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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Q?risee>kenn, Staat und Kirche

verstehe" es, sich auf feinere Weise zu bereichern. Sehr vieles ist öffentlich
bekannt, viel andres, was man weiß, kann man nicht öffentlich sagen, ohne
sich selbst der Gefahr des Gefängnisses auszusetzen. Daß in Italien die
Herren, die an der Quelle sitzen, das Schöpfen gründlich versteh", wird
vielfach versichert. In Frankreich sollen Minister und Deputirte nicht viel
mehr^ sein, als Agenten des Hanfes Rothschild. In Nordamerika endlich, dem
fortgeschrittensten und modernsten aller modernen Gemeinwesen, werden die
Mitglieder der städtischen und Staatsbehörden täglich in Zeitungen Spitz¬
buben und Schurken geschimpft, ohne Einspruch dagegen zu erheben. Nu߬
land, das klassische Land der amtlichen Spitzbüberei, kann gegen den Professor
nicht angeführt werden, weil es weder ein europäisches noch ein modernes
Land ist. Der Schein überzarter Ehrlichkeit entsteht eben nur dadurch, daß
kein noch so geringfügiger Diebstahl, den arme Teufel begehen, ungestraft
bleibt. Nach allem, was man täglich über Gerichtsverhandlungen liest, halte
ich es für möglich, daß ein Mensch, der einen auf der Straße aufgelesenen
Hosenknopf nicht bei der Polizei abgiebt, wegen Fnndunterschlagung verklagt
wird. Christus käme, wenn er heute unter uns wandelte, unfehlbar nicht allein
wegen demagogischer Umtriebe, Beamten- und Majestätsbeleidigung ins Ge¬
fängnis, sondern noch dazu wegen wiederholten Diebstahls ins Zuchthaus;
hatten doch er und seine Jünger die Gewohnheit, sich mit den Körnern ab-
gerißner Ähre" zu sättigen. Auch das Hufeisen in Goethes Legende würde
ihm nicht durchgehen, zumal da der Erlös von drei Pfennigen den strafbaren
Eigennutz deutlich erweist. Das Mückeuseiheu und Kameeleverschlucken -- um
nicht ein noch gröberes Wort aus dem Volksmnnde anzuführen -- beherrscht
eben die amtliche Moral der modernen Welt, und der evangelischen Moral
steht sie so schroff gegenüber, daß jede der beiden im Spiegel der andern als
Jmmomlität erscheint.

Ich für meinen Teil halte es mit der uralten natürlichen Moral und
den Alltrieben und Abschreckungen, mit denen sie Christus gestärkt hat, und
vermag in allen neuen Erfindungen auf diesem Gebiete weiter nichts zu sehen,
als Versuche, den Menschen im allgemeinen oder ein Volk oder eine bevorzugte
Klasse oder einzelne bevorzugte Personen von den unveränderlichen Pflichten
der einen unveränderlichen Moral zu entbinden. Wo eine solche Absicht nicht
angenommen werden kann, wie bei großen, edeln Denkern, da entspringt der
Irrtum wohl meistens aus unvollständiger Beobachtung der Thatsachen. So
z. B. wenn Elater am Schlüsse seines Werkes über die mittelalterliche Welt¬
anschauung "die organische Einfügung des Einzelwesens in die Gesamtheit" als
sittliches Grundgesetz findet und dann fortfährt: "Der innere Widerstreit der Seele
beruht demnach nicht mehr auf dem Gegensatze des Übersinnlichen und Sinnlichen,
sondern auf dem der gesamtheitlichen und Einzelinteressen. Da nun in dem Staat
sich die Zwecke der Gesamtheit verkörpern, so wurde, wie einst im Altertume, der


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Q?risee>kenn, Staat und Kirche

verstehe» es, sich auf feinere Weise zu bereichern. Sehr vieles ist öffentlich
bekannt, viel andres, was man weiß, kann man nicht öffentlich sagen, ohne
sich selbst der Gefahr des Gefängnisses auszusetzen. Daß in Italien die
Herren, die an der Quelle sitzen, das Schöpfen gründlich versteh», wird
vielfach versichert. In Frankreich sollen Minister und Deputirte nicht viel
mehr^ sein, als Agenten des Hanfes Rothschild. In Nordamerika endlich, dem
fortgeschrittensten und modernsten aller modernen Gemeinwesen, werden die
Mitglieder der städtischen und Staatsbehörden täglich in Zeitungen Spitz¬
buben und Schurken geschimpft, ohne Einspruch dagegen zu erheben. Nu߬
land, das klassische Land der amtlichen Spitzbüberei, kann gegen den Professor
nicht angeführt werden, weil es weder ein europäisches noch ein modernes
Land ist. Der Schein überzarter Ehrlichkeit entsteht eben nur dadurch, daß
kein noch so geringfügiger Diebstahl, den arme Teufel begehen, ungestraft
bleibt. Nach allem, was man täglich über Gerichtsverhandlungen liest, halte
ich es für möglich, daß ein Mensch, der einen auf der Straße aufgelesenen
Hosenknopf nicht bei der Polizei abgiebt, wegen Fnndunterschlagung verklagt
wird. Christus käme, wenn er heute unter uns wandelte, unfehlbar nicht allein
wegen demagogischer Umtriebe, Beamten- und Majestätsbeleidigung ins Ge¬
fängnis, sondern noch dazu wegen wiederholten Diebstahls ins Zuchthaus;
hatten doch er und seine Jünger die Gewohnheit, sich mit den Körnern ab-
gerißner Ähre» zu sättigen. Auch das Hufeisen in Goethes Legende würde
ihm nicht durchgehen, zumal da der Erlös von drei Pfennigen den strafbaren
Eigennutz deutlich erweist. Das Mückeuseiheu und Kameeleverschlucken — um
nicht ein noch gröberes Wort aus dem Volksmnnde anzuführen — beherrscht
eben die amtliche Moral der modernen Welt, und der evangelischen Moral
steht sie so schroff gegenüber, daß jede der beiden im Spiegel der andern als
Jmmomlität erscheint.

Ich für meinen Teil halte es mit der uralten natürlichen Moral und
den Alltrieben und Abschreckungen, mit denen sie Christus gestärkt hat, und
vermag in allen neuen Erfindungen auf diesem Gebiete weiter nichts zu sehen,
als Versuche, den Menschen im allgemeinen oder ein Volk oder eine bevorzugte
Klasse oder einzelne bevorzugte Personen von den unveränderlichen Pflichten
der einen unveränderlichen Moral zu entbinden. Wo eine solche Absicht nicht
angenommen werden kann, wie bei großen, edeln Denkern, da entspringt der
Irrtum wohl meistens aus unvollständiger Beobachtung der Thatsachen. So
z. B. wenn Elater am Schlüsse seines Werkes über die mittelalterliche Welt¬
anschauung „die organische Einfügung des Einzelwesens in die Gesamtheit" als
sittliches Grundgesetz findet und dann fortfährt: „Der innere Widerstreit der Seele
beruht demnach nicht mehr auf dem Gegensatze des Übersinnlichen und Sinnlichen,
sondern auf dem der gesamtheitlichen und Einzelinteressen. Da nun in dem Staat
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/444>, abgerufen am 23.07.2024.