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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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daß er gegen besseres Wissen dessen Thäterschaft bestritt. Aber soll ihn das
Ehrengericht verurteilen? Von einer Notwehr des Angeklagten gegenüber dem
befangnen Vorsitzenden kann im Rechtssinn nicht die Rede sein, wohl aber
befand er sich und mit ihm der Verteidiger in einer Art von Notstand, und
es gilt für sein Verhalten, mit einer kleinen Veränderung, das Wort Jphigeniens:
"Es bleibt wohl Unrecht, doch die Not entschuldigts."

Nicht bloß entschuldigt, sondern völlig gerechtfertigt kann der Rat, die
Aussage zu verweigern, in den Fällen der zweiten Art sein, wo dem An¬
geklagten eine That zur Last gelegt wird, die er überhaupt nicht vollbracht
hat. Von einem "Leugnen" der That kann hier beim Angeklagten von vorn¬
herein keine Rede sein, denn er bestreitet sie mit vollstem Recht; ob er sich
einer ausführlichen Vernehmung durch den Vorsitzenden unterwerfen soll, ist
also eine Frage der Zweckmäßigkeit, die der Verteidiger mit Grund in allen
den leider nicht seltnen Füllen verneinen wird, wo der Angeklagte einem Vor¬
sitzenden gegenübersteht, der bei der Vernehmung die Rolle des Staatsanwalts
übernimmt und, wie dieser, das Bestreiter der That durch den Angeklagten
als "freches Leugnen" behandelt.

Es giebt aber auch -- nicht bloß in Kriminalromanen, sondern auch im
wirklichen Leben -- Fülle, wo eine ausführliche Verantwortung des Angeklagten
für den Beweis seiner Unschuld förderlich wäre, und wo doch der Rat, die
Aussage zu verweigern, pflichtgemäß ist; es sind das die Fälle, wo der An¬
geklagte den wirklichen Thäter kennt, wo es nur eines Wortes von ihm be¬
dürfte, um seine Unschuld darzuthun, wo er aber dieses Wort nicht aussprechen
will, weil er entschlossen ist, den Thäter nicht zu nennen. Ein mißratner
Sohn z. V. hat einen Diebstahl verübt unter Umstünden, die den Verdacht
der Thäterschaft auf die Mutter lenken. Diese wird angeklagt. Sie weiß,
daß ihr Sohn der Thäter ist. Wenn sie die Wahrheit sagt, ist ihre Frei¬
sprechung sicher; aber die Mutterliebe ist stürker als der Trieb der Selbst-
erhciltuug, sie will lieber ihren ehrlichen Namen opfern, als die Zukunft ihres
Kindes aufs Spiel setzen. Ihrem Verteidiger offenbart sie die Wahrheit, aber
unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit. Der Anwalt soll die un¬
schuldige Mutter, nicht den schuldigen Sohn verteidigen, eine moralische Ver¬
pflichtung, die Verteidigung abzulehnen, kommt also hier nicht in Frage. Aber
wie soll er die Verteidigung führen, welches Verhalten soll er der Angeklagten
anraten? Die Anklage gründet sich auf einen Indizienbeweis, die Glieder
der Kette greifen scheinbar eng in einander; erweisen sich die einzelnen betastenden
Thatsachen als wahr, so ist die Bejahung der Schuldfrage durch das Gericht
in hohem Grade wahrscheinlich. Alle einzelnen Thatsachen sind wahr, aber
der Beweis steht bei einigen auf schwachen Füßen; die Versuchung für den
Verteidiger ist groß, der Angeklagten zu raten, sie solle diese Thatsachen be¬
streiten, dann lasse sich die Kette der Beweise leicht durchbrechen, lasse sich


daß er gegen besseres Wissen dessen Thäterschaft bestritt. Aber soll ihn das
Ehrengericht verurteilen? Von einer Notwehr des Angeklagten gegenüber dem
befangnen Vorsitzenden kann im Rechtssinn nicht die Rede sein, wohl aber
befand er sich und mit ihm der Verteidiger in einer Art von Notstand, und
es gilt für sein Verhalten, mit einer kleinen Veränderung, das Wort Jphigeniens:
„Es bleibt wohl Unrecht, doch die Not entschuldigts."

Nicht bloß entschuldigt, sondern völlig gerechtfertigt kann der Rat, die
Aussage zu verweigern, in den Fällen der zweiten Art sein, wo dem An¬
geklagten eine That zur Last gelegt wird, die er überhaupt nicht vollbracht
hat. Von einem „Leugnen" der That kann hier beim Angeklagten von vorn¬
herein keine Rede sein, denn er bestreitet sie mit vollstem Recht; ob er sich
einer ausführlichen Vernehmung durch den Vorsitzenden unterwerfen soll, ist
also eine Frage der Zweckmäßigkeit, die der Verteidiger mit Grund in allen
den leider nicht seltnen Füllen verneinen wird, wo der Angeklagte einem Vor¬
sitzenden gegenübersteht, der bei der Vernehmung die Rolle des Staatsanwalts
übernimmt und, wie dieser, das Bestreiter der That durch den Angeklagten
als „freches Leugnen" behandelt.

Es giebt aber auch — nicht bloß in Kriminalromanen, sondern auch im
wirklichen Leben — Fülle, wo eine ausführliche Verantwortung des Angeklagten
für den Beweis seiner Unschuld förderlich wäre, und wo doch der Rat, die
Aussage zu verweigern, pflichtgemäß ist; es sind das die Fälle, wo der An¬
geklagte den wirklichen Thäter kennt, wo es nur eines Wortes von ihm be¬
dürfte, um seine Unschuld darzuthun, wo er aber dieses Wort nicht aussprechen
will, weil er entschlossen ist, den Thäter nicht zu nennen. Ein mißratner
Sohn z. V. hat einen Diebstahl verübt unter Umstünden, die den Verdacht
der Thäterschaft auf die Mutter lenken. Diese wird angeklagt. Sie weiß,
daß ihr Sohn der Thäter ist. Wenn sie die Wahrheit sagt, ist ihre Frei¬
sprechung sicher; aber die Mutterliebe ist stürker als der Trieb der Selbst-
erhciltuug, sie will lieber ihren ehrlichen Namen opfern, als die Zukunft ihres
Kindes aufs Spiel setzen. Ihrem Verteidiger offenbart sie die Wahrheit, aber
unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit. Der Anwalt soll die un¬
schuldige Mutter, nicht den schuldigen Sohn verteidigen, eine moralische Ver¬
pflichtung, die Verteidigung abzulehnen, kommt also hier nicht in Frage. Aber
wie soll er die Verteidigung führen, welches Verhalten soll er der Angeklagten
anraten? Die Anklage gründet sich auf einen Indizienbeweis, die Glieder
der Kette greifen scheinbar eng in einander; erweisen sich die einzelnen betastenden
Thatsachen als wahr, so ist die Bejahung der Schuldfrage durch das Gericht
in hohem Grade wahrscheinlich. Alle einzelnen Thatsachen sind wahr, aber
der Beweis steht bei einigen auf schwachen Füßen; die Versuchung für den
Verteidiger ist groß, der Angeklagten zu raten, sie solle diese Thatsachen be¬
streiten, dann lasse sich die Kette der Beweise leicht durchbrechen, lasse sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/389>, abgerufen am 23.07.2024.