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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airclie

daß sie aufgehört habe ein sittliches Institut zu sein, als sie anfing, den
Glauben und ein nach ihrer Meinung christliches Leben zu erzwingen; erst
nachdem sie vom Staate ihrer Zwangsgewalt beraubt worden war, konnte sie
wieder eines werden. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Staat ein
nngöttliches oder gar ein unsittliches Institut sei. Er hat eben an sich mit
der Sittlichkeit gar nichts zu thun und erfüllt gerade dann seineu göttlichen
Beruf, wenn er sich innerhalb der Schranken seiner Zuständigkeit hält. Die
Kirche wird unsittlich, sobald sie zu Zwangsmitteln greift. Der Staat hat
keine andern als Zwangsmittel, und will er diese zur Erzeugung von Glaubens¬
meinungen oder von Sittlichkeit mißbrauchen, so verfällt er derselben Ver¬
dammnis, denn die Sittlichkeit erzwingen wollen heißt die Sittlichkeit auf¬
heben. Eine erzwungne Handlung ist niemals eine sittliche Handlung, und
inS Heiligtum des Gewissens, wo die Gedanken einander anklagen und los¬
sprechen, reicht keine Staatsgewalt. Zudem ist der Staat genötigt, so manches
unschuldige und sogar vom Gewissen geforderte, z. B. den Tadel ungerechter
Handlungen der Obrigkeit, zu bestrafen und so unmoralische Handlungen, wie
das spioniren im Kriege und im Polizeidienste zu fordern. Der Staat hat
gewisse unsittliche Handlungen zu bestrafen, nicht weil sie unsittlich sind, sondern
weil sie Leib oder Leben, Eigentum oder Ehre seiner Schutzbefohlenen bedrohen
oder schädigen. Wenn es jemals gelänge, einem ganzen Volke die Überzeugung
beizubringen, daß sich das Sittliche mit den Forderungen des Staats und
das Unsittliche mit dem im Strafgesetzbuche verbotnen decke, so würde dieses
Volk nicht mehr eine Nation von Menschen, sondern nur noch eine Herde
dressirter Tiere sein. Der sittliche Mensch kümmert sich zwar um die Polizei-
Vorschriften, die zum Teil wenigstens nicht erraten werden können und dennoch
beobachtet werden müssen, aber das Strafgesetzbuch ist für ihn nicht vorhanden.
Er weiß es, daß er keines der Verbote übertreten wird, die mit dem Sitten¬
gesetze zusammenfallen, und was die übrigen anlangt, so erkennt er für die
Entscheidung der Frage, ob er dagegen handeln, z. B. eine nach seiner Über¬
zeugung schlechte und schädliche Stantseinrichtung angreifen soll, keinen andern
Richter an als sein Gewissen. Es steht elend um die Sittlichkeit in einem
Staate, wo die Bürger anfangen das Strafgesetzbuch und die Kommentare
dazu zu studiren.

Bei der engen Verflechtung aller Lebenserscheinungen unter einander so¬
wohl im Gemüte des Einzelnen wie im öffentlichen Leben kann es ja an viel¬
fachen Berührungen des Staates mit dem Sittlichen nicht fehlen. Der Staat
vermag mittelbar, niemals unmittelbar, die Sittlichkeit wie die Unsittlichkeit
auf mancherlei Weise zu fördern, und er hat je nach Umständen Nutzen oder
Schaden davon. Aber dnrch diese vielfachen Berührungen wird er noch keine
Anstalt zur Verwirklichung der Sittlichkeit. Ein großes wohlgeordnetes Kauf¬
mannsgeschäft und eine gut eingerichtete und geleitete Fabrik wirken nach vielen


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airclie

daß sie aufgehört habe ein sittliches Institut zu sein, als sie anfing, den
Glauben und ein nach ihrer Meinung christliches Leben zu erzwingen; erst
nachdem sie vom Staate ihrer Zwangsgewalt beraubt worden war, konnte sie
wieder eines werden. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Staat ein
nngöttliches oder gar ein unsittliches Institut sei. Er hat eben an sich mit
der Sittlichkeit gar nichts zu thun und erfüllt gerade dann seineu göttlichen
Beruf, wenn er sich innerhalb der Schranken seiner Zuständigkeit hält. Die
Kirche wird unsittlich, sobald sie zu Zwangsmitteln greift. Der Staat hat
keine andern als Zwangsmittel, und will er diese zur Erzeugung von Glaubens¬
meinungen oder von Sittlichkeit mißbrauchen, so verfällt er derselben Ver¬
dammnis, denn die Sittlichkeit erzwingen wollen heißt die Sittlichkeit auf¬
heben. Eine erzwungne Handlung ist niemals eine sittliche Handlung, und
inS Heiligtum des Gewissens, wo die Gedanken einander anklagen und los¬
sprechen, reicht keine Staatsgewalt. Zudem ist der Staat genötigt, so manches
unschuldige und sogar vom Gewissen geforderte, z. B. den Tadel ungerechter
Handlungen der Obrigkeit, zu bestrafen und so unmoralische Handlungen, wie
das spioniren im Kriege und im Polizeidienste zu fordern. Der Staat hat
gewisse unsittliche Handlungen zu bestrafen, nicht weil sie unsittlich sind, sondern
weil sie Leib oder Leben, Eigentum oder Ehre seiner Schutzbefohlenen bedrohen
oder schädigen. Wenn es jemals gelänge, einem ganzen Volke die Überzeugung
beizubringen, daß sich das Sittliche mit den Forderungen des Staats und
das Unsittliche mit dem im Strafgesetzbuche verbotnen decke, so würde dieses
Volk nicht mehr eine Nation von Menschen, sondern nur noch eine Herde
dressirter Tiere sein. Der sittliche Mensch kümmert sich zwar um die Polizei-
Vorschriften, die zum Teil wenigstens nicht erraten werden können und dennoch
beobachtet werden müssen, aber das Strafgesetzbuch ist für ihn nicht vorhanden.
Er weiß es, daß er keines der Verbote übertreten wird, die mit dem Sitten¬
gesetze zusammenfallen, und was die übrigen anlangt, so erkennt er für die
Entscheidung der Frage, ob er dagegen handeln, z. B. eine nach seiner Über¬
zeugung schlechte und schädliche Stantseinrichtung angreifen soll, keinen andern
Richter an als sein Gewissen. Es steht elend um die Sittlichkeit in einem
Staate, wo die Bürger anfangen das Strafgesetzbuch und die Kommentare
dazu zu studiren.

Bei der engen Verflechtung aller Lebenserscheinungen unter einander so¬
wohl im Gemüte des Einzelnen wie im öffentlichen Leben kann es ja an viel¬
fachen Berührungen des Staates mit dem Sittlichen nicht fehlen. Der Staat
vermag mittelbar, niemals unmittelbar, die Sittlichkeit wie die Unsittlichkeit
auf mancherlei Weise zu fördern, und er hat je nach Umständen Nutzen oder
Schaden davon. Aber dnrch diese vielfachen Berührungen wird er noch keine
Anstalt zur Verwirklichung der Sittlichkeit. Ein großes wohlgeordnetes Kauf¬
mannsgeschäft und eine gut eingerichtete und geleitete Fabrik wirken nach vielen


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[0448] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airclie daß sie aufgehört habe ein sittliches Institut zu sein, als sie anfing, den Glauben und ein nach ihrer Meinung christliches Leben zu erzwingen; erst nachdem sie vom Staate ihrer Zwangsgewalt beraubt worden war, konnte sie wieder eines werden. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der Staat ein nngöttliches oder gar ein unsittliches Institut sei. Er hat eben an sich mit der Sittlichkeit gar nichts zu thun und erfüllt gerade dann seineu göttlichen Beruf, wenn er sich innerhalb der Schranken seiner Zuständigkeit hält. Die Kirche wird unsittlich, sobald sie zu Zwangsmitteln greift. Der Staat hat keine andern als Zwangsmittel, und will er diese zur Erzeugung von Glaubens¬ meinungen oder von Sittlichkeit mißbrauchen, so verfällt er derselben Ver¬ dammnis, denn die Sittlichkeit erzwingen wollen heißt die Sittlichkeit auf¬ heben. Eine erzwungne Handlung ist niemals eine sittliche Handlung, und inS Heiligtum des Gewissens, wo die Gedanken einander anklagen und los¬ sprechen, reicht keine Staatsgewalt. Zudem ist der Staat genötigt, so manches unschuldige und sogar vom Gewissen geforderte, z. B. den Tadel ungerechter Handlungen der Obrigkeit, zu bestrafen und so unmoralische Handlungen, wie das spioniren im Kriege und im Polizeidienste zu fordern. Der Staat hat gewisse unsittliche Handlungen zu bestrafen, nicht weil sie unsittlich sind, sondern weil sie Leib oder Leben, Eigentum oder Ehre seiner Schutzbefohlenen bedrohen oder schädigen. Wenn es jemals gelänge, einem ganzen Volke die Überzeugung beizubringen, daß sich das Sittliche mit den Forderungen des Staats und das Unsittliche mit dem im Strafgesetzbuche verbotnen decke, so würde dieses Volk nicht mehr eine Nation von Menschen, sondern nur noch eine Herde dressirter Tiere sein. Der sittliche Mensch kümmert sich zwar um die Polizei- Vorschriften, die zum Teil wenigstens nicht erraten werden können und dennoch beobachtet werden müssen, aber das Strafgesetzbuch ist für ihn nicht vorhanden. Er weiß es, daß er keines der Verbote übertreten wird, die mit dem Sitten¬ gesetze zusammenfallen, und was die übrigen anlangt, so erkennt er für die Entscheidung der Frage, ob er dagegen handeln, z. B. eine nach seiner Über¬ zeugung schlechte und schädliche Stantseinrichtung angreifen soll, keinen andern Richter an als sein Gewissen. Es steht elend um die Sittlichkeit in einem Staate, wo die Bürger anfangen das Strafgesetzbuch und die Kommentare dazu zu studiren. Bei der engen Verflechtung aller Lebenserscheinungen unter einander so¬ wohl im Gemüte des Einzelnen wie im öffentlichen Leben kann es ja an viel¬ fachen Berührungen des Staates mit dem Sittlichen nicht fehlen. Der Staat vermag mittelbar, niemals unmittelbar, die Sittlichkeit wie die Unsittlichkeit auf mancherlei Weise zu fördern, und er hat je nach Umständen Nutzen oder Schaden davon. Aber dnrch diese vielfachen Berührungen wird er noch keine Anstalt zur Verwirklichung der Sittlichkeit. Ein großes wohlgeordnetes Kauf¬ mannsgeschäft und eine gut eingerichtete und geleitete Fabrik wirken nach vielen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/448>, abgerufen am 23.07.2024.