Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gerichtssaal und Presse

der Waffe tilgte und von ihr sofort Gebrauch machte, ehe er noch angegriffen
worden war, bedenklich, daß die Frau, die doch wußte, was vorgehen sollte,
geweckt werden mußte, um von einem Dienstboten zu hören, es sei ein Schuß
gefallen, bedenklich, daß sie sofort die Vermutung äußerte, ihr Mann werde
selbst anf sich geschossen haben, und daß sie die Dienstmädchen schon vorher
von der Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes des Mannes unterhalten hatte.
Diese Dinge wurden vom Staatsanwalt und vom Vorsitzenden rücksichtslos
ausgebeutet, doch daran dachte niemand, daß beide Angeklagten unzurechnungs¬
fähig sein könnten! Dem kriminalistischen Anthropologen ist das ganz klar.
Den Bruder hat der Gefängnisarzt als hysterisch bezeichnet, und die Schwester,
weshalb soll nicht anch sie "eine pathologische Natur" sein? Diese Recht-
fertigung ist bereits so oft benutzt worden, daß sie ein wenig abgenutzt ist,
aber der Begründung muß man Originalität zugestehen. "Ihre stets marmorne
Blässe, die merkwürdig passive Haltung . . ., der romantische Plan der Brief-
entwendnng", alles zeugt dafür, daß "sie keine Ahnung von der Tragweite
ihres furchtbaren Abenteuers hatte." Leider sagt uns der Verfasser nicht, was
mit Verbrechern geschehen solle, die "die Tragweite" ihres Verbrechens nicht
erwogen haben. Sollen sie alle in Jrrenhäuser gebracht werden? Er begnügt
sich, zu erklären, daß "den Menschenfreund und den Seelenforscher das Familien-
drama im Innersten ergreifen muß", und daß notwendigerweise die Geschwornen
durch vorausgehende Erörterung wichtiger Rechtsfälle im Publikum und in
der Presse gegen den Einfluß "des Formalismus des gelehrten Richters" ge¬
schützt werdeu müßten. Die Verteidiger genügen dazu nicht, sie werden selbst
von den Gerichtspräsidenten vergewaltigt.

Wir fragen: warum so schüchtern? Wäre es nicht das einfachste, jeden
Rechtsfall durch einen Feuilletonisten einer freien Volksversammlung vortrage"
und diese dnrch Akklamation abstimmen zu lassen? Da könnten jn alle Ge¬
richte abgeschafft werden.

Die vom Verfasser kritisirte Erklärung der Begriffe Mord- vorsätzliche
Tötung mit Überlegung, und Totschlag: vorsätzliche Tötung ohne Überlegung
im Deutschen Strafgesetzbuch ist gewiß kein Meisterstück und begreiflicherweise
ein gelegner Vorwurf für die Jnterpretativnslust., Wir glauben aber, daß
im gemeinen Leben der Satz weniger Schwierigkeiten bereite. Daß sich ein
Einbrecher darauf vorbereiten kann, jemand, der ihm in den Weg tritt, zu
töten, daß es aber etwas andres ist, wenn einer mit der Absicht, einen be¬
stimmten Menschen umzubringen, auf dem Thatort erscheint, das begreift sich
leicht. Nur für "die schlichten Geschwornen" soll der Unterschied zu fein
sein ^ die Geschwornen, "die diesmal großenteils den gebildeten Ständen
angehörten," werden nun im Handumdrehen zu Menschen ohne eignes Urteil,
unfähig, eine Stelle des Gesetzes zu verstehen, zu Spielzeugen in der Hand
des Staatsanwalts und des Richters. Für die Schwurgerichte ist stets geltend


Gerichtssaal und Presse

der Waffe tilgte und von ihr sofort Gebrauch machte, ehe er noch angegriffen
worden war, bedenklich, daß die Frau, die doch wußte, was vorgehen sollte,
geweckt werden mußte, um von einem Dienstboten zu hören, es sei ein Schuß
gefallen, bedenklich, daß sie sofort die Vermutung äußerte, ihr Mann werde
selbst anf sich geschossen haben, und daß sie die Dienstmädchen schon vorher
von der Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes des Mannes unterhalten hatte.
Diese Dinge wurden vom Staatsanwalt und vom Vorsitzenden rücksichtslos
ausgebeutet, doch daran dachte niemand, daß beide Angeklagten unzurechnungs¬
fähig sein könnten! Dem kriminalistischen Anthropologen ist das ganz klar.
Den Bruder hat der Gefängnisarzt als hysterisch bezeichnet, und die Schwester,
weshalb soll nicht anch sie „eine pathologische Natur" sein? Diese Recht-
fertigung ist bereits so oft benutzt worden, daß sie ein wenig abgenutzt ist,
aber der Begründung muß man Originalität zugestehen. „Ihre stets marmorne
Blässe, die merkwürdig passive Haltung . . ., der romantische Plan der Brief-
entwendnng", alles zeugt dafür, daß „sie keine Ahnung von der Tragweite
ihres furchtbaren Abenteuers hatte." Leider sagt uns der Verfasser nicht, was
mit Verbrechern geschehen solle, die „die Tragweite" ihres Verbrechens nicht
erwogen haben. Sollen sie alle in Jrrenhäuser gebracht werden? Er begnügt
sich, zu erklären, daß „den Menschenfreund und den Seelenforscher das Familien-
drama im Innersten ergreifen muß", und daß notwendigerweise die Geschwornen
durch vorausgehende Erörterung wichtiger Rechtsfälle im Publikum und in
der Presse gegen den Einfluß „des Formalismus des gelehrten Richters" ge¬
schützt werdeu müßten. Die Verteidiger genügen dazu nicht, sie werden selbst
von den Gerichtspräsidenten vergewaltigt.

Wir fragen: warum so schüchtern? Wäre es nicht das einfachste, jeden
Rechtsfall durch einen Feuilletonisten einer freien Volksversammlung vortrage»
und diese dnrch Akklamation abstimmen zu lassen? Da könnten jn alle Ge¬
richte abgeschafft werden.

Die vom Verfasser kritisirte Erklärung der Begriffe Mord- vorsätzliche
Tötung mit Überlegung, und Totschlag: vorsätzliche Tötung ohne Überlegung
im Deutschen Strafgesetzbuch ist gewiß kein Meisterstück und begreiflicherweise
ein gelegner Vorwurf für die Jnterpretativnslust., Wir glauben aber, daß
im gemeinen Leben der Satz weniger Schwierigkeiten bereite. Daß sich ein
Einbrecher darauf vorbereiten kann, jemand, der ihm in den Weg tritt, zu
töten, daß es aber etwas andres ist, wenn einer mit der Absicht, einen be¬
stimmten Menschen umzubringen, auf dem Thatort erscheint, das begreift sich
leicht. Nur für „die schlichten Geschwornen" soll der Unterschied zu fein
sein ^ die Geschwornen, „die diesmal großenteils den gebildeten Ständen
angehörten," werden nun im Handumdrehen zu Menschen ohne eignes Urteil,
unfähig, eine Stelle des Gesetzes zu verstehen, zu Spielzeugen in der Hand
des Staatsanwalts und des Richters. Für die Schwurgerichte ist stets geltend


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0428" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211596"/>
          <fw type="header" place="top"> Gerichtssaal und Presse</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1282" prev="#ID_1281"> der Waffe tilgte und von ihr sofort Gebrauch machte, ehe er noch angegriffen<lb/>
worden war, bedenklich, daß die Frau, die doch wußte, was vorgehen sollte,<lb/>
geweckt werden mußte, um von einem Dienstboten zu hören, es sei ein Schuß<lb/>
gefallen, bedenklich, daß sie sofort die Vermutung äußerte, ihr Mann werde<lb/>
selbst anf sich geschossen haben, und daß sie die Dienstmädchen schon vorher<lb/>
von der Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes des Mannes unterhalten hatte.<lb/>
Diese Dinge wurden vom Staatsanwalt und vom Vorsitzenden rücksichtslos<lb/>
ausgebeutet, doch daran dachte niemand, daß beide Angeklagten unzurechnungs¬<lb/>
fähig sein könnten! Dem kriminalistischen Anthropologen ist das ganz klar.<lb/>
Den Bruder hat der Gefängnisarzt als hysterisch bezeichnet, und die Schwester,<lb/>
weshalb soll nicht anch sie &#x201E;eine pathologische Natur" sein? Diese Recht-<lb/>
fertigung ist bereits so oft benutzt worden, daß sie ein wenig abgenutzt ist,<lb/>
aber der Begründung muß man Originalität zugestehen. &#x201E;Ihre stets marmorne<lb/>
Blässe, die merkwürdig passive Haltung . . ., der romantische Plan der Brief-<lb/>
entwendnng", alles zeugt dafür, daß &#x201E;sie keine Ahnung von der Tragweite<lb/>
ihres furchtbaren Abenteuers hatte." Leider sagt uns der Verfasser nicht, was<lb/>
mit Verbrechern geschehen solle, die &#x201E;die Tragweite" ihres Verbrechens nicht<lb/>
erwogen haben. Sollen sie alle in Jrrenhäuser gebracht werden? Er begnügt<lb/>
sich, zu erklären, daß &#x201E;den Menschenfreund und den Seelenforscher das Familien-<lb/>
drama im Innersten ergreifen muß", und daß notwendigerweise die Geschwornen<lb/>
durch vorausgehende Erörterung wichtiger Rechtsfälle im Publikum und in<lb/>
der Presse gegen den Einfluß &#x201E;des Formalismus des gelehrten Richters" ge¬<lb/>
schützt werdeu müßten. Die Verteidiger genügen dazu nicht, sie werden selbst<lb/>
von den Gerichtspräsidenten vergewaltigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1283"> Wir fragen: warum so schüchtern? Wäre es nicht das einfachste, jeden<lb/>
Rechtsfall durch einen Feuilletonisten einer freien Volksversammlung vortrage»<lb/>
und diese dnrch Akklamation abstimmen zu lassen? Da könnten jn alle Ge¬<lb/>
richte abgeschafft werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1284" next="#ID_1285"> Die vom Verfasser kritisirte Erklärung der Begriffe Mord- vorsätzliche<lb/>
Tötung mit Überlegung, und Totschlag: vorsätzliche Tötung ohne Überlegung<lb/>
im Deutschen Strafgesetzbuch ist gewiß kein Meisterstück und begreiflicherweise<lb/>
ein gelegner Vorwurf für die Jnterpretativnslust., Wir glauben aber, daß<lb/>
im gemeinen Leben der Satz weniger Schwierigkeiten bereite. Daß sich ein<lb/>
Einbrecher darauf vorbereiten kann, jemand, der ihm in den Weg tritt, zu<lb/>
töten, daß es aber etwas andres ist, wenn einer mit der Absicht, einen be¬<lb/>
stimmten Menschen umzubringen, auf dem Thatort erscheint, das begreift sich<lb/>
leicht. Nur für &#x201E;die schlichten Geschwornen" soll der Unterschied zu fein<lb/>
sein ^ die Geschwornen, &#x201E;die diesmal großenteils den gebildeten Ständen<lb/>
angehörten," werden nun im Handumdrehen zu Menschen ohne eignes Urteil,<lb/>
unfähig, eine Stelle des Gesetzes zu verstehen, zu Spielzeugen in der Hand<lb/>
des Staatsanwalts und des Richters. Für die Schwurgerichte ist stets geltend</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0428] Gerichtssaal und Presse der Waffe tilgte und von ihr sofort Gebrauch machte, ehe er noch angegriffen worden war, bedenklich, daß die Frau, die doch wußte, was vorgehen sollte, geweckt werden mußte, um von einem Dienstboten zu hören, es sei ein Schuß gefallen, bedenklich, daß sie sofort die Vermutung äußerte, ihr Mann werde selbst anf sich geschossen haben, und daß sie die Dienstmädchen schon vorher von der Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes des Mannes unterhalten hatte. Diese Dinge wurden vom Staatsanwalt und vom Vorsitzenden rücksichtslos ausgebeutet, doch daran dachte niemand, daß beide Angeklagten unzurechnungs¬ fähig sein könnten! Dem kriminalistischen Anthropologen ist das ganz klar. Den Bruder hat der Gefängnisarzt als hysterisch bezeichnet, und die Schwester, weshalb soll nicht anch sie „eine pathologische Natur" sein? Diese Recht- fertigung ist bereits so oft benutzt worden, daß sie ein wenig abgenutzt ist, aber der Begründung muß man Originalität zugestehen. „Ihre stets marmorne Blässe, die merkwürdig passive Haltung . . ., der romantische Plan der Brief- entwendnng", alles zeugt dafür, daß „sie keine Ahnung von der Tragweite ihres furchtbaren Abenteuers hatte." Leider sagt uns der Verfasser nicht, was mit Verbrechern geschehen solle, die „die Tragweite" ihres Verbrechens nicht erwogen haben. Sollen sie alle in Jrrenhäuser gebracht werden? Er begnügt sich, zu erklären, daß „den Menschenfreund und den Seelenforscher das Familien- drama im Innersten ergreifen muß", und daß notwendigerweise die Geschwornen durch vorausgehende Erörterung wichtiger Rechtsfälle im Publikum und in der Presse gegen den Einfluß „des Formalismus des gelehrten Richters" ge¬ schützt werdeu müßten. Die Verteidiger genügen dazu nicht, sie werden selbst von den Gerichtspräsidenten vergewaltigt. Wir fragen: warum so schüchtern? Wäre es nicht das einfachste, jeden Rechtsfall durch einen Feuilletonisten einer freien Volksversammlung vortrage» und diese dnrch Akklamation abstimmen zu lassen? Da könnten jn alle Ge¬ richte abgeschafft werden. Die vom Verfasser kritisirte Erklärung der Begriffe Mord- vorsätzliche Tötung mit Überlegung, und Totschlag: vorsätzliche Tötung ohne Überlegung im Deutschen Strafgesetzbuch ist gewiß kein Meisterstück und begreiflicherweise ein gelegner Vorwurf für die Jnterpretativnslust., Wir glauben aber, daß im gemeinen Leben der Satz weniger Schwierigkeiten bereite. Daß sich ein Einbrecher darauf vorbereiten kann, jemand, der ihm in den Weg tritt, zu töten, daß es aber etwas andres ist, wenn einer mit der Absicht, einen be¬ stimmten Menschen umzubringen, auf dem Thatort erscheint, das begreift sich leicht. Nur für „die schlichten Geschwornen" soll der Unterschied zu fein sein ^ die Geschwornen, „die diesmal großenteils den gebildeten Ständen angehörten," werden nun im Handumdrehen zu Menschen ohne eignes Urteil, unfähig, eine Stelle des Gesetzes zu verstehen, zu Spielzeugen in der Hand des Staatsanwalts und des Richters. Für die Schwurgerichte ist stets geltend

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/428
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/428>, abgerufen am 23.07.2024.