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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Sträszburger lyrische Gedichte

mich dem damaligen Sprachgebrauch nicht tadeln. Daß der Dichter später
manches geändert hat, beweist nichts. Möglicherweise ist die Ausführung des
Gedichts erst nach der Rückkehr von der Reise vollendet worden. Höchst¬
wahrscheinlich gewann Goethe auf derselben Reise zu Niederbrunn, wo der
Geist des Altertums in Resten von Basreliefs und Inschriften, Säulenknäufen
und -Schäften ihm, wie er sagt, aus Bnueruhöfen zwischen wirtschaftlichem
Wust und Geräten wunderbar entgegenleuchtete, auch den Anlaß zu einer seiner
eigentümlichsten Schöpfungen, dein Gespräche "Der Wanderer", dessen erster
Erwähnung wir im April 1772 begegnen.

Von dem zerstreuten Straßburger Leben wurde der dichterische Drang
nicht genährt: wegen der im Herbst abzulegenden Prüfungen mußte sich Goethe
mit seiner Berufswissenschaft näher beschäftigen, die ihn, da er vertrauter mit
ihr ward, auch lebhafter anzog; denn er begnügte sich nicht damit, die Hefte
Engelbachs, die das in der Prüfung geforderte enthielte", sich wörtlich
anzueignen. Noch vor die Prüfungen, die er am 25. und 27. September
bestand, fällt Herders Bekanntschaft, die zwar feinen Gesichtskreis erweiterte,
aber ihn eher niederschlug als erhob und fein Vertrauen zurückscheuchte. Da
ergriff ihn Mitte Oktober seelenhafte Liebe, wie er sie schon diesen Frühling
geahnt, aber noch nie empfunden hatte. Gegen Ende der Ferien weilte er
bei seinem Freunde Weyland in Buchsweiler; bei der Rückreise besuchten sie
auf einige Tage das gastliche Haus des mit Wehlaut verwandten Pfarrers
Brion zu Sesenheim, wo Friederike des jungen Dichters Herz so mächtig er¬
griff, daß ihm der Abschied schwer fiel. Und auch Friederike war von dem Zauber
des geistsprühendeu, herrlichen Jünglings hingerissen. Gleich nach der Rück¬
kehr sprach Goethe derselben Freundin, an die er sich von Saarbrücken aus
gewandt hatte, sein neues Glück aus, daß er sich ganz fühle und still sei und die
reinen Freuden der Liebe nud Freundschaft genieße, nachdem er einige Tage
auf dem Lande in schöner Gegend unter freundlichem Himmel bei gar an¬
genehmen Leuten in Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause ver¬
lebt habe. Gegen die "liebe neue Freundin" erklärte er sich am folgenden
Tage in der herzlichsten Weise, wobei er die Hoffnung äußerte, sie wiederzusehn,
und die Absicht, mittlerweile ihr oft zu schreiben. Und beides wird er nicht
unterlassen haben. Wir wissen auch von einem im Dezember an Freund
Horn gerichteten Briefe Goethes, den Eckermann noch sah, den aber ein rätsel¬
haftes Mißgeschick nach dem Tode des Dichters dem Archiv entführte; der
glückliche Jüngling gedachte darin des angeknüpften Verhältnisses und schien
"sich in dem Taumel der süßesten Empfindungen zu wiegen und feine Tage
halb träumerisch hinzuschleudern." Von seinen Jugendbriefen an Horn, die
Goethe im Jahre 1828 zurückerhielt, bewahrte er nur diesen und einen aus
dem Juli aus; in ihnen zeigte sich "endlich ein freieres Umherblicken und Auf¬
atmen des jungen Menschen", aber "bei heiterm innern Trieb und einem


Grenzboten I 1892 58
Goethes Sträszburger lyrische Gedichte

mich dem damaligen Sprachgebrauch nicht tadeln. Daß der Dichter später
manches geändert hat, beweist nichts. Möglicherweise ist die Ausführung des
Gedichts erst nach der Rückkehr von der Reise vollendet worden. Höchst¬
wahrscheinlich gewann Goethe auf derselben Reise zu Niederbrunn, wo der
Geist des Altertums in Resten von Basreliefs und Inschriften, Säulenknäufen
und -Schäften ihm, wie er sagt, aus Bnueruhöfen zwischen wirtschaftlichem
Wust und Geräten wunderbar entgegenleuchtete, auch den Anlaß zu einer seiner
eigentümlichsten Schöpfungen, dein Gespräche „Der Wanderer", dessen erster
Erwähnung wir im April 1772 begegnen.

Von dem zerstreuten Straßburger Leben wurde der dichterische Drang
nicht genährt: wegen der im Herbst abzulegenden Prüfungen mußte sich Goethe
mit seiner Berufswissenschaft näher beschäftigen, die ihn, da er vertrauter mit
ihr ward, auch lebhafter anzog; denn er begnügte sich nicht damit, die Hefte
Engelbachs, die das in der Prüfung geforderte enthielte«, sich wörtlich
anzueignen. Noch vor die Prüfungen, die er am 25. und 27. September
bestand, fällt Herders Bekanntschaft, die zwar feinen Gesichtskreis erweiterte,
aber ihn eher niederschlug als erhob und fein Vertrauen zurückscheuchte. Da
ergriff ihn Mitte Oktober seelenhafte Liebe, wie er sie schon diesen Frühling
geahnt, aber noch nie empfunden hatte. Gegen Ende der Ferien weilte er
bei seinem Freunde Weyland in Buchsweiler; bei der Rückreise besuchten sie
auf einige Tage das gastliche Haus des mit Wehlaut verwandten Pfarrers
Brion zu Sesenheim, wo Friederike des jungen Dichters Herz so mächtig er¬
griff, daß ihm der Abschied schwer fiel. Und auch Friederike war von dem Zauber
des geistsprühendeu, herrlichen Jünglings hingerissen. Gleich nach der Rück¬
kehr sprach Goethe derselben Freundin, an die er sich von Saarbrücken aus
gewandt hatte, sein neues Glück aus, daß er sich ganz fühle und still sei und die
reinen Freuden der Liebe nud Freundschaft genieße, nachdem er einige Tage
auf dem Lande in schöner Gegend unter freundlichem Himmel bei gar an¬
genehmen Leuten in Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause ver¬
lebt habe. Gegen die „liebe neue Freundin" erklärte er sich am folgenden
Tage in der herzlichsten Weise, wobei er die Hoffnung äußerte, sie wiederzusehn,
und die Absicht, mittlerweile ihr oft zu schreiben. Und beides wird er nicht
unterlassen haben. Wir wissen auch von einem im Dezember an Freund
Horn gerichteten Briefe Goethes, den Eckermann noch sah, den aber ein rätsel¬
haftes Mißgeschick nach dem Tode des Dichters dem Archiv entführte; der
glückliche Jüngling gedachte darin des angeknüpften Verhältnisses und schien
„sich in dem Taumel der süßesten Empfindungen zu wiegen und feine Tage
halb träumerisch hinzuschleudern." Von seinen Jugendbriefen an Horn, die
Goethe im Jahre 1828 zurückerhielt, bewahrte er nur diesen und einen aus
dem Juli aus; in ihnen zeigte sich „endlich ein freieres Umherblicken und Auf¬
atmen des jungen Menschen", aber „bei heiterm innern Trieb und einem


Grenzboten I 1892 58
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[0465] Goethes Sträszburger lyrische Gedichte mich dem damaligen Sprachgebrauch nicht tadeln. Daß der Dichter später manches geändert hat, beweist nichts. Möglicherweise ist die Ausführung des Gedichts erst nach der Rückkehr von der Reise vollendet worden. Höchst¬ wahrscheinlich gewann Goethe auf derselben Reise zu Niederbrunn, wo der Geist des Altertums in Resten von Basreliefs und Inschriften, Säulenknäufen und -Schäften ihm, wie er sagt, aus Bnueruhöfen zwischen wirtschaftlichem Wust und Geräten wunderbar entgegenleuchtete, auch den Anlaß zu einer seiner eigentümlichsten Schöpfungen, dein Gespräche „Der Wanderer", dessen erster Erwähnung wir im April 1772 begegnen. Von dem zerstreuten Straßburger Leben wurde der dichterische Drang nicht genährt: wegen der im Herbst abzulegenden Prüfungen mußte sich Goethe mit seiner Berufswissenschaft näher beschäftigen, die ihn, da er vertrauter mit ihr ward, auch lebhafter anzog; denn er begnügte sich nicht damit, die Hefte Engelbachs, die das in der Prüfung geforderte enthielte«, sich wörtlich anzueignen. Noch vor die Prüfungen, die er am 25. und 27. September bestand, fällt Herders Bekanntschaft, die zwar feinen Gesichtskreis erweiterte, aber ihn eher niederschlug als erhob und fein Vertrauen zurückscheuchte. Da ergriff ihn Mitte Oktober seelenhafte Liebe, wie er sie schon diesen Frühling geahnt, aber noch nie empfunden hatte. Gegen Ende der Ferien weilte er bei seinem Freunde Weyland in Buchsweiler; bei der Rückreise besuchten sie auf einige Tage das gastliche Haus des mit Wehlaut verwandten Pfarrers Brion zu Sesenheim, wo Friederike des jungen Dichters Herz so mächtig er¬ griff, daß ihm der Abschied schwer fiel. Und auch Friederike war von dem Zauber des geistsprühendeu, herrlichen Jünglings hingerissen. Gleich nach der Rück¬ kehr sprach Goethe derselben Freundin, an die er sich von Saarbrücken aus gewandt hatte, sein neues Glück aus, daß er sich ganz fühle und still sei und die reinen Freuden der Liebe nud Freundschaft genieße, nachdem er einige Tage auf dem Lande in schöner Gegend unter freundlichem Himmel bei gar an¬ genehmen Leuten in Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause ver¬ lebt habe. Gegen die „liebe neue Freundin" erklärte er sich am folgenden Tage in der herzlichsten Weise, wobei er die Hoffnung äußerte, sie wiederzusehn, und die Absicht, mittlerweile ihr oft zu schreiben. Und beides wird er nicht unterlassen haben. Wir wissen auch von einem im Dezember an Freund Horn gerichteten Briefe Goethes, den Eckermann noch sah, den aber ein rätsel¬ haftes Mißgeschick nach dem Tode des Dichters dem Archiv entführte; der glückliche Jüngling gedachte darin des angeknüpften Verhältnisses und schien „sich in dem Taumel der süßesten Empfindungen zu wiegen und feine Tage halb träumerisch hinzuschleudern." Von seinen Jugendbriefen an Horn, die Goethe im Jahre 1828 zurückerhielt, bewahrte er nur diesen und einen aus dem Juli aus; in ihnen zeigte sich „endlich ein freieres Umherblicken und Auf¬ atmen des jungen Menschen", aber „bei heiterm innern Trieb und einem Grenzboten I 1892 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/465>, abgerufen am 23.07.2024.