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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Aus dänischer Zeit

Waren wir seit unsrer Geburt vertraut. Wir wußten, daß, wenn Tanten
kamen, wir eine Zeit lang vor Hutschachteln, Mänteln und Mützenkörben über¬
haupt nicht zu sehen waren, und als sich das schwere Boot dröhnend an die
Brücke lehnte, während diese in allen Bohlen knarrte, da streckten wir bereits
erwartungsvoll die Hände aus, um die bekannten Packenüllen in Empfang zu
nehmen.

Zwei schlanke, ältliche Damen wurden vou Ricks aus dem Boot gehoben.
Sie schwankten noch ein wenig und sahen sehr blaß aus; als wir aber nach
Hutschachteln und Tüchern griffen, kamen sie nus zuvor. Wir sollten nichts
tragen, sagten sie, das konnte uns schaden; und dann streichelten sie uns und
meinten freundlich, wir wären liebe, hübsche Kinder. Unser Erstaunen war
groß; es wuchs aber ins Grenzenlose, als die Tanten in der Kutsche durchaus
rückwärts sitzen wollten, während sie uns beschworen, doch vorwärts oder im
"Fond", wie man damals sagte, zu fahren. Wir thaten es natürlich; schon
des Spaßes wegen und um nachher den Gespielen gegenüber prahlen zu können,
daß wir Tanten hätten, die rückwärts sitzen wollten, während wir vorwärts
führen; unheimlich aber war uns doch dabei zu Mute, und wir wurden still
und nachdenklich.

Die Tanten, die uus also bescheiden gegenüber saßen und auch noch Hut¬
schachteln auf dem Schoße hielten, sprachen hin und wieder einige französische
Worte mit einander. Wir konnten nicht alles verstehen, aber doch soviel, daß
sie uns visu etöVLL nannten, und mich un xeu laicl. Erst sahen wir möglichst
gleichgiltig vor uns hin; dann stießen wir uns an, und endlich konnten wir
uns vor Lachen nicht mehr halten. Es war doch zu komisch, daß wir disv
sein sollten! Und als wir merkten, daß uus die Tanten lächelnd an¬
blickten und gar keine Miene machten uns von andern Kindern zu erzählen,
die niemals lachten, oder die plötzlich gestorben wären, weil sie in Gegenwart
ihrer Verwandten gelacht hätten, da wurden wir sehr zutraulich. Wir eröff¬
neten ein wahres Kreuzfeuer von Fragen auf die unglücklichen Damen, und als
wir nach Hause kamen, konnte ich bereits dem Stubenmädchen erzählen, daß
Tante Julie fünfzig und Tante Auguste fünfundfünfzig Jahre alt geworden
sei, daß jede vier Kleider mitgebracht hatte und daß keine von ihnen verheiratet
gewesen sei. Und der Koffer sollte morgen gleich ausgepackt werden. Der
Koffer! Der Gedanke, daß wir endlich hinter die Geheimnisse des Koffers
kommen sollten, regte uns gewaltig auf, wir sprachen unaufhörlich darüber,
was er wohl enthalten möchte, und begriffen garnicht, daß sich die Tanten
nicht mehr auf dies Ereignis freuten, und daß Tante Auguste sogar ein
trauriges Gesicht machte, als sie, verfolgt von uns, die schmale Bodentreppe
hinauf ging. Und nun endlich, endlich, öffnete sich der schwere verstaubte
Deckel, ein sonderbarer Moderduft stieg uns entgegen, und wir erblickten einen
Hause" sorgfältig zusammengelegter Kleidungsstücke.


Aus dänischer Zeit

Waren wir seit unsrer Geburt vertraut. Wir wußten, daß, wenn Tanten
kamen, wir eine Zeit lang vor Hutschachteln, Mänteln und Mützenkörben über¬
haupt nicht zu sehen waren, und als sich das schwere Boot dröhnend an die
Brücke lehnte, während diese in allen Bohlen knarrte, da streckten wir bereits
erwartungsvoll die Hände aus, um die bekannten Packenüllen in Empfang zu
nehmen.

Zwei schlanke, ältliche Damen wurden vou Ricks aus dem Boot gehoben.
Sie schwankten noch ein wenig und sahen sehr blaß aus; als wir aber nach
Hutschachteln und Tüchern griffen, kamen sie nus zuvor. Wir sollten nichts
tragen, sagten sie, das konnte uns schaden; und dann streichelten sie uns und
meinten freundlich, wir wären liebe, hübsche Kinder. Unser Erstaunen war
groß; es wuchs aber ins Grenzenlose, als die Tanten in der Kutsche durchaus
rückwärts sitzen wollten, während sie uns beschworen, doch vorwärts oder im
„Fond", wie man damals sagte, zu fahren. Wir thaten es natürlich; schon
des Spaßes wegen und um nachher den Gespielen gegenüber prahlen zu können,
daß wir Tanten hätten, die rückwärts sitzen wollten, während wir vorwärts
führen; unheimlich aber war uns doch dabei zu Mute, und wir wurden still
und nachdenklich.

Die Tanten, die uus also bescheiden gegenüber saßen und auch noch Hut¬
schachteln auf dem Schoße hielten, sprachen hin und wieder einige französische
Worte mit einander. Wir konnten nicht alles verstehen, aber doch soviel, daß
sie uns visu etöVLL nannten, und mich un xeu laicl. Erst sahen wir möglichst
gleichgiltig vor uns hin; dann stießen wir uns an, und endlich konnten wir
uns vor Lachen nicht mehr halten. Es war doch zu komisch, daß wir disv
sein sollten! Und als wir merkten, daß uus die Tanten lächelnd an¬
blickten und gar keine Miene machten uns von andern Kindern zu erzählen,
die niemals lachten, oder die plötzlich gestorben wären, weil sie in Gegenwart
ihrer Verwandten gelacht hätten, da wurden wir sehr zutraulich. Wir eröff¬
neten ein wahres Kreuzfeuer von Fragen auf die unglücklichen Damen, und als
wir nach Hause kamen, konnte ich bereits dem Stubenmädchen erzählen, daß
Tante Julie fünfzig und Tante Auguste fünfundfünfzig Jahre alt geworden
sei, daß jede vier Kleider mitgebracht hatte und daß keine von ihnen verheiratet
gewesen sei. Und der Koffer sollte morgen gleich ausgepackt werden. Der
Koffer! Der Gedanke, daß wir endlich hinter die Geheimnisse des Koffers
kommen sollten, regte uns gewaltig auf, wir sprachen unaufhörlich darüber,
was er wohl enthalten möchte, und begriffen garnicht, daß sich die Tanten
nicht mehr auf dies Ereignis freuten, und daß Tante Auguste sogar ein
trauriges Gesicht machte, als sie, verfolgt von uns, die schmale Bodentreppe
hinauf ging. Und nun endlich, endlich, öffnete sich der schwere verstaubte
Deckel, ein sonderbarer Moderduft stieg uns entgegen, und wir erblickten einen
Hause» sorgfältig zusammengelegter Kleidungsstücke.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/407>, abgerufen am 26.08.2024.