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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Dem Rechtsbewußtsein des Volkes entspricht dieses Wahlrecht nicht, und
darum darf auch aus dem K 136 der Strafprozeßordnung nicht das Recht des
Verteidigers gefolgert werden, den Angeklagten zur Verweigerung der Aussage
zu bestimmen. Ebenso verkehrt wäre es aber, in einen: dahin abzielenden Rate
des Verteidigers stets eine Pflichtverletzung zu erblicken; ob eine solche vor¬
liegt, das hängt, wir wiederholen es, von der Lage des einzelnen Falles ab,
und die Entscheidung im einzelnen Falle von der richtigen Auffassung der
Rechte und Pflichten des Verteidigers im allgemeinen.

Was ist die Aufgabe des Verteidigers? Er soll dafür thätig sein, daß
kein Unschuldiger gestraft und daß gegen den Schuldigen keine strengere, als
die der Schuld entsprechende Strafe verhängt werde; seine Thätigkeit soll die
Ergänzung der Thätigkeit des öffentlichen Anklägers, des Staatsanwalts, sein,
dessen Aufgabe es ist, dafür zu wirken, daß kein Schuldiger der Strafe entgehe
und daß die Strafe des Schuldigen nicht unter dem Maße seiner Schuld
bleibe. Darauf wenigstens beschränkt eine verständige, gesunde Strafrechts¬
pflege die Aufgabe des einen und des andern. Eine unverständige Rechts¬
pflege freilich, die Recht und Moral nicht zu scheiden weiß, bestimmt die Auf¬
gabe anders; sie verlangt vom Staatsanwalt auch die Fürsorge dafür, daß
kein Unschuldiger gestraft werde, und verpflichtet den Verteidiger, zur Bestra¬
fung des Schuldigen Beihilfe zu leisten. Nicht der zweiten, wohl aber der
ersten Verkehrtheit hat sich -- in ihrem den Franzosen nachgemachten Bestreben,
den Staatsanwalt über den Richter, den Richter unter die Aufsicht des Staats-
anwalts zu stellen,") -- die deutsche Strafprozeßordnung schuldig gemacht.
Daß der Staatsanwalt nicht die Verurteilung eines (wie er weiß) Unschuldigen,
der Verteidiger nicht die Freisprechung eines (wie er weiß) Schuldigen betreiben
soll, das ist selbstverständlich. Der eine wie der andre würde durch ein Zuwider¬
handeln dem Strafrichter verfallen. Selbstverständliches aber soll das Gesetz
nicht sagen. Etwas anderes jedoch als diese negative Verpflichtung ist die
positive: etwas zu thun, was im geraden Gegensatz zur berufsmäßigen Thätig¬
keit steht.

An den Verteidiger stellt, wie gesagt, das Gesetz diese Zumutung nicht,
in: Gegenteil, er macht sich eines Kriminalvergehens schuldig, wenn er ein vom
Angeklagten ihm abgelegtes Geständnis gegen dessen Wissen kundgiebt. Wie
er sich aber positiv in einem solchen Falle zu verhalten habe oder in dem Falle,
wo ihm ohne Geständnis die Schuld des Angeklagten zweifellos oder doch
wahrscheinlich ist, darüber enthält unser Recht keine ausdrückliche Bestimmung.
Die Antwort ist also aus den allgemeinen Grundsätzen über die Rechtsstellung
des Verteidigers zu entnehmen. Dabei ist aber der Unterschied zwischen dem



-) Vgl. darüber die Schrift: Recht und Willkür im deutschen Strafprozeß (Heft 41/22
der Deutschen Zeit- und Streitfragen Jahrgang 1888.)

Dem Rechtsbewußtsein des Volkes entspricht dieses Wahlrecht nicht, und
darum darf auch aus dem K 136 der Strafprozeßordnung nicht das Recht des
Verteidigers gefolgert werden, den Angeklagten zur Verweigerung der Aussage
zu bestimmen. Ebenso verkehrt wäre es aber, in einen: dahin abzielenden Rate
des Verteidigers stets eine Pflichtverletzung zu erblicken; ob eine solche vor¬
liegt, das hängt, wir wiederholen es, von der Lage des einzelnen Falles ab,
und die Entscheidung im einzelnen Falle von der richtigen Auffassung der
Rechte und Pflichten des Verteidigers im allgemeinen.

Was ist die Aufgabe des Verteidigers? Er soll dafür thätig sein, daß
kein Unschuldiger gestraft und daß gegen den Schuldigen keine strengere, als
die der Schuld entsprechende Strafe verhängt werde; seine Thätigkeit soll die
Ergänzung der Thätigkeit des öffentlichen Anklägers, des Staatsanwalts, sein,
dessen Aufgabe es ist, dafür zu wirken, daß kein Schuldiger der Strafe entgehe
und daß die Strafe des Schuldigen nicht unter dem Maße seiner Schuld
bleibe. Darauf wenigstens beschränkt eine verständige, gesunde Strafrechts¬
pflege die Aufgabe des einen und des andern. Eine unverständige Rechts¬
pflege freilich, die Recht und Moral nicht zu scheiden weiß, bestimmt die Auf¬
gabe anders; sie verlangt vom Staatsanwalt auch die Fürsorge dafür, daß
kein Unschuldiger gestraft werde, und verpflichtet den Verteidiger, zur Bestra¬
fung des Schuldigen Beihilfe zu leisten. Nicht der zweiten, wohl aber der
ersten Verkehrtheit hat sich — in ihrem den Franzosen nachgemachten Bestreben,
den Staatsanwalt über den Richter, den Richter unter die Aufsicht des Staats-
anwalts zu stellen,") — die deutsche Strafprozeßordnung schuldig gemacht.
Daß der Staatsanwalt nicht die Verurteilung eines (wie er weiß) Unschuldigen,
der Verteidiger nicht die Freisprechung eines (wie er weiß) Schuldigen betreiben
soll, das ist selbstverständlich. Der eine wie der andre würde durch ein Zuwider¬
handeln dem Strafrichter verfallen. Selbstverständliches aber soll das Gesetz
nicht sagen. Etwas anderes jedoch als diese negative Verpflichtung ist die
positive: etwas zu thun, was im geraden Gegensatz zur berufsmäßigen Thätig¬
keit steht.

An den Verteidiger stellt, wie gesagt, das Gesetz diese Zumutung nicht,
in: Gegenteil, er macht sich eines Kriminalvergehens schuldig, wenn er ein vom
Angeklagten ihm abgelegtes Geständnis gegen dessen Wissen kundgiebt. Wie
er sich aber positiv in einem solchen Falle zu verhalten habe oder in dem Falle,
wo ihm ohne Geständnis die Schuld des Angeklagten zweifellos oder doch
wahrscheinlich ist, darüber enthält unser Recht keine ausdrückliche Bestimmung.
Die Antwort ist also aus den allgemeinen Grundsätzen über die Rechtsstellung
des Verteidigers zu entnehmen. Dabei ist aber der Unterschied zwischen dem



-) Vgl. darüber die Schrift: Recht und Willkür im deutschen Strafprozeß (Heft 41/22
der Deutschen Zeit- und Streitfragen Jahrgang 1888.)
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/386>, abgerufen am 23.07.2024.