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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristentuin, Staat und Kirche

Richtungen hin sehr wohlthätig auf die Sittlichkeit aller derer, die dabei be¬
schäftigt sind, aber trotzdem ist nicht die Sittlichkeit ihr Zweck, sondern ihr
nächster Zweck ist Geldverdienst, ihr entfernterer und höherer die Erzeugung
und der Umtrieb von Gütern. Namentlich der preußische Staat hat sich,
worauf Nur noch zurückkommen werden, große Verdienste um die Sittlichkeit
seiner Angehörige" erworben, aber der preußische Staat ist-nicht der Staat
überhaupt, und je weiter er sich ausdehnt, desto weniger vermag er sein ur¬
sprüngliches Wesen zu behaupten. Die auf Zeutralisirung gerichtete und oller
individuellen und korporativen Selbständigkeit ungünstige Richtung der Zeit
hat den Staat mit der Fürsorge fast für alle Kulturaufgnbeu belastet, und
die Anhänger der Hegelschen Staatsidee haben diesen Prozeß befördert und
mit zunehmender Befriedigung beobachtet. Allein weder den verschiednen
Knltnrgebieten noch dem Staate dürste er sonderlich zum Heile gereichen, und
das beginnen die Anhänger jener Staatsidee allmählich einzusehen: ihre Be¬
geisterung scheint den Höhepunkt überschritten zu haben. In Schule, Kunst,
Wissenschaft, Gewerbe, Armenpflege, von der Kirche gar nicht zu reden, klagt
man über den lähmenden und lebentötenden Druck der Bureaukratie. In an¬
dern Kreisen freilich scheint die Abkühlung mehr mit der Abnahme des Geld¬
gewinns zusammenzuhängen, den die Freundschaft für den Staat unter Um¬
ständen einträgt. Dieser aber, dessen Wesen ohnehin "icht geeignet ist, Liebe
zu entzünden, wird nun auch noch mit allem Haß beladen, den ihm die Mi߬
erfolge auf deu verschiednen Kulturgebieteu eintragen, und die Zahl derer mehrt
sich, die in ihm mit Graue" Hobbes alles verschlingenden Leviathan sehen.
Liebe zum Staat erziehe" oder gar erzwinge" wollen ist ein einfältiges Unter¬
nehmen. Wie viel Freiwillige wären wohl 1813 gekommen, wenn die Losung:
Für den Staat! gelautet hätte, anstatt: Mit Gott für König und Vaterland,
für Weib und Kind und den heimischen Herd! Und den Staat dadurch, daß
'"an ihn unnötigerweise mit unlösbaren Ausgaben und der Verantwortung für
den Mißerfolg beladet, auch noch dem Haß auszusetzen, ist höchst unweise.
Dagegen fällt es nicht schwer, seine Notwendigkeit klar zu machen, die ja auch
von der Sozialdemokratie nicht bestritten wird, denn was sie bekämpfen, das
ist nicht die Staatsordnung an sich, sondern was sie den Klassenstaat nennen.
Wird der Staat als das, was er seinem Wesen nach ist, als die unentbehrliche
Zwangsanstalt zur Aufrechterhaltaug der äußern Ordnung und zum Schutze
der Staatsangehörigen allgemein aufgefaßt, dann schwindet auch das anstößige
der vielfachen Widersprüche zwischen der Staatsregierung und der sittlichen
'Ordnung. Dem Christen ist es von vornherein klar, daß sich menschliche Ord¬
nungen, namentlich Zwangsordnungen, niemals mit der göttlichen Ordnung
decken köunen, und daß Rechtsprechung und Gerechtigkeit zweierlei Dinge sind.
Er weiß es, daß die Obrigkeit zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung
dem Einzelnen oft Unrecht thun muß, daß hingegen für ihn persönlich die


Grenzboten 1 1892 5K
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristentuin, Staat und Kirche

Richtungen hin sehr wohlthätig auf die Sittlichkeit aller derer, die dabei be¬
schäftigt sind, aber trotzdem ist nicht die Sittlichkeit ihr Zweck, sondern ihr
nächster Zweck ist Geldverdienst, ihr entfernterer und höherer die Erzeugung
und der Umtrieb von Gütern. Namentlich der preußische Staat hat sich,
worauf Nur noch zurückkommen werden, große Verdienste um die Sittlichkeit
seiner Angehörige» erworben, aber der preußische Staat ist-nicht der Staat
überhaupt, und je weiter er sich ausdehnt, desto weniger vermag er sein ur¬
sprüngliches Wesen zu behaupten. Die auf Zeutralisirung gerichtete und oller
individuellen und korporativen Selbständigkeit ungünstige Richtung der Zeit
hat den Staat mit der Fürsorge fast für alle Kulturaufgnbeu belastet, und
die Anhänger der Hegelschen Staatsidee haben diesen Prozeß befördert und
mit zunehmender Befriedigung beobachtet. Allein weder den verschiednen
Knltnrgebieten noch dem Staate dürste er sonderlich zum Heile gereichen, und
das beginnen die Anhänger jener Staatsidee allmählich einzusehen: ihre Be¬
geisterung scheint den Höhepunkt überschritten zu haben. In Schule, Kunst,
Wissenschaft, Gewerbe, Armenpflege, von der Kirche gar nicht zu reden, klagt
man über den lähmenden und lebentötenden Druck der Bureaukratie. In an¬
dern Kreisen freilich scheint die Abkühlung mehr mit der Abnahme des Geld¬
gewinns zusammenzuhängen, den die Freundschaft für den Staat unter Um¬
ständen einträgt. Dieser aber, dessen Wesen ohnehin «icht geeignet ist, Liebe
zu entzünden, wird nun auch noch mit allem Haß beladen, den ihm die Mi߬
erfolge auf deu verschiednen Kulturgebieteu eintragen, und die Zahl derer mehrt
sich, die in ihm mit Graue» Hobbes alles verschlingenden Leviathan sehen.
Liebe zum Staat erziehe» oder gar erzwinge» wollen ist ein einfältiges Unter¬
nehmen. Wie viel Freiwillige wären wohl 1813 gekommen, wenn die Losung:
Für den Staat! gelautet hätte, anstatt: Mit Gott für König und Vaterland,
für Weib und Kind und den heimischen Herd! Und den Staat dadurch, daß
'»an ihn unnötigerweise mit unlösbaren Ausgaben und der Verantwortung für
den Mißerfolg beladet, auch noch dem Haß auszusetzen, ist höchst unweise.
Dagegen fällt es nicht schwer, seine Notwendigkeit klar zu machen, die ja auch
von der Sozialdemokratie nicht bestritten wird, denn was sie bekämpfen, das
ist nicht die Staatsordnung an sich, sondern was sie den Klassenstaat nennen.
Wird der Staat als das, was er seinem Wesen nach ist, als die unentbehrliche
Zwangsanstalt zur Aufrechterhaltaug der äußern Ordnung und zum Schutze
der Staatsangehörigen allgemein aufgefaßt, dann schwindet auch das anstößige
der vielfachen Widersprüche zwischen der Staatsregierung und der sittlichen
'Ordnung. Dem Christen ist es von vornherein klar, daß sich menschliche Ord¬
nungen, namentlich Zwangsordnungen, niemals mit der göttlichen Ordnung
decken köunen, und daß Rechtsprechung und Gerechtigkeit zweierlei Dinge sind.
Er weiß es, daß die Obrigkeit zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung
dem Einzelnen oft Unrecht thun muß, daß hingegen für ihn persönlich die


Grenzboten 1 1892 5K
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[0449] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristentuin, Staat und Kirche Richtungen hin sehr wohlthätig auf die Sittlichkeit aller derer, die dabei be¬ schäftigt sind, aber trotzdem ist nicht die Sittlichkeit ihr Zweck, sondern ihr nächster Zweck ist Geldverdienst, ihr entfernterer und höherer die Erzeugung und der Umtrieb von Gütern. Namentlich der preußische Staat hat sich, worauf Nur noch zurückkommen werden, große Verdienste um die Sittlichkeit seiner Angehörige» erworben, aber der preußische Staat ist-nicht der Staat überhaupt, und je weiter er sich ausdehnt, desto weniger vermag er sein ur¬ sprüngliches Wesen zu behaupten. Die auf Zeutralisirung gerichtete und oller individuellen und korporativen Selbständigkeit ungünstige Richtung der Zeit hat den Staat mit der Fürsorge fast für alle Kulturaufgnbeu belastet, und die Anhänger der Hegelschen Staatsidee haben diesen Prozeß befördert und mit zunehmender Befriedigung beobachtet. Allein weder den verschiednen Knltnrgebieten noch dem Staate dürste er sonderlich zum Heile gereichen, und das beginnen die Anhänger jener Staatsidee allmählich einzusehen: ihre Be¬ geisterung scheint den Höhepunkt überschritten zu haben. In Schule, Kunst, Wissenschaft, Gewerbe, Armenpflege, von der Kirche gar nicht zu reden, klagt man über den lähmenden und lebentötenden Druck der Bureaukratie. In an¬ dern Kreisen freilich scheint die Abkühlung mehr mit der Abnahme des Geld¬ gewinns zusammenzuhängen, den die Freundschaft für den Staat unter Um¬ ständen einträgt. Dieser aber, dessen Wesen ohnehin «icht geeignet ist, Liebe zu entzünden, wird nun auch noch mit allem Haß beladen, den ihm die Mi߬ erfolge auf deu verschiednen Kulturgebieteu eintragen, und die Zahl derer mehrt sich, die in ihm mit Graue» Hobbes alles verschlingenden Leviathan sehen. Liebe zum Staat erziehe» oder gar erzwinge» wollen ist ein einfältiges Unter¬ nehmen. Wie viel Freiwillige wären wohl 1813 gekommen, wenn die Losung: Für den Staat! gelautet hätte, anstatt: Mit Gott für König und Vaterland, für Weib und Kind und den heimischen Herd! Und den Staat dadurch, daß '»an ihn unnötigerweise mit unlösbaren Ausgaben und der Verantwortung für den Mißerfolg beladet, auch noch dem Haß auszusetzen, ist höchst unweise. Dagegen fällt es nicht schwer, seine Notwendigkeit klar zu machen, die ja auch von der Sozialdemokratie nicht bestritten wird, denn was sie bekämpfen, das ist nicht die Staatsordnung an sich, sondern was sie den Klassenstaat nennen. Wird der Staat als das, was er seinem Wesen nach ist, als die unentbehrliche Zwangsanstalt zur Aufrechterhaltaug der äußern Ordnung und zum Schutze der Staatsangehörigen allgemein aufgefaßt, dann schwindet auch das anstößige der vielfachen Widersprüche zwischen der Staatsregierung und der sittlichen 'Ordnung. Dem Christen ist es von vornherein klar, daß sich menschliche Ord¬ nungen, namentlich Zwangsordnungen, niemals mit der göttlichen Ordnung decken köunen, und daß Rechtsprechung und Gerechtigkeit zweierlei Dinge sind. Er weiß es, daß die Obrigkeit zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung dem Einzelnen oft Unrecht thun muß, daß hingegen für ihn persönlich die Grenzboten 1 1892 5K

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/449>, abgerufen am 23.07.2024.