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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das englische Verfahren beruht durchaus auf andern Grundlagen als
das deutsche. Dort hat der Ankläger gegen den Angeklagten dessen Schuld zu
beweise", und bei der Würdigung der ihm vorgeführten Beweise ist der Richter
an strenge Veweisregeln gebunden; bei uns nimmt der Richter den Beweis
auf. und die Würdigung des Beweises unterliegt seiner freien Überzeugung.
Mit jenem englischen Verfahren ist die einleitende Frage an den Angeklagten,
ob er sich schuldig bekenne oder nicht, durchaus vereinbar; sein Schuldbekenntnis
überhebt den Ankläger der Notwendigkeit einer Beweisführung, bekennt sich
aber der Angeklagte uicht schuldig, so kann der Ankläger aus dem Bestreiter
oder Schweigen des Angeklagten keinerlei nachteilige Folgerungen gegen ihn
ziehen. Dieses bis zu einem gewissen Grad mit formeller Wahrheit sich
begnügende Verfahren ist den Engländern in Fleisch und Blut übergegangen.
Daß sie schlechter dabei führen, als wir mit unserm Prozeß, möchte ich nicht
behaupten, aber das ist gewiß, daß sich dieses englische Verfahren nicht nach
Deutschland übertragen läßt, uicht im Ganzen und noch weniger in einzelnen
Stücken, wie in der Frage, ob der Angeklagte etwas auf die Beschuldigung
antworten wolle; denn eine solche Übertragung ist unvereinbar mit dem Grund¬
satz, der unsern Prozeß beherrscht und unserm Rechtsbewußtsein entspricht,
daß durch das Strafverfahren die materielle Wahrheit ermittelt werden solle.

Die Strafprozeßordnung ist jetzt reichlich zwölf Jahre in Kraft; jene
Frage ist aber dem deutscheu Angeklagten heute noch gerade so unverständlich
wie vor zwölf Jahren. Unzählige Male erfolgt auf die Frage: Wollen Sie
auf die Beschuldigung etwas antworten? die Antwort: Nein! während es
doch dem Angeklagten ganz und gar nicht in den Sinn kommt, die Antwort
verweigern zu wollen; daß er sich auf eine gegen ihn erhobne Anklage ver¬
antworten, d. h. Rede und Antwort geben müsse, das erscheint ihm das
natürlichste von der Welt, und sein Nein bedeutet nicht die Weigerung der
Antwort, sondern nur: Ich bin dessen nicht schuldig, wessen ich hier be¬
schuldigt werde. Den Rat Li teoisti, nEAg, braucht ihm, wenn er schuldig ist,
nicht erst ein Verteidiger zu geben, davon wird er bei seiner Vernehmung
von selbst reichlich Gebrauch machen; aber verantworten will er sich, denn er
weiß wohl, daß er durch dummes Leugnen, durch einfaches dummes Neinsagen
ans jede ihn belastende Zeugenaussage seine Sache nicht besser macht.*)

Beweist so schon die tägliche Erfahrung das Unpraktische der von der
Reichstagskommission in das Gesetz gebrachten Bestimmung, so läßt sich



*) Bor Jahren standen vor dem Schwurgericht zu E. zwei Männer uuter der Anklage
des Mords; der eine wehrte sich gegen die Anklage mit allen Kräften, der andre beschränkte
sich darauf, so oft eine ihn belastende Aussage erfolgte und er befragt wurde, was er darauf
zu feigen habe, zu erwidern: "Ich bin nur froh, daß die ganze Sach mich nichts angeht,"
was jedesmal eine allgemeine, trotz dem Ernst der Sache nicht unberechtigte Heiterkeit im
Äerichtssaale hervorrief. Mau kann sich denken, wie viel Erfolg diese Art der Verteidigung hatte-

Das englische Verfahren beruht durchaus auf andern Grundlagen als
das deutsche. Dort hat der Ankläger gegen den Angeklagten dessen Schuld zu
beweise», und bei der Würdigung der ihm vorgeführten Beweise ist der Richter
an strenge Veweisregeln gebunden; bei uns nimmt der Richter den Beweis
auf. und die Würdigung des Beweises unterliegt seiner freien Überzeugung.
Mit jenem englischen Verfahren ist die einleitende Frage an den Angeklagten,
ob er sich schuldig bekenne oder nicht, durchaus vereinbar; sein Schuldbekenntnis
überhebt den Ankläger der Notwendigkeit einer Beweisführung, bekennt sich
aber der Angeklagte uicht schuldig, so kann der Ankläger aus dem Bestreiter
oder Schweigen des Angeklagten keinerlei nachteilige Folgerungen gegen ihn
ziehen. Dieses bis zu einem gewissen Grad mit formeller Wahrheit sich
begnügende Verfahren ist den Engländern in Fleisch und Blut übergegangen.
Daß sie schlechter dabei führen, als wir mit unserm Prozeß, möchte ich nicht
behaupten, aber das ist gewiß, daß sich dieses englische Verfahren nicht nach
Deutschland übertragen läßt, uicht im Ganzen und noch weniger in einzelnen
Stücken, wie in der Frage, ob der Angeklagte etwas auf die Beschuldigung
antworten wolle; denn eine solche Übertragung ist unvereinbar mit dem Grund¬
satz, der unsern Prozeß beherrscht und unserm Rechtsbewußtsein entspricht,
daß durch das Strafverfahren die materielle Wahrheit ermittelt werden solle.

Die Strafprozeßordnung ist jetzt reichlich zwölf Jahre in Kraft; jene
Frage ist aber dem deutscheu Angeklagten heute noch gerade so unverständlich
wie vor zwölf Jahren. Unzählige Male erfolgt auf die Frage: Wollen Sie
auf die Beschuldigung etwas antworten? die Antwort: Nein! während es
doch dem Angeklagten ganz und gar nicht in den Sinn kommt, die Antwort
verweigern zu wollen; daß er sich auf eine gegen ihn erhobne Anklage ver¬
antworten, d. h. Rede und Antwort geben müsse, das erscheint ihm das
natürlichste von der Welt, und sein Nein bedeutet nicht die Weigerung der
Antwort, sondern nur: Ich bin dessen nicht schuldig, wessen ich hier be¬
schuldigt werde. Den Rat Li teoisti, nEAg, braucht ihm, wenn er schuldig ist,
nicht erst ein Verteidiger zu geben, davon wird er bei seiner Vernehmung
von selbst reichlich Gebrauch machen; aber verantworten will er sich, denn er
weiß wohl, daß er durch dummes Leugnen, durch einfaches dummes Neinsagen
ans jede ihn belastende Zeugenaussage seine Sache nicht besser macht.*)

Beweist so schon die tägliche Erfahrung das Unpraktische der von der
Reichstagskommission in das Gesetz gebrachten Bestimmung, so läßt sich



*) Bor Jahren standen vor dem Schwurgericht zu E. zwei Männer uuter der Anklage
des Mords; der eine wehrte sich gegen die Anklage mit allen Kräften, der andre beschränkte
sich darauf, so oft eine ihn belastende Aussage erfolgte und er befragt wurde, was er darauf
zu feigen habe, zu erwidern: „Ich bin nur froh, daß die ganze Sach mich nichts angeht,"
was jedesmal eine allgemeine, trotz dem Ernst der Sache nicht unberechtigte Heiterkeit im
Äerichtssaale hervorrief. Mau kann sich denken, wie viel Erfolg diese Art der Verteidigung hatte-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/384>, abgerufen am 23.07.2024.