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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu (Christentum,
Htaat und Kirche
Geschichtsphilosophische Gedanken ^5 iFvrtschuiui)

as Hcllenentum vermochte aus sich allein die höchste und feinste
Blüte der Sittlichkeit nicht zu erzeugen, und seiue einer glück¬
lichen Kindheit nugemeßucu sittlichen Stützen würden den Welt¬
stürmen und dem Rieseucleud nicht Stand gehalten haben, die
über das vielduldeude Geschlecht der Menschen in späterer Zeit
hereinbrachen. Aber man würde sehr irren, wenn mau annehmen wollte, das
Christentum habe die antike Humanität überflüssig gemacht. Man hat wohl
gesagt, durch das Christentum sei die naive Einheit von Leib und Seele, in
der die Hellenen so glücklich gewesen wären, ein für allemal aufgehoben worden
und die Entzweiung von Geist und Fleisch sei ein Fortschritt, der nie mehr
zurückgenommen werden könne. Allein nach wie vor mag das Fleisch nicht
ohne den Geist und der Geist nicht ohne das Fleisch leben, und eine andre
mit der ersten zugleich eingetretne Differenzirung ist so bedenklicher Art, daß
es schwer fällt, sie als einen Fortschritt zu bezeichnen: die Menschheit ist maui-
chnisch in ein Gottesreich und ein Teufelsreich auseinander gefallen, mit
einer Holle mußte der neue Himmel erkauft werden. Nicht allein um die
einseitigen Reiche des Lichtes und der Finsternis handelt es sich, sondern
wahrend die Asketen alle Spuren menschlicher Bedürftigkeit ablegten, kaum
noch irdische Nahrung genossen und in Verzückung schwelgten, sahen sich andre
nicht allein den Qualen der Gewissensbisse und der Höllenfurcht überliefert,
sondern die von düstern Phantasien ersonnenen Höllenqualen wurden taufenden
von Unglücklichen leiblich zugefügt. Bei den Hellenen haben sich Sokrates
und Alkibiades, Plato und Aristophanes gar wohl mit einander vertragen;
bei den Christen genügte eine Meinungsverschiedenheit, eine Haarspalterei, eine
Wortklauberei, die Streitenden mit einer Wut zu entflammen, in der sie ein¬
ander nicht wie wilde Bestien rasch zerfleischten, fondern wie Teufel mit Vor-




Das Verhältnis der Sittlichkeit zu (Christentum,
Htaat und Kirche
Geschichtsphilosophische Gedanken ^5 iFvrtschuiui)

as Hcllenentum vermochte aus sich allein die höchste und feinste
Blüte der Sittlichkeit nicht zu erzeugen, und seiue einer glück¬
lichen Kindheit nugemeßucu sittlichen Stützen würden den Welt¬
stürmen und dem Rieseucleud nicht Stand gehalten haben, die
über das vielduldeude Geschlecht der Menschen in späterer Zeit
hereinbrachen. Aber man würde sehr irren, wenn mau annehmen wollte, das
Christentum habe die antike Humanität überflüssig gemacht. Man hat wohl
gesagt, durch das Christentum sei die naive Einheit von Leib und Seele, in
der die Hellenen so glücklich gewesen wären, ein für allemal aufgehoben worden
und die Entzweiung von Geist und Fleisch sei ein Fortschritt, der nie mehr
zurückgenommen werden könne. Allein nach wie vor mag das Fleisch nicht
ohne den Geist und der Geist nicht ohne das Fleisch leben, und eine andre
mit der ersten zugleich eingetretne Differenzirung ist so bedenklicher Art, daß
es schwer fällt, sie als einen Fortschritt zu bezeichnen: die Menschheit ist maui-
chnisch in ein Gottesreich und ein Teufelsreich auseinander gefallen, mit
einer Holle mußte der neue Himmel erkauft werden. Nicht allein um die
einseitigen Reiche des Lichtes und der Finsternis handelt es sich, sondern
wahrend die Asketen alle Spuren menschlicher Bedürftigkeit ablegten, kaum
noch irdische Nahrung genossen und in Verzückung schwelgten, sahen sich andre
nicht allein den Qualen der Gewissensbisse und der Höllenfurcht überliefert,
sondern die von düstern Phantasien ersonnenen Höllenqualen wurden taufenden
von Unglücklichen leiblich zugefügt. Bei den Hellenen haben sich Sokrates
und Alkibiades, Plato und Aristophanes gar wohl mit einander vertragen;
bei den Christen genügte eine Meinungsverschiedenheit, eine Haarspalterei, eine
Wortklauberei, die Streitenden mit einer Wut zu entflammen, in der sie ein¬
ander nicht wie wilde Bestien rasch zerfleischten, fondern wie Teufel mit Vor-


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[0490] [Abbildung] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu (Christentum, Htaat und Kirche Geschichtsphilosophische Gedanken ^5 iFvrtschuiui) as Hcllenentum vermochte aus sich allein die höchste und feinste Blüte der Sittlichkeit nicht zu erzeugen, und seiue einer glück¬ lichen Kindheit nugemeßucu sittlichen Stützen würden den Welt¬ stürmen und dem Rieseucleud nicht Stand gehalten haben, die über das vielduldeude Geschlecht der Menschen in späterer Zeit hereinbrachen. Aber man würde sehr irren, wenn mau annehmen wollte, das Christentum habe die antike Humanität überflüssig gemacht. Man hat wohl gesagt, durch das Christentum sei die naive Einheit von Leib und Seele, in der die Hellenen so glücklich gewesen wären, ein für allemal aufgehoben worden und die Entzweiung von Geist und Fleisch sei ein Fortschritt, der nie mehr zurückgenommen werden könne. Allein nach wie vor mag das Fleisch nicht ohne den Geist und der Geist nicht ohne das Fleisch leben, und eine andre mit der ersten zugleich eingetretne Differenzirung ist so bedenklicher Art, daß es schwer fällt, sie als einen Fortschritt zu bezeichnen: die Menschheit ist maui- chnisch in ein Gottesreich und ein Teufelsreich auseinander gefallen, mit einer Holle mußte der neue Himmel erkauft werden. Nicht allein um die einseitigen Reiche des Lichtes und der Finsternis handelt es sich, sondern wahrend die Asketen alle Spuren menschlicher Bedürftigkeit ablegten, kaum noch irdische Nahrung genossen und in Verzückung schwelgten, sahen sich andre nicht allein den Qualen der Gewissensbisse und der Höllenfurcht überliefert, sondern die von düstern Phantasien ersonnenen Höllenqualen wurden taufenden von Unglücklichen leiblich zugefügt. Bei den Hellenen haben sich Sokrates und Alkibiades, Plato und Aristophanes gar wohl mit einander vertragen; bei den Christen genügte eine Meinungsverschiedenheit, eine Haarspalterei, eine Wortklauberei, die Streitenden mit einer Wut zu entflammen, in der sie ein¬ ander nicht wie wilde Bestien rasch zerfleischten, fondern wie Teufel mit Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/490>, abgerufen am 23.07.2024.