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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Gedankennbertragnng nach wissenschaftlicher Methode

Umgekehrt rät Alice ein andermal auf Peritonitis mit Fieber, aber es war ein
Armbruch, Ein andermal redet sie von Krisen, von Erstickungsanfällen, von
den Nieren. Das Haar rührte von einer völlig gesunden Frau her. Schon
glaubte Riedel an einen Mißerfolg; aber -- Madame H. war zehn Tage vor¬
her entbunden worden. War nun das Haar vor oder nach der Entbindung
gesandt worden? Ein andermal redete Allee von einer Frau, die nicht schwer
krank sei, aber viel leide; die betreffende Frau war -- an Bauchfellentzündung
gestorben. Ein andermal rät sie auf eine Frnn mit heißem Kopfe und dentet
auf das linke of Mriet^le. Riedel diagnostizirt Genickkrampf, aber es war
ein Kind, das an der Pottscheu Krankheit litt. Hier ist wieder höchst inter-
essant, daß diese Haare ein Paket andrer Haare berührt hatten, die von einem
Manne herrührten, der wirklich an Genickkrampf litt. Noch interessanter dürfte
es sein, daß es Allee und die andern Medien immer mit den Nieren, der Leber,
dem Unterleibe, also mit Organen zu thun haben, an denen hysterische Frauen¬
zimmer zu leiden Pflegen. Eine andre, Helene, erhält die Aufgabe, zu sagen,
woran nichees krankes Kind leide. Sie rät erst ans Kopfschmerzen, kommt
nach zehn Minuten auf die Masern, und -- es stimmt. Großartig! Dann
folgt eine Reihe ebenso großartiger Mißerfolge.

Nicht besser steht es mit dem Hellsehen in die Ferne. Leonie B. in Havre
soll nach nichees Kindern in Paris sehen. Sie sagt, daß man Amelie! Amelie!
rufe. Keins der Kinder heißt so, aber eine Nichte des Fragenden. Darauf
sagt sie: O o, das kleine Mädchen schneidet sich mit dem Messer. Es war
an einem Sonnabendnachmittag. Hinterher erfährt Riedel, daß sich nicht das
Mädchen an jenem Tage geschnitten habe, sondern der Knabe, anch nicht nach¬
mittags, sondern vormittags, auch nicht mit einem Messer, sondern mit Glas.
Aber für Riedel ist es auch Honig.

Diese Beispiele werden genügen, um zu zeigen, wie leicht die Telepathiker
aus Liebe zur Sache befriedigt werden. Der Herausgeber meint zwar, daß alle
Mißerfolge nichts gegen einen Erfolg bewiesen. Denn dieser Erfolg sei, wie
durch Wahrscheinlichkeitsrechnung nachgewiesen wird, dnrch einen Zufall nicht
zu erklären. Aber gerade durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung wird der Anlaß
zu viel Selbsttäuschung gegeben.

Die Sache stellt sich am deutlichsten beim Erraten von Zahlen oder Karten
dar. Soll aus einem Spiel von 52 Blättern die bestimmte Karte gegriffen
oder geraten werden, so ist das Wahrscheinlichkeitsverhältnis 1:52. Daß die¬
selbe Karte zum zweitenmal gegriffen wird, ist sehr unwahrscheinlich. Das Ver¬
hältnis ist . 1 ^ ^ Und doch, warum foll es nicht vorkommen
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können, und zwar nicht erst zum zweita,lsendsiebenhnndertvierten, sondern zum
ersten oder zweitenmal?? Warum sollen uicht noch viel unwahrscheinlichere
Zufälle eintreten können? Streng genommen haben diese mathematischen For-


Gedankennbertragnng nach wissenschaftlicher Methode

Umgekehrt rät Alice ein andermal auf Peritonitis mit Fieber, aber es war ein
Armbruch, Ein andermal redet sie von Krisen, von Erstickungsanfällen, von
den Nieren. Das Haar rührte von einer völlig gesunden Frau her. Schon
glaubte Riedel an einen Mißerfolg; aber — Madame H. war zehn Tage vor¬
her entbunden worden. War nun das Haar vor oder nach der Entbindung
gesandt worden? Ein andermal redete Allee von einer Frau, die nicht schwer
krank sei, aber viel leide; die betreffende Frau war — an Bauchfellentzündung
gestorben. Ein andermal rät sie auf eine Frnn mit heißem Kopfe und dentet
auf das linke of Mriet^le. Riedel diagnostizirt Genickkrampf, aber es war
ein Kind, das an der Pottscheu Krankheit litt. Hier ist wieder höchst inter-
essant, daß diese Haare ein Paket andrer Haare berührt hatten, die von einem
Manne herrührten, der wirklich an Genickkrampf litt. Noch interessanter dürfte
es sein, daß es Allee und die andern Medien immer mit den Nieren, der Leber,
dem Unterleibe, also mit Organen zu thun haben, an denen hysterische Frauen¬
zimmer zu leiden Pflegen. Eine andre, Helene, erhält die Aufgabe, zu sagen,
woran nichees krankes Kind leide. Sie rät erst ans Kopfschmerzen, kommt
nach zehn Minuten auf die Masern, und — es stimmt. Großartig! Dann
folgt eine Reihe ebenso großartiger Mißerfolge.

Nicht besser steht es mit dem Hellsehen in die Ferne. Leonie B. in Havre
soll nach nichees Kindern in Paris sehen. Sie sagt, daß man Amelie! Amelie!
rufe. Keins der Kinder heißt so, aber eine Nichte des Fragenden. Darauf
sagt sie: O o, das kleine Mädchen schneidet sich mit dem Messer. Es war
an einem Sonnabendnachmittag. Hinterher erfährt Riedel, daß sich nicht das
Mädchen an jenem Tage geschnitten habe, sondern der Knabe, anch nicht nach¬
mittags, sondern vormittags, auch nicht mit einem Messer, sondern mit Glas.
Aber für Riedel ist es auch Honig.

Diese Beispiele werden genügen, um zu zeigen, wie leicht die Telepathiker
aus Liebe zur Sache befriedigt werden. Der Herausgeber meint zwar, daß alle
Mißerfolge nichts gegen einen Erfolg bewiesen. Denn dieser Erfolg sei, wie
durch Wahrscheinlichkeitsrechnung nachgewiesen wird, dnrch einen Zufall nicht
zu erklären. Aber gerade durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung wird der Anlaß
zu viel Selbsttäuschung gegeben.

Die Sache stellt sich am deutlichsten beim Erraten von Zahlen oder Karten
dar. Soll aus einem Spiel von 52 Blättern die bestimmte Karte gegriffen
oder geraten werden, so ist das Wahrscheinlichkeitsverhältnis 1:52. Daß die¬
selbe Karte zum zweitenmal gegriffen wird, ist sehr unwahrscheinlich. Das Ver¬
hältnis ist . 1 ^ ^ Und doch, warum foll es nicht vorkommen
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können, und zwar nicht erst zum zweita,lsendsiebenhnndertvierten, sondern zum
ersten oder zweitenmal?? Warum sollen uicht noch viel unwahrscheinlichere
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[0037] Gedankennbertragnng nach wissenschaftlicher Methode Umgekehrt rät Alice ein andermal auf Peritonitis mit Fieber, aber es war ein Armbruch, Ein andermal redet sie von Krisen, von Erstickungsanfällen, von den Nieren. Das Haar rührte von einer völlig gesunden Frau her. Schon glaubte Riedel an einen Mißerfolg; aber — Madame H. war zehn Tage vor¬ her entbunden worden. War nun das Haar vor oder nach der Entbindung gesandt worden? Ein andermal redete Allee von einer Frau, die nicht schwer krank sei, aber viel leide; die betreffende Frau war — an Bauchfellentzündung gestorben. Ein andermal rät sie auf eine Frnn mit heißem Kopfe und dentet auf das linke of Mriet^le. Riedel diagnostizirt Genickkrampf, aber es war ein Kind, das an der Pottscheu Krankheit litt. Hier ist wieder höchst inter- essant, daß diese Haare ein Paket andrer Haare berührt hatten, die von einem Manne herrührten, der wirklich an Genickkrampf litt. Noch interessanter dürfte es sein, daß es Allee und die andern Medien immer mit den Nieren, der Leber, dem Unterleibe, also mit Organen zu thun haben, an denen hysterische Frauen¬ zimmer zu leiden Pflegen. Eine andre, Helene, erhält die Aufgabe, zu sagen, woran nichees krankes Kind leide. Sie rät erst ans Kopfschmerzen, kommt nach zehn Minuten auf die Masern, und — es stimmt. Großartig! Dann folgt eine Reihe ebenso großartiger Mißerfolge. Nicht besser steht es mit dem Hellsehen in die Ferne. Leonie B. in Havre soll nach nichees Kindern in Paris sehen. Sie sagt, daß man Amelie! Amelie! rufe. Keins der Kinder heißt so, aber eine Nichte des Fragenden. Darauf sagt sie: O o, das kleine Mädchen schneidet sich mit dem Messer. Es war an einem Sonnabendnachmittag. Hinterher erfährt Riedel, daß sich nicht das Mädchen an jenem Tage geschnitten habe, sondern der Knabe, anch nicht nach¬ mittags, sondern vormittags, auch nicht mit einem Messer, sondern mit Glas. Aber für Riedel ist es auch Honig. Diese Beispiele werden genügen, um zu zeigen, wie leicht die Telepathiker aus Liebe zur Sache befriedigt werden. Der Herausgeber meint zwar, daß alle Mißerfolge nichts gegen einen Erfolg bewiesen. Denn dieser Erfolg sei, wie durch Wahrscheinlichkeitsrechnung nachgewiesen wird, dnrch einen Zufall nicht zu erklären. Aber gerade durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung wird der Anlaß zu viel Selbsttäuschung gegeben. Die Sache stellt sich am deutlichsten beim Erraten von Zahlen oder Karten dar. Soll aus einem Spiel von 52 Blättern die bestimmte Karte gegriffen oder geraten werden, so ist das Wahrscheinlichkeitsverhältnis 1:52. Daß die¬ selbe Karte zum zweitenmal gegriffen wird, ist sehr unwahrscheinlich. Das Ver¬ hältnis ist . 1 ^ ^ Und doch, warum foll es nicht vorkommen 52 52 2704. ^ ' können, und zwar nicht erst zum zweita,lsendsiebenhnndertvierten, sondern zum ersten oder zweitenmal?? Warum sollen uicht noch viel unwahrscheinlichere Zufälle eintreten können? Streng genommen haben diese mathematischen For-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/37>, abgerufen am 23.07.2024.