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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialdemokratische Presse

Auch von der populärwissenschaftlichen Wochenschrift der Sozialdemokraten
habe ich den letzten Jahrgang durchgeblättert. Ihr Titel lautet: "Die Neue
Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens." (Stuttgart, I. H. W. Dietz.)
Es wäre interessant, zu wissen, wie viel sie unter den Arbeitern Leser zählt. Von
den übrigen deutschen Wochenschriften unterscheidet sie sich nur durch ihre Ein¬
seitigkeit, steht aber sonst nach Inhalt und Form auf gleicher Höhe mit den
bessern unter ihnen. Die Zahl der gelehrten Proletarier ist eben nicht gering,
und die Engherzigkeit vieler Verleger treibt auch manchen, der gar nicht daran
denkt, Sozialdemokrat zu werden, den Redaktionen dieser Partei in die Arme.
So z. B. mußte der konservative Dr. Rudolf Meyer mit seinem Artikel gegen
die Ringe der Agrarier vorigen Sommer in den ultramontanen "Historisch-
Politischen Blättern" Unterschlupf suchen, und als er dann noch mehr ans dem
Herzen hatte, was auch dem genannten bairischen Zentrumsorgan zu stark
war, so hat er es vor einigen Wochen in der "Neuen Zeit" abgelagert (Ur. 11
und 12 des laufenden Jahrganges). Manche Artikel, wie Lafargnes Charak¬
teristik der schönen Litteratur Frankreichs in einer Besprechung von Zolas
letztem Romane, "Das Geld," sind vortrefflich. Gegen einen Punkt in Plecha-
nows Aufsatz "Zu Hegels sechzigsten Todestag" (wie grausam, den großen
Philosophen sechzig Tage lang sterben zu lassen!) wollen wir ein wenig pole-
misiren, weil es sich dabei nicht um den Glauben handelt, sondern um That¬
sachen, die jedermann wissen kann. Die deutsche Philosophie wird darin
angeklagt, daß sie Hegel schmählich vernachlässige, und das wird dann sehr
natürlich gefunden, da Hegels Philosophie durch und durch revolutionär
und Marx der einzige sei, der sie folgerichtig fortgebildet habe. Es ist in den
Grenzboten schon hervorgehoben worden, daß die von Marx begründete wissen¬
schaftliche Sozialdemokratie auf der in ihrer Einseitigkeit falschen Umschlage¬
theorie Hegels beruhe; nach Hegels Grundsatz kann mau sich den zukünftigen
Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung gar nicht anders vorstellen, als daß
der Kapitalismus auf die Spitze getrieben wird und dann in Kommunismus
umschlügt. Ganz richtig erinnert Plechanvw an Hegels Auffassung der Kirchen-
geschichte: es habe sich bei der Reformation nicht etwa um die Beseitigung
von Mißbräuchen, um Verbesserungen im einzelnen gehandelt, sondern die
katholische Kirche sei durchaus verdorben gewesen, und der Katholizismus habe
in ein neues, in den Protestantismus umschlagen müssen. Mit dem Parallelis¬
mus zwischen Hegels Religions- und Marxens Wirtschaftsgeschichte hat es
seine Richtigkeit, aber Hegels Ansicht ist falsch. Zu seiner Zeit war es ver¬
zeihlich, wenn er und viele mit ihm den Katholizismus für tot hielten und
glaubten, daß auch der Protestantismus schon im Begriff stehe, in die Philo¬
sophie umzuschlagen. Wir Heutigen wissen, daß neben der Philosophie Katho¬
lizismus und orthodoxer Protestantismus noch ganz lebendig sind und allein
Anschein nach lebendig bleiben werden. So lösen einander auch die verschiednen


Die sozialdemokratische Presse

Auch von der populärwissenschaftlichen Wochenschrift der Sozialdemokraten
habe ich den letzten Jahrgang durchgeblättert. Ihr Titel lautet: „Die Neue
Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens." (Stuttgart, I. H. W. Dietz.)
Es wäre interessant, zu wissen, wie viel sie unter den Arbeitern Leser zählt. Von
den übrigen deutschen Wochenschriften unterscheidet sie sich nur durch ihre Ein¬
seitigkeit, steht aber sonst nach Inhalt und Form auf gleicher Höhe mit den
bessern unter ihnen. Die Zahl der gelehrten Proletarier ist eben nicht gering,
und die Engherzigkeit vieler Verleger treibt auch manchen, der gar nicht daran
denkt, Sozialdemokrat zu werden, den Redaktionen dieser Partei in die Arme.
So z. B. mußte der konservative Dr. Rudolf Meyer mit seinem Artikel gegen
die Ringe der Agrarier vorigen Sommer in den ultramontanen „Historisch-
Politischen Blättern" Unterschlupf suchen, und als er dann noch mehr ans dem
Herzen hatte, was auch dem genannten bairischen Zentrumsorgan zu stark
war, so hat er es vor einigen Wochen in der „Neuen Zeit" abgelagert (Ur. 11
und 12 des laufenden Jahrganges). Manche Artikel, wie Lafargnes Charak¬
teristik der schönen Litteratur Frankreichs in einer Besprechung von Zolas
letztem Romane, „Das Geld," sind vortrefflich. Gegen einen Punkt in Plecha-
nows Aufsatz „Zu Hegels sechzigsten Todestag" (wie grausam, den großen
Philosophen sechzig Tage lang sterben zu lassen!) wollen wir ein wenig pole-
misiren, weil es sich dabei nicht um den Glauben handelt, sondern um That¬
sachen, die jedermann wissen kann. Die deutsche Philosophie wird darin
angeklagt, daß sie Hegel schmählich vernachlässige, und das wird dann sehr
natürlich gefunden, da Hegels Philosophie durch und durch revolutionär
und Marx der einzige sei, der sie folgerichtig fortgebildet habe. Es ist in den
Grenzboten schon hervorgehoben worden, daß die von Marx begründete wissen¬
schaftliche Sozialdemokratie auf der in ihrer Einseitigkeit falschen Umschlage¬
theorie Hegels beruhe; nach Hegels Grundsatz kann mau sich den zukünftigen
Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung gar nicht anders vorstellen, als daß
der Kapitalismus auf die Spitze getrieben wird und dann in Kommunismus
umschlügt. Ganz richtig erinnert Plechanvw an Hegels Auffassung der Kirchen-
geschichte: es habe sich bei der Reformation nicht etwa um die Beseitigung
von Mißbräuchen, um Verbesserungen im einzelnen gehandelt, sondern die
katholische Kirche sei durchaus verdorben gewesen, und der Katholizismus habe
in ein neues, in den Protestantismus umschlagen müssen. Mit dem Parallelis¬
mus zwischen Hegels Religions- und Marxens Wirtschaftsgeschichte hat es
seine Richtigkeit, aber Hegels Ansicht ist falsch. Zu seiner Zeit war es ver¬
zeihlich, wenn er und viele mit ihm den Katholizismus für tot hielten und
glaubten, daß auch der Protestantismus schon im Begriff stehe, in die Philo¬
sophie umzuschlagen. Wir Heutigen wissen, daß neben der Philosophie Katho¬
lizismus und orthodoxer Protestantismus noch ganz lebendig sind und allein
Anschein nach lebendig bleiben werden. So lösen einander auch die verschiednen


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[0364] Die sozialdemokratische Presse Auch von der populärwissenschaftlichen Wochenschrift der Sozialdemokraten habe ich den letzten Jahrgang durchgeblättert. Ihr Titel lautet: „Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens." (Stuttgart, I. H. W. Dietz.) Es wäre interessant, zu wissen, wie viel sie unter den Arbeitern Leser zählt. Von den übrigen deutschen Wochenschriften unterscheidet sie sich nur durch ihre Ein¬ seitigkeit, steht aber sonst nach Inhalt und Form auf gleicher Höhe mit den bessern unter ihnen. Die Zahl der gelehrten Proletarier ist eben nicht gering, und die Engherzigkeit vieler Verleger treibt auch manchen, der gar nicht daran denkt, Sozialdemokrat zu werden, den Redaktionen dieser Partei in die Arme. So z. B. mußte der konservative Dr. Rudolf Meyer mit seinem Artikel gegen die Ringe der Agrarier vorigen Sommer in den ultramontanen „Historisch- Politischen Blättern" Unterschlupf suchen, und als er dann noch mehr ans dem Herzen hatte, was auch dem genannten bairischen Zentrumsorgan zu stark war, so hat er es vor einigen Wochen in der „Neuen Zeit" abgelagert (Ur. 11 und 12 des laufenden Jahrganges). Manche Artikel, wie Lafargnes Charak¬ teristik der schönen Litteratur Frankreichs in einer Besprechung von Zolas letztem Romane, „Das Geld," sind vortrefflich. Gegen einen Punkt in Plecha- nows Aufsatz „Zu Hegels sechzigsten Todestag" (wie grausam, den großen Philosophen sechzig Tage lang sterben zu lassen!) wollen wir ein wenig pole- misiren, weil es sich dabei nicht um den Glauben handelt, sondern um That¬ sachen, die jedermann wissen kann. Die deutsche Philosophie wird darin angeklagt, daß sie Hegel schmählich vernachlässige, und das wird dann sehr natürlich gefunden, da Hegels Philosophie durch und durch revolutionär und Marx der einzige sei, der sie folgerichtig fortgebildet habe. Es ist in den Grenzboten schon hervorgehoben worden, daß die von Marx begründete wissen¬ schaftliche Sozialdemokratie auf der in ihrer Einseitigkeit falschen Umschlage¬ theorie Hegels beruhe; nach Hegels Grundsatz kann mau sich den zukünftigen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung gar nicht anders vorstellen, als daß der Kapitalismus auf die Spitze getrieben wird und dann in Kommunismus umschlügt. Ganz richtig erinnert Plechanvw an Hegels Auffassung der Kirchen- geschichte: es habe sich bei der Reformation nicht etwa um die Beseitigung von Mißbräuchen, um Verbesserungen im einzelnen gehandelt, sondern die katholische Kirche sei durchaus verdorben gewesen, und der Katholizismus habe in ein neues, in den Protestantismus umschlagen müssen. Mit dem Parallelis¬ mus zwischen Hegels Religions- und Marxens Wirtschaftsgeschichte hat es seine Richtigkeit, aber Hegels Ansicht ist falsch. Zu seiner Zeit war es ver¬ zeihlich, wenn er und viele mit ihm den Katholizismus für tot hielten und glaubten, daß auch der Protestantismus schon im Begriff stehe, in die Philo¬ sophie umzuschlagen. Wir Heutigen wissen, daß neben der Philosophie Katho¬ lizismus und orthodoxer Protestantismus noch ganz lebendig sind und allein Anschein nach lebendig bleiben werden. So lösen einander auch die verschiednen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/364>, abgerufen am 23.07.2024.