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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

bedacht langsam zu Tode marterten. Wenn wir den Tod des Sokrates mit
den Hinrichtungen sogenannter Ketzer durch die Obrigkeiten"aller drei christlichen
Konfessionen und von wirklichen oder vorgeblichen Staatsverbrechern ver¬
gleichen, wie sie noch im vorigen Jahrhundert vorgekommen sind, so strahlt
das ätherische Volk, nicht bloß Sokrates, sondern auch seine Feinde, in einem
reinen Glänze, vor dem wir Christen beschämt die Augen niederschlagen müssen.
Es war doch nichts Geringes, daß sich die Angesehenen der Stadt so viele
Jahre hindurch seine ironische Kritik ruhig hatten gefallen lassen, und für das
ohnehin zerfahrne Gemeinwesen erschien es in der That als eine Gefahr, wenn
die jungen Leute ganz allgemein zur Gewohnheit des Kritisirens erzogen wurden.
Der Gedanke, den Mann unschädlich zu machen, war also natürlich. Aber
wie wurde er cmsgefüht? Nicht in Form eines feigen heimlichen Justizmordes,
sondern in der Form eines öffentlichen Prozesses. Die Richter ließen den
Mann ausreden, obwohl sie wußten, daß sie dnrch seine Worte tief gedemütigt
werden würden, daß die Rede das Ansehen des Angeklagten erhöhen und
die Verehrung seiner Anhänger zur Schwärmerei steigern würde. Seine Schüler
und Angehörigen durften ihn im Gefängnisse besuchen, selbst der Kerkermeister
war freundlich gegen ihn, keine leibliche Pein wurde ihm zugefügt', kein
unzarter Hauch, geschweige denn eine Rohheit oder Grausamkeit, trübt die
göttliche Schönheit des unsterblichen Gedichts,' in dem uns sein Schüler Plato
erzählt, wie der Meister in Andachtsstille 5öl/>i^t") hinübergeschlummert
sei zur Genesung. Forscht man nach den größten Scheusalen, die das Menschen¬
geschlecht mißhandelt und geschändet habe", und nach der schlimmsten sittlichen
Verworfenheit größerer Kreise, so findet mau sie weder bei den Negern, noch
bei den Türken, noch bei den römischen Imperatoren -- beim Griechenvolke
gleich gar nicht --, sondern leider in der Christenheit.

Vier Lebenskreise sind es, in denen sich dieses satanische Element kon-
zentrirt hat: der Hof von Bhzanz, namentlich in der Periode der Glaubens¬
streitigkeiten, die Inquisition, die deutsche Justiz im Zeitalter der Hexenprozesse
und der englische Jndustrialismus. Der Hof von Byzanz mit seinen Blen¬
dungen und Verstümmelungen liegt uns zu fern; die Inquisition ist hinlänglich
bekannt, aber den Hexenprozessen müssen wir einige Zeilen widmen. Ein älterer
Geschichtsschreiber sagt zwar, es sei ein Glück für die .spätern, Geschlechter,
wenn ihnen unbekannt bleibe, welche Teufel in Menschengestalt früher gelebt
haben, und der Jugend und dem Volke wird ja auch gewiß kein Verständiger
ausführliche Mitteilungen über Gegenstände machen, die geeignet sind, den
Glauben an Gott und die Menschheit zu erschüttert?; ich selbst war wochen¬
lang dem Nihilismus nahe, als ich die darüber handelnden Abschnitte in
K. A. Wenzels neuerer Geschichte der Deutschen zum erstenmal gelesen hatte.
Aber die leitenden Geister müssen auch diese die Menschheit schauderten Blätter
der Geschichte kennen, weil sie sich sonst ganz falsche Vorstellungen von den


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

bedacht langsam zu Tode marterten. Wenn wir den Tod des Sokrates mit
den Hinrichtungen sogenannter Ketzer durch die Obrigkeiten"aller drei christlichen
Konfessionen und von wirklichen oder vorgeblichen Staatsverbrechern ver¬
gleichen, wie sie noch im vorigen Jahrhundert vorgekommen sind, so strahlt
das ätherische Volk, nicht bloß Sokrates, sondern auch seine Feinde, in einem
reinen Glänze, vor dem wir Christen beschämt die Augen niederschlagen müssen.
Es war doch nichts Geringes, daß sich die Angesehenen der Stadt so viele
Jahre hindurch seine ironische Kritik ruhig hatten gefallen lassen, und für das
ohnehin zerfahrne Gemeinwesen erschien es in der That als eine Gefahr, wenn
die jungen Leute ganz allgemein zur Gewohnheit des Kritisirens erzogen wurden.
Der Gedanke, den Mann unschädlich zu machen, war also natürlich. Aber
wie wurde er cmsgefüht? Nicht in Form eines feigen heimlichen Justizmordes,
sondern in der Form eines öffentlichen Prozesses. Die Richter ließen den
Mann ausreden, obwohl sie wußten, daß sie dnrch seine Worte tief gedemütigt
werden würden, daß die Rede das Ansehen des Angeklagten erhöhen und
die Verehrung seiner Anhänger zur Schwärmerei steigern würde. Seine Schüler
und Angehörigen durften ihn im Gefängnisse besuchen, selbst der Kerkermeister
war freundlich gegen ihn, keine leibliche Pein wurde ihm zugefügt', kein
unzarter Hauch, geschweige denn eine Rohheit oder Grausamkeit, trübt die
göttliche Schönheit des unsterblichen Gedichts,' in dem uns sein Schüler Plato
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sei zur Genesung. Forscht man nach den größten Scheusalen, die das Menschen¬
geschlecht mißhandelt und geschändet habe», und nach der schlimmsten sittlichen
Verworfenheit größerer Kreise, so findet mau sie weder bei den Negern, noch
bei den Türken, noch bei den römischen Imperatoren — beim Griechenvolke
gleich gar nicht —, sondern leider in der Christenheit.

Vier Lebenskreise sind es, in denen sich dieses satanische Element kon-
zentrirt hat: der Hof von Bhzanz, namentlich in der Periode der Glaubens¬
streitigkeiten, die Inquisition, die deutsche Justiz im Zeitalter der Hexenprozesse
und der englische Jndustrialismus. Der Hof von Byzanz mit seinen Blen¬
dungen und Verstümmelungen liegt uns zu fern; die Inquisition ist hinlänglich
bekannt, aber den Hexenprozessen müssen wir einige Zeilen widmen. Ein älterer
Geschichtsschreiber sagt zwar, es sei ein Glück für die .spätern, Geschlechter,
wenn ihnen unbekannt bleibe, welche Teufel in Menschengestalt früher gelebt
haben, und der Jugend und dem Volke wird ja auch gewiß kein Verständiger
ausführliche Mitteilungen über Gegenstände machen, die geeignet sind, den
Glauben an Gott und die Menschheit zu erschüttert?; ich selbst war wochen¬
lang dem Nihilismus nahe, als ich die darüber handelnden Abschnitte in
K. A. Wenzels neuerer Geschichte der Deutschen zum erstenmal gelesen hatte.
Aber die leitenden Geister müssen auch diese die Menschheit schauderten Blätter
der Geschichte kennen, weil sie sich sonst ganz falsche Vorstellungen von den


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[0491] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche bedacht langsam zu Tode marterten. Wenn wir den Tod des Sokrates mit den Hinrichtungen sogenannter Ketzer durch die Obrigkeiten"aller drei christlichen Konfessionen und von wirklichen oder vorgeblichen Staatsverbrechern ver¬ gleichen, wie sie noch im vorigen Jahrhundert vorgekommen sind, so strahlt das ätherische Volk, nicht bloß Sokrates, sondern auch seine Feinde, in einem reinen Glänze, vor dem wir Christen beschämt die Augen niederschlagen müssen. Es war doch nichts Geringes, daß sich die Angesehenen der Stadt so viele Jahre hindurch seine ironische Kritik ruhig hatten gefallen lassen, und für das ohnehin zerfahrne Gemeinwesen erschien es in der That als eine Gefahr, wenn die jungen Leute ganz allgemein zur Gewohnheit des Kritisirens erzogen wurden. Der Gedanke, den Mann unschädlich zu machen, war also natürlich. Aber wie wurde er cmsgefüht? Nicht in Form eines feigen heimlichen Justizmordes, sondern in der Form eines öffentlichen Prozesses. Die Richter ließen den Mann ausreden, obwohl sie wußten, daß sie dnrch seine Worte tief gedemütigt werden würden, daß die Rede das Ansehen des Angeklagten erhöhen und die Verehrung seiner Anhänger zur Schwärmerei steigern würde. Seine Schüler und Angehörigen durften ihn im Gefängnisse besuchen, selbst der Kerkermeister war freundlich gegen ihn, keine leibliche Pein wurde ihm zugefügt', kein unzarter Hauch, geschweige denn eine Rohheit oder Grausamkeit, trübt die göttliche Schönheit des unsterblichen Gedichts,' in dem uns sein Schüler Plato erzählt, wie der Meister in Andachtsstille 5öl/>i^t«) hinübergeschlummert sei zur Genesung. Forscht man nach den größten Scheusalen, die das Menschen¬ geschlecht mißhandelt und geschändet habe», und nach der schlimmsten sittlichen Verworfenheit größerer Kreise, so findet mau sie weder bei den Negern, noch bei den Türken, noch bei den römischen Imperatoren — beim Griechenvolke gleich gar nicht —, sondern leider in der Christenheit. Vier Lebenskreise sind es, in denen sich dieses satanische Element kon- zentrirt hat: der Hof von Bhzanz, namentlich in der Periode der Glaubens¬ streitigkeiten, die Inquisition, die deutsche Justiz im Zeitalter der Hexenprozesse und der englische Jndustrialismus. Der Hof von Byzanz mit seinen Blen¬ dungen und Verstümmelungen liegt uns zu fern; die Inquisition ist hinlänglich bekannt, aber den Hexenprozessen müssen wir einige Zeilen widmen. Ein älterer Geschichtsschreiber sagt zwar, es sei ein Glück für die .spätern, Geschlechter, wenn ihnen unbekannt bleibe, welche Teufel in Menschengestalt früher gelebt haben, und der Jugend und dem Volke wird ja auch gewiß kein Verständiger ausführliche Mitteilungen über Gegenstände machen, die geeignet sind, den Glauben an Gott und die Menschheit zu erschüttert?; ich selbst war wochen¬ lang dem Nihilismus nahe, als ich die darüber handelnden Abschnitte in K. A. Wenzels neuerer Geschichte der Deutschen zum erstenmal gelesen hatte. Aber die leitenden Geister müssen auch diese die Menschheit schauderten Blätter der Geschichte kennen, weil sie sich sonst ganz falsche Vorstellungen von den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/491>, abgerufen am 23.07.2024.