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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Albrecht Dürer

sammen, die in der Literatur jener Zeit als abhängig von der "Maß" oder
"Messung" bezeichnet werden.

Also wäre die sitzende Frau die Vertreterin der Mathematik oder Messung,
der Genius der künstlerisch-technischen Phantasie oder des messenden und werk¬
thätigen Verstandes? Ich gestehe, daß ich, wenn nicht die Inschrift Mlsneolig.
wäre, einen dieser Titel ohne Bedenken für den Kupferstich vorschlagen würde,
daß mir die Melancholie im Gegensatz zum Hieronymus, der die humanistisch¬
theologischen Fächer darstellt, diejenigen Gebiete des menschlichen Wissens und
Könnens zu veranschaulichen scheint, die mehr oder weniger mit der Mathe¬
matik und Zeichenkunst zusammenhängen: Astronomie, Erdkunde, Mechanik,
Baukunst, Zimmer- und Schreinerhandwerk, Goldschmiede- und Kupferstechkunst.
Darnach würde Dürer in den beiden Blättern des Jahres 1514 ähnliche
Gegensätze dargestellt haben, wie sie heutzutage zwischen humanistischen und
realen Fächern, Gymnasium und Realschule, Universität und Polytechnikum
bestehen. Im Grunde geht diese Trennung ja schon auf den mittelalterlichen
Unterschied von Triplum (Grammatik, Rhetorik und Dialektik) und Quadrivium
(Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) zurück. Aber daß sie in dieser
Weise einander gegenübergestellt werden, ist doch ein Kennzeichen der neuen
Zeit, wo durch allerlei Erfindungen und Entdeckungen, durch die verän¬
derte Kriegführung, durch die gesteigerte Bauthütigkeit und das Aufblühen
der Gewerbe die technische Seite der menschlichen Thätigkeit mehr in den
Vordergrund gerückt worden war. Wenn Dürer mit dem Hieronymus der
humanistischen Gelehrsamkeit seiner Zeit eine Huldigung darbringen wollte, so
beabsichtigte er mit der Melancholie die wissenschaftlichen Entdecker, die er¬
findungsreichen Techniker und Künstler zu feiern, die wie Leonardo (und teil¬
weise auch er selbst) die Grenzen der natürlichen Erkenntnis zu erweitern, die
Kräfte der Natur dem Menschen dienstbar zu macheu strebten.

Aber die Inschrift NölsnooliiZ,? Wir wollen den modernen pessimistischen
Begriff der Melancholie einmal bei Seite lassen und zunächst fragen, was man
denn in Dürers Zeit unter Melancholie verstand. Schon von Eye und Allihn haben
darauf hingewiesen, daß das Wort damals eine andre und weitere Bedeutung hatte
als heutzutage. Ursprünglich ist ja NölenooUg, ein rein medizinischer Begriff.
Die griechischen Ärzte hatten den Namen erfunden und verstanden darunter
eine Krankheit, die Schwarzgalligkeit, die sich, wenn sie nach dem Kopfe
emporsteigt, in düstern -- rein körperlichen -- Stimmungen äußert. Das
Mittelalter stand in medizinischen Dingen durchaus auf den Schultern der
Antike. Es verstand unter Melancholie im wesentlichen dasselbe, was Hippokmtes
und Galen darunter verstanden hatten. Schon im Altertum hatte man aber
mit der Melancholie vielfach den Begriff der Gedanken- oder Phantasiearbeit
verbunden. Rege Phantasiethätigkeit, lebhafte Träume schrieb man den
Melancholikern zu. Aristoteles rechnet deshalb alle Gelehrten, Künstler,


Albrecht Dürer

sammen, die in der Literatur jener Zeit als abhängig von der „Maß" oder
„Messung" bezeichnet werden.

Also wäre die sitzende Frau die Vertreterin der Mathematik oder Messung,
der Genius der künstlerisch-technischen Phantasie oder des messenden und werk¬
thätigen Verstandes? Ich gestehe, daß ich, wenn nicht die Inschrift Mlsneolig.
wäre, einen dieser Titel ohne Bedenken für den Kupferstich vorschlagen würde,
daß mir die Melancholie im Gegensatz zum Hieronymus, der die humanistisch¬
theologischen Fächer darstellt, diejenigen Gebiete des menschlichen Wissens und
Könnens zu veranschaulichen scheint, die mehr oder weniger mit der Mathe¬
matik und Zeichenkunst zusammenhängen: Astronomie, Erdkunde, Mechanik,
Baukunst, Zimmer- und Schreinerhandwerk, Goldschmiede- und Kupferstechkunst.
Darnach würde Dürer in den beiden Blättern des Jahres 1514 ähnliche
Gegensätze dargestellt haben, wie sie heutzutage zwischen humanistischen und
realen Fächern, Gymnasium und Realschule, Universität und Polytechnikum
bestehen. Im Grunde geht diese Trennung ja schon auf den mittelalterlichen
Unterschied von Triplum (Grammatik, Rhetorik und Dialektik) und Quadrivium
(Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) zurück. Aber daß sie in dieser
Weise einander gegenübergestellt werden, ist doch ein Kennzeichen der neuen
Zeit, wo durch allerlei Erfindungen und Entdeckungen, durch die verän¬
derte Kriegführung, durch die gesteigerte Bauthütigkeit und das Aufblühen
der Gewerbe die technische Seite der menschlichen Thätigkeit mehr in den
Vordergrund gerückt worden war. Wenn Dürer mit dem Hieronymus der
humanistischen Gelehrsamkeit seiner Zeit eine Huldigung darbringen wollte, so
beabsichtigte er mit der Melancholie die wissenschaftlichen Entdecker, die er¬
findungsreichen Techniker und Künstler zu feiern, die wie Leonardo (und teil¬
weise auch er selbst) die Grenzen der natürlichen Erkenntnis zu erweitern, die
Kräfte der Natur dem Menschen dienstbar zu macheu strebten.

Aber die Inschrift NölsnooliiZ,? Wir wollen den modernen pessimistischen
Begriff der Melancholie einmal bei Seite lassen und zunächst fragen, was man
denn in Dürers Zeit unter Melancholie verstand. Schon von Eye und Allihn haben
darauf hingewiesen, daß das Wort damals eine andre und weitere Bedeutung hatte
als heutzutage. Ursprünglich ist ja NölenooUg, ein rein medizinischer Begriff.
Die griechischen Ärzte hatten den Namen erfunden und verstanden darunter
eine Krankheit, die Schwarzgalligkeit, die sich, wenn sie nach dem Kopfe
emporsteigt, in düstern — rein körperlichen — Stimmungen äußert. Das
Mittelalter stand in medizinischen Dingen durchaus auf den Schultern der
Antike. Es verstand unter Melancholie im wesentlichen dasselbe, was Hippokmtes
und Galen darunter verstanden hatten. Schon im Altertum hatte man aber
mit der Melancholie vielfach den Begriff der Gedanken- oder Phantasiearbeit
verbunden. Rege Phantasiethätigkeit, lebhafte Träume schrieb man den
Melancholikern zu. Aristoteles rechnet deshalb alle Gelehrten, Künstler,


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[0395] Albrecht Dürer sammen, die in der Literatur jener Zeit als abhängig von der „Maß" oder „Messung" bezeichnet werden. Also wäre die sitzende Frau die Vertreterin der Mathematik oder Messung, der Genius der künstlerisch-technischen Phantasie oder des messenden und werk¬ thätigen Verstandes? Ich gestehe, daß ich, wenn nicht die Inschrift Mlsneolig. wäre, einen dieser Titel ohne Bedenken für den Kupferstich vorschlagen würde, daß mir die Melancholie im Gegensatz zum Hieronymus, der die humanistisch¬ theologischen Fächer darstellt, diejenigen Gebiete des menschlichen Wissens und Könnens zu veranschaulichen scheint, die mehr oder weniger mit der Mathe¬ matik und Zeichenkunst zusammenhängen: Astronomie, Erdkunde, Mechanik, Baukunst, Zimmer- und Schreinerhandwerk, Goldschmiede- und Kupferstechkunst. Darnach würde Dürer in den beiden Blättern des Jahres 1514 ähnliche Gegensätze dargestellt haben, wie sie heutzutage zwischen humanistischen und realen Fächern, Gymnasium und Realschule, Universität und Polytechnikum bestehen. Im Grunde geht diese Trennung ja schon auf den mittelalterlichen Unterschied von Triplum (Grammatik, Rhetorik und Dialektik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) zurück. Aber daß sie in dieser Weise einander gegenübergestellt werden, ist doch ein Kennzeichen der neuen Zeit, wo durch allerlei Erfindungen und Entdeckungen, durch die verän¬ derte Kriegführung, durch die gesteigerte Bauthütigkeit und das Aufblühen der Gewerbe die technische Seite der menschlichen Thätigkeit mehr in den Vordergrund gerückt worden war. Wenn Dürer mit dem Hieronymus der humanistischen Gelehrsamkeit seiner Zeit eine Huldigung darbringen wollte, so beabsichtigte er mit der Melancholie die wissenschaftlichen Entdecker, die er¬ findungsreichen Techniker und Künstler zu feiern, die wie Leonardo (und teil¬ weise auch er selbst) die Grenzen der natürlichen Erkenntnis zu erweitern, die Kräfte der Natur dem Menschen dienstbar zu macheu strebten. Aber die Inschrift NölsnooliiZ,? Wir wollen den modernen pessimistischen Begriff der Melancholie einmal bei Seite lassen und zunächst fragen, was man denn in Dürers Zeit unter Melancholie verstand. Schon von Eye und Allihn haben darauf hingewiesen, daß das Wort damals eine andre und weitere Bedeutung hatte als heutzutage. Ursprünglich ist ja NölenooUg, ein rein medizinischer Begriff. Die griechischen Ärzte hatten den Namen erfunden und verstanden darunter eine Krankheit, die Schwarzgalligkeit, die sich, wenn sie nach dem Kopfe emporsteigt, in düstern — rein körperlichen — Stimmungen äußert. Das Mittelalter stand in medizinischen Dingen durchaus auf den Schultern der Antike. Es verstand unter Melancholie im wesentlichen dasselbe, was Hippokmtes und Galen darunter verstanden hatten. Schon im Altertum hatte man aber mit der Melancholie vielfach den Begriff der Gedanken- oder Phantasiearbeit verbunden. Rege Phantasiethätigkeit, lebhafte Träume schrieb man den Melancholikern zu. Aristoteles rechnet deshalb alle Gelehrten, Künstler,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/395>, abgerufen am 23.07.2024.