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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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durch Unterricht eine fehlende Geistesanlage eingetrichtert werden kann. Aber
Talente wie Charakteranlagen bedürfen gewisser Bedingungen zur Entfaltung
und der Richtung auf das Gute. Diese Bedingungen dem jungen Menschen
darzubieten und ihn in die rechte Richtung hineinzulenken, ist Aufgabe des
Unterrichts und der Erziehung. Wer ans dem Zögling, auch in der besten
Absicht, etwas andres machen null, als wozu ihn die Natur bestimmt hat, der
verdirbt ihn ganz ebenso, wie es absichtliche Verziehuug und eine schlechte Um¬
gebung gewöhnlich thun, und der Charakter entwickelt sich dann unter statt
über dem Nullpunkte. Ja die ursprüngliche Kraft des Charakters ist vielfach
so stark, daß sie sich nicht einmal in der Richtung beirren läßt, und daß nur
ebenso oft aus verdorbner Umgebung tüchtige Menschen hervorgehen, wie die
Opfer einer vermeintlichen Mustererziehung verkommen sehen. Die Verführung
erweist sich am erfolgreichsten an solchen, deren Wille frühzeitig gebrochen und
an unbedingten Gehorfnm gewöhnt worden ist; wer in der Jugend nicht allein
hat laufen lernen, kann des Gängelbandes zeitlebens nicht entbehren.

An alledem hat nun das Christentum nichts geändert. Was es der
Sittlichkeit gewährt, das sind, wie schon bemerkt wurde, neue kräftige Antriebe
und Abschreckungsmittel, und in der Kirche eine Macht, die diese Antriebe
lebendig erhält, gleichviel ob Staaten da sind, die ihr dabei helfen, oder ob
die überlegne Klugheit eines hochgebildeten Jahrhunderts den Unterschied von
Gut und Böse hinwegdispntirt, oder ob die Staatsordnung, von heimischen
oder ausländischen Barbaren umgeworfen, in Trümmern liegt. Diese Wirk¬
samkeit liegt vor aller Augen offen da. Einem großen Teil der Gebildeten
unsrer Zeit aber verborgen bleibt ein andres: daß das fleischgcwvrdne Wort
die höchste und feinste Blüte zur Entfaltung gebracht hat, deren Keim in der
sittlichen Natur des Menschen schlummert. Glaube, Liebe und Hoffnung hat
Paulus die drei Blätter dieses dem Himmel zugewandten Blütenkelchs ge¬
nannt, und unter dem Namen der drei göttlichen Tugenden hat sie die Kirche
in ihren Lehrbüchern über die sittlichen Tugenden der Heiden als deren Krone
gesetzt. Nicht als ob sie den edelsten der Heiden ganz unbekannt gewesen
wären. Platos himmlischer Eros ist von der christlichen Liebe zu Gott, dem
wesenhaft Guten, nnr dadurch verschieden, daß er, statt eine Weltmacht zu
werden, der Genius eines kleinen stillen Kreises geblieben ist, und daß er des
Anblicks der schönen Gestalt bedürfte, um zum Leben zu erwachen, während
sich die christliche Liebe auch an Wesen entzündet, an denen, wie am Knechte
Gottes im Stande seiner Erniedrigung, nieder Gestalt noch Schönheit zu
schauen ist. Freilich war es dein göttlichen Plato vergönnt, und wohl nur
ihm allein, diese höchste seinen Volksgenosse" erreichbare Stufe noch zu über¬
fliegen, wie sein prophetisches Wort vom gegeißelten, gefolterten, geblendeten
und gekreuzigten Gerechten beweist. (v<z lispuMv-r II, 5). Und ohne Glaube
und Hoffnung könnte auch jener Eros, obwohl an der sinnlichen Schönheit


durch Unterricht eine fehlende Geistesanlage eingetrichtert werden kann. Aber
Talente wie Charakteranlagen bedürfen gewisser Bedingungen zur Entfaltung
und der Richtung auf das Gute. Diese Bedingungen dem jungen Menschen
darzubieten und ihn in die rechte Richtung hineinzulenken, ist Aufgabe des
Unterrichts und der Erziehung. Wer ans dem Zögling, auch in der besten
Absicht, etwas andres machen null, als wozu ihn die Natur bestimmt hat, der
verdirbt ihn ganz ebenso, wie es absichtliche Verziehuug und eine schlechte Um¬
gebung gewöhnlich thun, und der Charakter entwickelt sich dann unter statt
über dem Nullpunkte. Ja die ursprüngliche Kraft des Charakters ist vielfach
so stark, daß sie sich nicht einmal in der Richtung beirren läßt, und daß nur
ebenso oft aus verdorbner Umgebung tüchtige Menschen hervorgehen, wie die
Opfer einer vermeintlichen Mustererziehung verkommen sehen. Die Verführung
erweist sich am erfolgreichsten an solchen, deren Wille frühzeitig gebrochen und
an unbedingten Gehorfnm gewöhnt worden ist; wer in der Jugend nicht allein
hat laufen lernen, kann des Gängelbandes zeitlebens nicht entbehren.

An alledem hat nun das Christentum nichts geändert. Was es der
Sittlichkeit gewährt, das sind, wie schon bemerkt wurde, neue kräftige Antriebe
und Abschreckungsmittel, und in der Kirche eine Macht, die diese Antriebe
lebendig erhält, gleichviel ob Staaten da sind, die ihr dabei helfen, oder ob
die überlegne Klugheit eines hochgebildeten Jahrhunderts den Unterschied von
Gut und Böse hinwegdispntirt, oder ob die Staatsordnung, von heimischen
oder ausländischen Barbaren umgeworfen, in Trümmern liegt. Diese Wirk¬
samkeit liegt vor aller Augen offen da. Einem großen Teil der Gebildeten
unsrer Zeit aber verborgen bleibt ein andres: daß das fleischgcwvrdne Wort
die höchste und feinste Blüte zur Entfaltung gebracht hat, deren Keim in der
sittlichen Natur des Menschen schlummert. Glaube, Liebe und Hoffnung hat
Paulus die drei Blätter dieses dem Himmel zugewandten Blütenkelchs ge¬
nannt, und unter dem Namen der drei göttlichen Tugenden hat sie die Kirche
in ihren Lehrbüchern über die sittlichen Tugenden der Heiden als deren Krone
gesetzt. Nicht als ob sie den edelsten der Heiden ganz unbekannt gewesen
wären. Platos himmlischer Eros ist von der christlichen Liebe zu Gott, dem
wesenhaft Guten, nnr dadurch verschieden, daß er, statt eine Weltmacht zu
werden, der Genius eines kleinen stillen Kreises geblieben ist, und daß er des
Anblicks der schönen Gestalt bedürfte, um zum Leben zu erwachen, während
sich die christliche Liebe auch an Wesen entzündet, an denen, wie am Knechte
Gottes im Stande seiner Erniedrigung, nieder Gestalt noch Schönheit zu
schauen ist. Freilich war es dein göttlichen Plato vergönnt, und wohl nur
ihm allein, diese höchste seinen Volksgenosse» erreichbare Stufe noch zu über¬
fliegen, wie sein prophetisches Wort vom gegeißelten, gefolterten, geblendeten
und gekreuzigten Gerechten beweist. (v<z lispuMv-r II, 5). Und ohne Glaube
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/440>, abgerufen am 23.07.2024.