Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Gesamtheit unter sich und die Franzosen eine andre, so daß diese beiden Ge¬
samtheiten wie zwei Welten neben einander bestehen, ohne sich gegenseitig
etwas anzugehen? Dann hat allerdings das Totschießen der Gegner im Kriege
keine andre Bedeutung als die Abwehr eines Heuschreckenschwarms oder
einer Überschwemmung. Und wenn wir die Gesamtheit auf das deutsche Volk
zusammenschrumpfen lassen, sind wir dann etwa im klaren? Gehören nicht die
Deutschen Österreichs auch dazu, wie können wir mit ihnen Krieg führen?
Wie kommen wir dazu, die Gesamtheit und unsern damit zusammenfallenden
Pflichtenkreis mit den wechselnden politischen Grenzen bald um etliche Quadrat-
meilen zu erweitern, bald zu verengern? Vor 18K6 waren alle Angehörigen
des Deutschen Bundes unsre Nächsten. In dem entscheidenden Jahre wurden
sie plötzlich in zwei Lager gespalten nud mußten einander totschießen: das
hannoverische Gesamtwohl war ein anderes als das preußische. Nach Abschluß
des Friedens muß der Preuße deu Hannoveraner wieder lieben, wenn dieser
nicht zufällig ein Welfe ist oder gar Windthorst heißt. Nein, dn wird in
Ewigkeit keine Moral draus! Wenn man die Politik auf die Moral gründen
oder die Moral aus dem Staatsuutzeu, der den Inhalt der Politik bildet,
ableiten will, dann geht eins von beiden oder beides in die Brüche. Gesamt¬
wohl und gesamtheitliches Interesse ist Unsinn; kein Mensch vermag anzugeben,
worin das Interesse der gesamten Menschheit bestehe und wie ans dem
Widerstreit unzähliger Einzelinteressen ein Gesamtinteresse herausgefunden
werden könne. Nur von den Begriffen Volkswohl und Stnatsuutzen lassen
sich allenfalls, obwohl auch nicht ohne heftigen Widerstreit der Meinungen,
leidlich befriedigende Erklärungen geben. Der Zusammenhang der Moral mit
der Politik beschränkt sich darauf, daß der gewissenhafte Staatsmann durch
die Mittel, die er zur Forderung des Staatsnutzens ergreifen muß, in immer¬
währende schmerzliche Gewissenskonflikte verwickelt wird, und daß er aus Ge¬
wissenhaftigkeit zuweilen von einem sehr nützlichen und zweckmäßigen, aber
moralisch gar zu bedenklichen Mittel Abstand nimmt. Das einzige, was ihn
aufrecht erhält, ist der Glaube, daß derselbe Gott, der das Sittengesetz gegeben
hat, ihm diese furchtbaren dem Sittengesetz widersprechenden Aufgaben gestellt
habe, daß dieser ihm nicht anrechnen werde, was er im Dienste des einen
göttlichen Willens gegen den andern scheinbar widersprechenden sündigt, und
daß er dereinst in einem höhern Lichte schauen werde, wie sich diese Wider¬
sprüche in Harmonie auflösen.

Der Irrtum eines bekannten großen Geistes, daß der Staat die Ver¬
wirklichung der sittlichen Idee sei, ist zwar aus deu Zeitumständen, in denen
er entstand, leicht zu erklären, aber er bleibt dennoch ein Irrtum, und zwar
ein recht offen zu Tage liegender, weil er ja einen offenbaren Widerspruch
enthält. Die Sittlichkeit ist das Reich der Freiheit, und der Staat ist die
große Zwangsanstalt. Man hat der römischen Kirche mit Recht nachgesagt,


Gesamtheit unter sich und die Franzosen eine andre, so daß diese beiden Ge¬
samtheiten wie zwei Welten neben einander bestehen, ohne sich gegenseitig
etwas anzugehen? Dann hat allerdings das Totschießen der Gegner im Kriege
keine andre Bedeutung als die Abwehr eines Heuschreckenschwarms oder
einer Überschwemmung. Und wenn wir die Gesamtheit auf das deutsche Volk
zusammenschrumpfen lassen, sind wir dann etwa im klaren? Gehören nicht die
Deutschen Österreichs auch dazu, wie können wir mit ihnen Krieg führen?
Wie kommen wir dazu, die Gesamtheit und unsern damit zusammenfallenden
Pflichtenkreis mit den wechselnden politischen Grenzen bald um etliche Quadrat-
meilen zu erweitern, bald zu verengern? Vor 18K6 waren alle Angehörigen
des Deutschen Bundes unsre Nächsten. In dem entscheidenden Jahre wurden
sie plötzlich in zwei Lager gespalten nud mußten einander totschießen: das
hannoverische Gesamtwohl war ein anderes als das preußische. Nach Abschluß
des Friedens muß der Preuße deu Hannoveraner wieder lieben, wenn dieser
nicht zufällig ein Welfe ist oder gar Windthorst heißt. Nein, dn wird in
Ewigkeit keine Moral draus! Wenn man die Politik auf die Moral gründen
oder die Moral aus dem Staatsuutzeu, der den Inhalt der Politik bildet,
ableiten will, dann geht eins von beiden oder beides in die Brüche. Gesamt¬
wohl und gesamtheitliches Interesse ist Unsinn; kein Mensch vermag anzugeben,
worin das Interesse der gesamten Menschheit bestehe und wie ans dem
Widerstreit unzähliger Einzelinteressen ein Gesamtinteresse herausgefunden
werden könne. Nur von den Begriffen Volkswohl und Stnatsuutzen lassen
sich allenfalls, obwohl auch nicht ohne heftigen Widerstreit der Meinungen,
leidlich befriedigende Erklärungen geben. Der Zusammenhang der Moral mit
der Politik beschränkt sich darauf, daß der gewissenhafte Staatsmann durch
die Mittel, die er zur Forderung des Staatsnutzens ergreifen muß, in immer¬
währende schmerzliche Gewissenskonflikte verwickelt wird, und daß er aus Ge¬
wissenhaftigkeit zuweilen von einem sehr nützlichen und zweckmäßigen, aber
moralisch gar zu bedenklichen Mittel Abstand nimmt. Das einzige, was ihn
aufrecht erhält, ist der Glaube, daß derselbe Gott, der das Sittengesetz gegeben
hat, ihm diese furchtbaren dem Sittengesetz widersprechenden Aufgaben gestellt
habe, daß dieser ihm nicht anrechnen werde, was er im Dienste des einen
göttlichen Willens gegen den andern scheinbar widersprechenden sündigt, und
daß er dereinst in einem höhern Lichte schauen werde, wie sich diese Wider¬
sprüche in Harmonie auflösen.

Der Irrtum eines bekannten großen Geistes, daß der Staat die Ver¬
wirklichung der sittlichen Idee sei, ist zwar aus deu Zeitumständen, in denen
er entstand, leicht zu erklären, aber er bleibt dennoch ein Irrtum, und zwar
ein recht offen zu Tage liegender, weil er ja einen offenbaren Widerspruch
enthält. Die Sittlichkeit ist das Reich der Freiheit, und der Staat ist die
große Zwangsanstalt. Man hat der römischen Kirche mit Recht nachgesagt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0447" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211615"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1326" prev="#ID_1325"> Gesamtheit unter sich und die Franzosen eine andre, so daß diese beiden Ge¬<lb/>
samtheiten wie zwei Welten neben einander bestehen, ohne sich gegenseitig<lb/>
etwas anzugehen? Dann hat allerdings das Totschießen der Gegner im Kriege<lb/>
keine andre Bedeutung als die Abwehr eines Heuschreckenschwarms oder<lb/>
einer Überschwemmung. Und wenn wir die Gesamtheit auf das deutsche Volk<lb/>
zusammenschrumpfen lassen, sind wir dann etwa im klaren? Gehören nicht die<lb/>
Deutschen Österreichs auch dazu, wie können wir mit ihnen Krieg führen?<lb/>
Wie kommen wir dazu, die Gesamtheit und unsern damit zusammenfallenden<lb/>
Pflichtenkreis mit den wechselnden politischen Grenzen bald um etliche Quadrat-<lb/>
meilen zu erweitern, bald zu verengern? Vor 18K6 waren alle Angehörigen<lb/>
des Deutschen Bundes unsre Nächsten. In dem entscheidenden Jahre wurden<lb/>
sie plötzlich in zwei Lager gespalten nud mußten einander totschießen: das<lb/>
hannoverische Gesamtwohl war ein anderes als das preußische. Nach Abschluß<lb/>
des Friedens muß der Preuße deu Hannoveraner wieder lieben, wenn dieser<lb/>
nicht zufällig ein Welfe ist oder gar Windthorst heißt. Nein, dn wird in<lb/>
Ewigkeit keine Moral draus! Wenn man die Politik auf die Moral gründen<lb/>
oder die Moral aus dem Staatsuutzeu, der den Inhalt der Politik bildet,<lb/>
ableiten will, dann geht eins von beiden oder beides in die Brüche. Gesamt¬<lb/>
wohl und gesamtheitliches Interesse ist Unsinn; kein Mensch vermag anzugeben,<lb/>
worin das Interesse der gesamten Menschheit bestehe und wie ans dem<lb/>
Widerstreit unzähliger Einzelinteressen ein Gesamtinteresse herausgefunden<lb/>
werden könne. Nur von den Begriffen Volkswohl und Stnatsuutzen lassen<lb/>
sich allenfalls, obwohl auch nicht ohne heftigen Widerstreit der Meinungen,<lb/>
leidlich befriedigende Erklärungen geben. Der Zusammenhang der Moral mit<lb/>
der Politik beschränkt sich darauf, daß der gewissenhafte Staatsmann durch<lb/>
die Mittel, die er zur Forderung des Staatsnutzens ergreifen muß, in immer¬<lb/>
währende schmerzliche Gewissenskonflikte verwickelt wird, und daß er aus Ge¬<lb/>
wissenhaftigkeit zuweilen von einem sehr nützlichen und zweckmäßigen, aber<lb/>
moralisch gar zu bedenklichen Mittel Abstand nimmt. Das einzige, was ihn<lb/>
aufrecht erhält, ist der Glaube, daß derselbe Gott, der das Sittengesetz gegeben<lb/>
hat, ihm diese furchtbaren dem Sittengesetz widersprechenden Aufgaben gestellt<lb/>
habe, daß dieser ihm nicht anrechnen werde, was er im Dienste des einen<lb/>
göttlichen Willens gegen den andern scheinbar widersprechenden sündigt, und<lb/>
daß er dereinst in einem höhern Lichte schauen werde, wie sich diese Wider¬<lb/>
sprüche in Harmonie auflösen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1327" next="#ID_1328"> Der Irrtum eines bekannten großen Geistes, daß der Staat die Ver¬<lb/>
wirklichung der sittlichen Idee sei, ist zwar aus deu Zeitumständen, in denen<lb/>
er entstand, leicht zu erklären, aber er bleibt dennoch ein Irrtum, und zwar<lb/>
ein recht offen zu Tage liegender, weil er ja einen offenbaren Widerspruch<lb/>
enthält. Die Sittlichkeit ist das Reich der Freiheit, und der Staat ist die<lb/>
große Zwangsanstalt.  Man hat der römischen Kirche mit Recht nachgesagt,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0447] Gesamtheit unter sich und die Franzosen eine andre, so daß diese beiden Ge¬ samtheiten wie zwei Welten neben einander bestehen, ohne sich gegenseitig etwas anzugehen? Dann hat allerdings das Totschießen der Gegner im Kriege keine andre Bedeutung als die Abwehr eines Heuschreckenschwarms oder einer Überschwemmung. Und wenn wir die Gesamtheit auf das deutsche Volk zusammenschrumpfen lassen, sind wir dann etwa im klaren? Gehören nicht die Deutschen Österreichs auch dazu, wie können wir mit ihnen Krieg führen? Wie kommen wir dazu, die Gesamtheit und unsern damit zusammenfallenden Pflichtenkreis mit den wechselnden politischen Grenzen bald um etliche Quadrat- meilen zu erweitern, bald zu verengern? Vor 18K6 waren alle Angehörigen des Deutschen Bundes unsre Nächsten. In dem entscheidenden Jahre wurden sie plötzlich in zwei Lager gespalten nud mußten einander totschießen: das hannoverische Gesamtwohl war ein anderes als das preußische. Nach Abschluß des Friedens muß der Preuße deu Hannoveraner wieder lieben, wenn dieser nicht zufällig ein Welfe ist oder gar Windthorst heißt. Nein, dn wird in Ewigkeit keine Moral draus! Wenn man die Politik auf die Moral gründen oder die Moral aus dem Staatsuutzeu, der den Inhalt der Politik bildet, ableiten will, dann geht eins von beiden oder beides in die Brüche. Gesamt¬ wohl und gesamtheitliches Interesse ist Unsinn; kein Mensch vermag anzugeben, worin das Interesse der gesamten Menschheit bestehe und wie ans dem Widerstreit unzähliger Einzelinteressen ein Gesamtinteresse herausgefunden werden könne. Nur von den Begriffen Volkswohl und Stnatsuutzen lassen sich allenfalls, obwohl auch nicht ohne heftigen Widerstreit der Meinungen, leidlich befriedigende Erklärungen geben. Der Zusammenhang der Moral mit der Politik beschränkt sich darauf, daß der gewissenhafte Staatsmann durch die Mittel, die er zur Forderung des Staatsnutzens ergreifen muß, in immer¬ währende schmerzliche Gewissenskonflikte verwickelt wird, und daß er aus Ge¬ wissenhaftigkeit zuweilen von einem sehr nützlichen und zweckmäßigen, aber moralisch gar zu bedenklichen Mittel Abstand nimmt. Das einzige, was ihn aufrecht erhält, ist der Glaube, daß derselbe Gott, der das Sittengesetz gegeben hat, ihm diese furchtbaren dem Sittengesetz widersprechenden Aufgaben gestellt habe, daß dieser ihm nicht anrechnen werde, was er im Dienste des einen göttlichen Willens gegen den andern scheinbar widersprechenden sündigt, und daß er dereinst in einem höhern Lichte schauen werde, wie sich diese Wider¬ sprüche in Harmonie auflösen. Der Irrtum eines bekannten großen Geistes, daß der Staat die Ver¬ wirklichung der sittlichen Idee sei, ist zwar aus deu Zeitumständen, in denen er entstand, leicht zu erklären, aber er bleibt dennoch ein Irrtum, und zwar ein recht offen zu Tage liegender, weil er ja einen offenbaren Widerspruch enthält. Die Sittlichkeit ist das Reich der Freiheit, und der Staat ist die große Zwangsanstalt. Man hat der römischen Kirche mit Recht nachgesagt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/447
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/447>, abgerufen am 23.07.2024.