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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit z" Christentum, Staat und Kirche

hingebende, der in kluger Selbstbeherrschung zurückhaltende, der reine und
zarte, der rechtschaffne und biedre Charakter. Diesen gegenüber eine Gruppe
schlechter: der gedankenlose Faselhans, der Leichtsinnige, der Genußsüchtige,
der Faule, der Geizhals, der Habsüchtige, der kalte Egoist, der Verschlagne,
der Heuchler, der Tückische, der Biehmensch, der jedem Antrieb einer leiblichen
Begierde augenblicklich nachgiebt, der Lump, der Bösewicht, der Teufel in
Menschengestalt. Zwischen beiden Gruppen stehen der Schwächling und der
Willenlose, die Null, aber anch der Schalk, der liebenswürdige Schwerenöter
und andre unsichre Kantonisten,- die auf der Grenzlinie balanciren, gleich
bereit, emporzusteigen und in die Tiefe zu springen. Einige dieser^verschiednen
Charaktere schließen einander aus, andre sind unter sich verwandt und ver¬
schmelzen leicht in einer Person; alle hängen mehr oder weniger vom
Temperament ab. Aus dieser Verzweigung der Charaktere folgt, nebenbei
bemerkt, daß die Menschen nicht nach dem Grade ihrer Sittlichkeit in eine
Reihe gestellt werden können, die wie ein Thermometer vom Nullpunkte in
der Mitte in gerader Linie ans- und abwärts stiege. Vielmehr würde, wenn
wir uns die Menschen nach ihrer sittlichen Beschaffenheit zusammengestellt
dächten, das ganze Geschlecht dem geistigen Ange ungefähr nnter dem Bilde
eines Baumes mit Laub- und Wurzelkrvne erscheinen. So wenig Sinn die
Frage hätte, ob das Pferd über oder nnter der Ameise stehe -- nnr Tiere
derselben Klasse kann man mit Beziehung ans ihre größere oder geringere
Vollkommenheit miteinander vergleichen --, so thöricht wäre es, den Helden
über oder nnter das unschuldige Kind stellen zu wollen. Das alles ist nun
in der christlichen Welt nicht anders wie draußen. Ja ein edler, gemütstiefer
und gedankenreicher Neformirter, Henri Frvd";rie Nmiel, sagt in seinem Tage-
buche ("Christliche Welt", Jahrgang 18'U, Ur. 41): "Der ursprüngliche
Charakter kann noch so sehr von äußern Anschwemmungen der Kultur und
Selbsterrungenschaften verdeckt sein, er bricht doch immer wieder durch, wenn
die Jahre das Nebensächliche und Zufällige verbraucht haben. Nur große
moralische Krisen bilden davon eine Allsnahme. Sie können die Seele lun¬
gestalten, aber es ist nicht ans sie zu rechnen. Sie sind möglich, aber nicht
wahrscheinlich." Und, fügen wir hinzu, durch keine Erfahrung nachgewiesen.
Bekehrungen, wie die des Paulus und des Augustinus, bedeuten keine Ände¬
rung des Charakters. "Mail muß sich zu Freunden Menschen wählen, fährt
Amiet fort, deren gute Eigenschaften etwas Angebornes sind, deren Tugenden
im Temperament wurzeln. Freundschaft auf altgewohnte Vorzüge, auf schein¬
bare Tugenden gründen, heißt auf angeschwemmtes Land bauen. Man riskirt
dabei zu viel." Schopenhauer huldigte bekanntlich derselben Ansicht und zog
daraus den Schluß, daß die Erziehung am Menschen nichts zu ändern ver¬
möge, und daß alle Erziehuugserfolge auf Einbildung beruhten. In der That
vermag die Erziehung so wenig den ursprünglichen Charakter zu ändern, als


Das Verhältnis der Sittlichkeit z» Christentum, Staat und Kirche

hingebende, der in kluger Selbstbeherrschung zurückhaltende, der reine und
zarte, der rechtschaffne und biedre Charakter. Diesen gegenüber eine Gruppe
schlechter: der gedankenlose Faselhans, der Leichtsinnige, der Genußsüchtige,
der Faule, der Geizhals, der Habsüchtige, der kalte Egoist, der Verschlagne,
der Heuchler, der Tückische, der Biehmensch, der jedem Antrieb einer leiblichen
Begierde augenblicklich nachgiebt, der Lump, der Bösewicht, der Teufel in
Menschengestalt. Zwischen beiden Gruppen stehen der Schwächling und der
Willenlose, die Null, aber anch der Schalk, der liebenswürdige Schwerenöter
und andre unsichre Kantonisten,- die auf der Grenzlinie balanciren, gleich
bereit, emporzusteigen und in die Tiefe zu springen. Einige dieser^verschiednen
Charaktere schließen einander aus, andre sind unter sich verwandt und ver¬
schmelzen leicht in einer Person; alle hängen mehr oder weniger vom
Temperament ab. Aus dieser Verzweigung der Charaktere folgt, nebenbei
bemerkt, daß die Menschen nicht nach dem Grade ihrer Sittlichkeit in eine
Reihe gestellt werden können, die wie ein Thermometer vom Nullpunkte in
der Mitte in gerader Linie ans- und abwärts stiege. Vielmehr würde, wenn
wir uns die Menschen nach ihrer sittlichen Beschaffenheit zusammengestellt
dächten, das ganze Geschlecht dem geistigen Ange ungefähr nnter dem Bilde
eines Baumes mit Laub- und Wurzelkrvne erscheinen. So wenig Sinn die
Frage hätte, ob das Pferd über oder nnter der Ameise stehe — nnr Tiere
derselben Klasse kann man mit Beziehung ans ihre größere oder geringere
Vollkommenheit miteinander vergleichen —, so thöricht wäre es, den Helden
über oder nnter das unschuldige Kind stellen zu wollen. Das alles ist nun
in der christlichen Welt nicht anders wie draußen. Ja ein edler, gemütstiefer
und gedankenreicher Neformirter, Henri Frvd«;rie Nmiel, sagt in seinem Tage-
buche („Christliche Welt", Jahrgang 18'U, Ur. 41): „Der ursprüngliche
Charakter kann noch so sehr von äußern Anschwemmungen der Kultur und
Selbsterrungenschaften verdeckt sein, er bricht doch immer wieder durch, wenn
die Jahre das Nebensächliche und Zufällige verbraucht haben. Nur große
moralische Krisen bilden davon eine Allsnahme. Sie können die Seele lun¬
gestalten, aber es ist nicht ans sie zu rechnen. Sie sind möglich, aber nicht
wahrscheinlich." Und, fügen wir hinzu, durch keine Erfahrung nachgewiesen.
Bekehrungen, wie die des Paulus und des Augustinus, bedeuten keine Ände¬
rung des Charakters. „Mail muß sich zu Freunden Menschen wählen, fährt
Amiet fort, deren gute Eigenschaften etwas Angebornes sind, deren Tugenden
im Temperament wurzeln. Freundschaft auf altgewohnte Vorzüge, auf schein¬
bare Tugenden gründen, heißt auf angeschwemmtes Land bauen. Man riskirt
dabei zu viel." Schopenhauer huldigte bekanntlich derselben Ansicht und zog
daraus den Schluß, daß die Erziehung am Menschen nichts zu ändern ver¬
möge, und daß alle Erziehuugserfolge auf Einbildung beruhten. In der That
vermag die Erziehung so wenig den ursprünglichen Charakter zu ändern, als


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[0439] Das Verhältnis der Sittlichkeit z» Christentum, Staat und Kirche hingebende, der in kluger Selbstbeherrschung zurückhaltende, der reine und zarte, der rechtschaffne und biedre Charakter. Diesen gegenüber eine Gruppe schlechter: der gedankenlose Faselhans, der Leichtsinnige, der Genußsüchtige, der Faule, der Geizhals, der Habsüchtige, der kalte Egoist, der Verschlagne, der Heuchler, der Tückische, der Biehmensch, der jedem Antrieb einer leiblichen Begierde augenblicklich nachgiebt, der Lump, der Bösewicht, der Teufel in Menschengestalt. Zwischen beiden Gruppen stehen der Schwächling und der Willenlose, die Null, aber anch der Schalk, der liebenswürdige Schwerenöter und andre unsichre Kantonisten,- die auf der Grenzlinie balanciren, gleich bereit, emporzusteigen und in die Tiefe zu springen. Einige dieser^verschiednen Charaktere schließen einander aus, andre sind unter sich verwandt und ver¬ schmelzen leicht in einer Person; alle hängen mehr oder weniger vom Temperament ab. Aus dieser Verzweigung der Charaktere folgt, nebenbei bemerkt, daß die Menschen nicht nach dem Grade ihrer Sittlichkeit in eine Reihe gestellt werden können, die wie ein Thermometer vom Nullpunkte in der Mitte in gerader Linie ans- und abwärts stiege. Vielmehr würde, wenn wir uns die Menschen nach ihrer sittlichen Beschaffenheit zusammengestellt dächten, das ganze Geschlecht dem geistigen Ange ungefähr nnter dem Bilde eines Baumes mit Laub- und Wurzelkrvne erscheinen. So wenig Sinn die Frage hätte, ob das Pferd über oder nnter der Ameise stehe — nnr Tiere derselben Klasse kann man mit Beziehung ans ihre größere oder geringere Vollkommenheit miteinander vergleichen —, so thöricht wäre es, den Helden über oder nnter das unschuldige Kind stellen zu wollen. Das alles ist nun in der christlichen Welt nicht anders wie draußen. Ja ein edler, gemütstiefer und gedankenreicher Neformirter, Henri Frvd«;rie Nmiel, sagt in seinem Tage- buche („Christliche Welt", Jahrgang 18'U, Ur. 41): „Der ursprüngliche Charakter kann noch so sehr von äußern Anschwemmungen der Kultur und Selbsterrungenschaften verdeckt sein, er bricht doch immer wieder durch, wenn die Jahre das Nebensächliche und Zufällige verbraucht haben. Nur große moralische Krisen bilden davon eine Allsnahme. Sie können die Seele lun¬ gestalten, aber es ist nicht ans sie zu rechnen. Sie sind möglich, aber nicht wahrscheinlich." Und, fügen wir hinzu, durch keine Erfahrung nachgewiesen. Bekehrungen, wie die des Paulus und des Augustinus, bedeuten keine Ände¬ rung des Charakters. „Mail muß sich zu Freunden Menschen wählen, fährt Amiet fort, deren gute Eigenschaften etwas Angebornes sind, deren Tugenden im Temperament wurzeln. Freundschaft auf altgewohnte Vorzüge, auf schein¬ bare Tugenden gründen, heißt auf angeschwemmtes Land bauen. Man riskirt dabei zu viel." Schopenhauer huldigte bekanntlich derselben Ansicht und zog daraus den Schluß, daß die Erziehung am Menschen nichts zu ändern ver¬ möge, und daß alle Erziehuugserfolge auf Einbildung beruhten. In der That vermag die Erziehung so wenig den ursprünglichen Charakter zu ändern, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/439>, abgerufen am 23.07.2024.