuld7willen, als weil er seinem Fürsten in den Tagen des Unglücks tren geblieben war und den Dienst als Kanzler Verseyen hatte. Die Untersuchungsrichter behandelten das Foltern als Wissen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/492>, abgerufen am 23.07.2024.