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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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mein nur Wert, wenn die Zahl der möglichen Fälle, also der Versuche gleich
unendlich ist. Aber es liegen immer nur wenige Versuche vor. Man macht
auch bald die Erfahrung, daß es günstige und ungünstige Tage giebt; aber
nur die günstigen werden in Rechnung gezogen, die ungünstigen absichtlich oder
unabsichtlich vernachlässigt. Und so kommt man aus demselben falschen Wege
zu einem Ergebnis, wie die, die es für ausgemacht halten, daß es Freitags
regnen müsse. Man rechnet sich halbe Erfolge zu gute; eine Zahl drüber oder
drunter, eine Zahl, in der eine Ziffer richtig war, eine Karte, in der die Farbe
richtig getroffen war, obwohl es ein ganzer Fehler war. Es soll nicht ver¬
schwiegen werden, daß Riedel im Gegensatz zu seinen Freunden von jenen
Wahrscheinlichkeitsrechnungen nicht viel hält.

Manchmal wird auch etwas als unerklärlich angestaunt, was gar nicht so
unerklärlich ist. Es war z. B. bestimmt wordeu, daß ein ans der Hypnose
erwachender junger Mann seine anwesende Cousine umarmen sollte. Er that
es. Das ist aber doch uicht gerade staunenerregend. Wenn bestimmt worden
wäre, daß er einen anwesenden Mops küssen sollte, und er hätte es ohne sonstige
Einwirkung gethan, das könnte man wunderbar nennen.

Herr von Schrenck-Notzing kann sich nicht beklagen, daß wir die neue
Wissenschaft unbesehen ablehnen. Wir haben uns die Sache angesehen, haben
aber nichts gefunden, was uns hätte überzeugen können. Wir bedauern, daß
so viele schöne Zeit aus eine so unfruchtbare Sache, bedauern, daß ein so
wissenschaftlicher Apparat zu einer so unwissenschaftlichen Ausgabe verwendet
worden ist. Es ist unwissenschaftlich, beliebige Erscheinungen oder Beobach¬
tungen zusammenzutragen, ohne sie in bestimmter Weise zu ordnen, ohne die
Absicht zu haben, sie der vorhandenen Erkenntnis anzuschließen. Das "warum"
und das "weil" darf bei keiner wissenschaftlichen Untersuchung fehlen. Wenn
aber der Herausgeber die Wahl stellt, man müsse entweder etwas wunderbares
Thatsächliches anerkennen oder eine geistige Epidemie annehmen, so erkläre ich
mich solange für den zweiten Fall, als kein besserer und stichhaltigerer Stoff
vorgebracht wird. Es ist richtig, daß die Geschichte der Wissenschaft viele Fälle
nennt, wo der neuen Erkenntnis ein unberechtigter Widerstand entgegengesetzt
worden ist; aber daneben giebt es auch eine lange und reiche Geschichte des
menschlichen Irrtums von Platos realen Begriffen an bis zur Goldmacherkunst
und zur Telepathie.




mein nur Wert, wenn die Zahl der möglichen Fälle, also der Versuche gleich
unendlich ist. Aber es liegen immer nur wenige Versuche vor. Man macht
auch bald die Erfahrung, daß es günstige und ungünstige Tage giebt; aber
nur die günstigen werden in Rechnung gezogen, die ungünstigen absichtlich oder
unabsichtlich vernachlässigt. Und so kommt man aus demselben falschen Wege
zu einem Ergebnis, wie die, die es für ausgemacht halten, daß es Freitags
regnen müsse. Man rechnet sich halbe Erfolge zu gute; eine Zahl drüber oder
drunter, eine Zahl, in der eine Ziffer richtig war, eine Karte, in der die Farbe
richtig getroffen war, obwohl es ein ganzer Fehler war. Es soll nicht ver¬
schwiegen werden, daß Riedel im Gegensatz zu seinen Freunden von jenen
Wahrscheinlichkeitsrechnungen nicht viel hält.

Manchmal wird auch etwas als unerklärlich angestaunt, was gar nicht so
unerklärlich ist. Es war z. B. bestimmt wordeu, daß ein ans der Hypnose
erwachender junger Mann seine anwesende Cousine umarmen sollte. Er that
es. Das ist aber doch uicht gerade staunenerregend. Wenn bestimmt worden
wäre, daß er einen anwesenden Mops küssen sollte, und er hätte es ohne sonstige
Einwirkung gethan, das könnte man wunderbar nennen.

Herr von Schrenck-Notzing kann sich nicht beklagen, daß wir die neue
Wissenschaft unbesehen ablehnen. Wir haben uns die Sache angesehen, haben
aber nichts gefunden, was uns hätte überzeugen können. Wir bedauern, daß
so viele schöne Zeit aus eine so unfruchtbare Sache, bedauern, daß ein so
wissenschaftlicher Apparat zu einer so unwissenschaftlichen Ausgabe verwendet
worden ist. Es ist unwissenschaftlich, beliebige Erscheinungen oder Beobach¬
tungen zusammenzutragen, ohne sie in bestimmter Weise zu ordnen, ohne die
Absicht zu haben, sie der vorhandenen Erkenntnis anzuschließen. Das „warum"
und das „weil" darf bei keiner wissenschaftlichen Untersuchung fehlen. Wenn
aber der Herausgeber die Wahl stellt, man müsse entweder etwas wunderbares
Thatsächliches anerkennen oder eine geistige Epidemie annehmen, so erkläre ich
mich solange für den zweiten Fall, als kein besserer und stichhaltigerer Stoff
vorgebracht wird. Es ist richtig, daß die Geschichte der Wissenschaft viele Fälle
nennt, wo der neuen Erkenntnis ein unberechtigter Widerstand entgegengesetzt
worden ist; aber daneben giebt es auch eine lange und reiche Geschichte des
menschlichen Irrtums von Platos realen Begriffen an bis zur Goldmacherkunst
und zur Telepathie.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/38>, abgerufen am 23.07.2024.