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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Straßburger lyrische Gedichte

Musenalmanach ans 1770. Jeder erkennt, das; Goethe hier, wo es sich um den
jetzigen Augenblick handelt, nicht das sinngemäße jetzo, sondern nur das gleich¬
bedeutende, ans itzeut verkürzte itzt setzen konnte, auch wenn es ihm nicht der
Reim (besitzt) an die Hand gegeben hätte. Daß es sich hier um deu Reim
handelt, war der absprechender Kritik gar nicht in den Sinn gekommen. Merk¬
würdig ist es, daß Goethe in der zweiten Bearbeitung der "Iphigenie" immer
izo und ize hat. Im "Pater Brey" braucht er auch einmal jetzunder als Reim
auf unter. So wenig beweist itzt gegen Goethe. Nicht der Rede wert ist,
was man sonst gegen das hübsche Gedicht eingewandt und auf die Schultern
des Sündenbocks Lenz geladen hat. Die eifersüchtige Frage: "Wo triumphirt
das Städtchen?" soll etwas von dem "gezierten und gepuderten" Stil der
Anatreontik an sich haben, der nicht einmal in Goethes Leipziger Liedern
ganz ausgeprägt sei. Triumphireu steht ganz wie triompksr im Sinne von
"frohlocken", ohne Beziehung auf einen Sieg. Gegen das volkstümliche "will
keine Sonne scheinen" wird angeführt, diesem entspreche in dem Liede, das
man gleichfalls von Goethe auf Lenz überschrieben hat, der Ausdruck, die
Sonne scheine schwarz, und doch ist hier von einem sonnenlosen Tage, dort
von bloßer Einbildung des Verzweifelnden die Rede. Zu der Wendung, der
Himmel weine vereint mit ihm der Geliebten nach, stimmen dem Kritiker des
Goethe-Jahrbuchs die Worte des Lenz-Goethischen Liedes: "Weinet voll
Verlangen und voll Verzweiflung dort dir nach." So muß das geläufige
nachweinen beweise", daß beide Gedichte von Lenz sind, während sie nach der
Überlieferung freilich demselben Dichter, aber Goethe angehören. Der Ausdruck
ist um beiden Stellen durch die Verbindung, in der er steht, gehoben,
an unsrer wird in echt volkstümlicher Weise das Regnen als ein Mittrauern
des Himmels gedacht. Doch was kümmert dies den grausamen Verfolger des
Liedes, für dessen Schönheit er kein Auge hat? Er sucht mir nach einem
Häkchen, woran er einen wenn auch noch so fadenscheinigen Verdnchtsgruud an¬
knüpfen kann. So geht es lustig weiter. "Schon rufen Hirt und Herden" scheint
ihm eine Floskel der Schäferpoesie, die er dem Straßburger Goethe uicht zu¬
trauen möchte. Es ist aber nichts weniger als eine Floskel; der von der unend¬
lichen Liebenswürdigkeit der Geliebten erfüllte Dichter glaubt dies wirklich vor
sich zu schauen, in der Weise, wie schwärmerische Liebende selbst Burne
und Felsen anzurufen pflegen, als ob sie mit ihnen fühlten. Um ja nichts
u"getadelt zu lassen, als müsse das Lied recht schlecht sein, um Lenz anzuge¬
hören, macht zuletzt noch der Eingang Bielschvwsky stutzig "mit den vier Fragen,
die mit demselben Fragewort eröffnet werden." Dein Liebenden, der gern wissen
möchte, wo sein unvergeßliches Mädchen im Augenblicke weilt, will er nicht
gestatten, sich in leidenschaftlichen wiederholten Fragen zu ergehen, und doch thut
das dieser sehr glücklich, indem er zuerst fragt, wo sie sei und nach ihrer muntern
Weise singe, dann welche Flur oder welches Städtchen sich augenblicklich ihrer


Goethes Straßburger lyrische Gedichte

Musenalmanach ans 1770. Jeder erkennt, das; Goethe hier, wo es sich um den
jetzigen Augenblick handelt, nicht das sinngemäße jetzo, sondern nur das gleich¬
bedeutende, ans itzeut verkürzte itzt setzen konnte, auch wenn es ihm nicht der
Reim (besitzt) an die Hand gegeben hätte. Daß es sich hier um deu Reim
handelt, war der absprechender Kritik gar nicht in den Sinn gekommen. Merk¬
würdig ist es, daß Goethe in der zweiten Bearbeitung der „Iphigenie" immer
izo und ize hat. Im „Pater Brey" braucht er auch einmal jetzunder als Reim
auf unter. So wenig beweist itzt gegen Goethe. Nicht der Rede wert ist,
was man sonst gegen das hübsche Gedicht eingewandt und auf die Schultern
des Sündenbocks Lenz geladen hat. Die eifersüchtige Frage: „Wo triumphirt
das Städtchen?" soll etwas von dem „gezierten und gepuderten" Stil der
Anatreontik an sich haben, der nicht einmal in Goethes Leipziger Liedern
ganz ausgeprägt sei. Triumphireu steht ganz wie triompksr im Sinne von
„frohlocken", ohne Beziehung auf einen Sieg. Gegen das volkstümliche „will
keine Sonne scheinen" wird angeführt, diesem entspreche in dem Liede, das
man gleichfalls von Goethe auf Lenz überschrieben hat, der Ausdruck, die
Sonne scheine schwarz, und doch ist hier von einem sonnenlosen Tage, dort
von bloßer Einbildung des Verzweifelnden die Rede. Zu der Wendung, der
Himmel weine vereint mit ihm der Geliebten nach, stimmen dem Kritiker des
Goethe-Jahrbuchs die Worte des Lenz-Goethischen Liedes: „Weinet voll
Verlangen und voll Verzweiflung dort dir nach." So muß das geläufige
nachweinen beweise», daß beide Gedichte von Lenz sind, während sie nach der
Überlieferung freilich demselben Dichter, aber Goethe angehören. Der Ausdruck
ist um beiden Stellen durch die Verbindung, in der er steht, gehoben,
an unsrer wird in echt volkstümlicher Weise das Regnen als ein Mittrauern
des Himmels gedacht. Doch was kümmert dies den grausamen Verfolger des
Liedes, für dessen Schönheit er kein Auge hat? Er sucht mir nach einem
Häkchen, woran er einen wenn auch noch so fadenscheinigen Verdnchtsgruud an¬
knüpfen kann. So geht es lustig weiter. „Schon rufen Hirt und Herden" scheint
ihm eine Floskel der Schäferpoesie, die er dem Straßburger Goethe uicht zu¬
trauen möchte. Es ist aber nichts weniger als eine Floskel; der von der unend¬
lichen Liebenswürdigkeit der Geliebten erfüllte Dichter glaubt dies wirklich vor
sich zu schauen, in der Weise, wie schwärmerische Liebende selbst Burne
und Felsen anzurufen pflegen, als ob sie mit ihnen fühlten. Um ja nichts
u»getadelt zu lassen, als müsse das Lied recht schlecht sein, um Lenz anzuge¬
hören, macht zuletzt noch der Eingang Bielschvwsky stutzig „mit den vier Fragen,
die mit demselben Fragewort eröffnet werden." Dein Liebenden, der gern wissen
möchte, wo sein unvergeßliches Mädchen im Augenblicke weilt, will er nicht
gestatten, sich in leidenschaftlichen wiederholten Fragen zu ergehen, und doch thut
das dieser sehr glücklich, indem er zuerst fragt, wo sie sei und nach ihrer muntern
Weise singe, dann welche Flur oder welches Städtchen sich augenblicklich ihrer


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[0461] Goethes Straßburger lyrische Gedichte Musenalmanach ans 1770. Jeder erkennt, das; Goethe hier, wo es sich um den jetzigen Augenblick handelt, nicht das sinngemäße jetzo, sondern nur das gleich¬ bedeutende, ans itzeut verkürzte itzt setzen konnte, auch wenn es ihm nicht der Reim (besitzt) an die Hand gegeben hätte. Daß es sich hier um deu Reim handelt, war der absprechender Kritik gar nicht in den Sinn gekommen. Merk¬ würdig ist es, daß Goethe in der zweiten Bearbeitung der „Iphigenie" immer izo und ize hat. Im „Pater Brey" braucht er auch einmal jetzunder als Reim auf unter. So wenig beweist itzt gegen Goethe. Nicht der Rede wert ist, was man sonst gegen das hübsche Gedicht eingewandt und auf die Schultern des Sündenbocks Lenz geladen hat. Die eifersüchtige Frage: „Wo triumphirt das Städtchen?" soll etwas von dem „gezierten und gepuderten" Stil der Anatreontik an sich haben, der nicht einmal in Goethes Leipziger Liedern ganz ausgeprägt sei. Triumphireu steht ganz wie triompksr im Sinne von „frohlocken", ohne Beziehung auf einen Sieg. Gegen das volkstümliche „will keine Sonne scheinen" wird angeführt, diesem entspreche in dem Liede, das man gleichfalls von Goethe auf Lenz überschrieben hat, der Ausdruck, die Sonne scheine schwarz, und doch ist hier von einem sonnenlosen Tage, dort von bloßer Einbildung des Verzweifelnden die Rede. Zu der Wendung, der Himmel weine vereint mit ihm der Geliebten nach, stimmen dem Kritiker des Goethe-Jahrbuchs die Worte des Lenz-Goethischen Liedes: „Weinet voll Verlangen und voll Verzweiflung dort dir nach." So muß das geläufige nachweinen beweise», daß beide Gedichte von Lenz sind, während sie nach der Überlieferung freilich demselben Dichter, aber Goethe angehören. Der Ausdruck ist um beiden Stellen durch die Verbindung, in der er steht, gehoben, an unsrer wird in echt volkstümlicher Weise das Regnen als ein Mittrauern des Himmels gedacht. Doch was kümmert dies den grausamen Verfolger des Liedes, für dessen Schönheit er kein Auge hat? Er sucht mir nach einem Häkchen, woran er einen wenn auch noch so fadenscheinigen Verdnchtsgruud an¬ knüpfen kann. So geht es lustig weiter. „Schon rufen Hirt und Herden" scheint ihm eine Floskel der Schäferpoesie, die er dem Straßburger Goethe uicht zu¬ trauen möchte. Es ist aber nichts weniger als eine Floskel; der von der unend¬ lichen Liebenswürdigkeit der Geliebten erfüllte Dichter glaubt dies wirklich vor sich zu schauen, in der Weise, wie schwärmerische Liebende selbst Burne und Felsen anzurufen pflegen, als ob sie mit ihnen fühlten. Um ja nichts u»getadelt zu lassen, als müsse das Lied recht schlecht sein, um Lenz anzuge¬ hören, macht zuletzt noch der Eingang Bielschvwsky stutzig „mit den vier Fragen, die mit demselben Fragewort eröffnet werden." Dein Liebenden, der gern wissen möchte, wo sein unvergeßliches Mädchen im Augenblicke weilt, will er nicht gestatten, sich in leidenschaftlichen wiederholten Fragen zu ergehen, und doch thut das dieser sehr glücklich, indem er zuerst fragt, wo sie sei und nach ihrer muntern Weise singe, dann welche Flur oder welches Städtchen sich augenblicklich ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/461>, abgerufen am 23.07.2024.