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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die sozicildemokratische Presse

der Roben ist, und daß es sich einer höchst entwickelten Industrie und der
vortrefflichsten allgemeinen Schulbildung erfreut. Dazu ist dann noch seit
Ausbruch der sozialdemokratischen Bewegung das strammste Polizeiregiment
getreten. Es giebt zwar Leute, die sich anstellen, als bemerkten sie den ur¬
sächlichen Zusammenhang zwischen den genannten vier Faktoren und der Menge
der Selbstmorde nicht, aber es giebt sicherlich niemanden, der ihn nicht sofort
sähe, sobald seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird. Ganz eben so klar ist
es aber, daß diese vier Faktoren zusammen eine soziale Bewegung hervorbringen
müssen, mag sie nun Sozialdemokratie oder sonstwie heißen, und zwar läßt
sich vermuten, daß die zuerst hervorgetretne Wirkung, die Selbstmordsucht,
in dem Maße abnehmen werde, als sich die soziale Bewegung verbreitet. Ob
eine Abnahme bereits eingetreten ist, weiß ich nicht; schon wenn die Selbst¬
morde in den Industriebezirken seit 1860 nicht sehr zugenommen hätten, würde
ich darin eine Bestätigung meiner Ansicht finden. Drei der genannten Fak¬
toren wirken zusammen, die Armem in eine an allerhand Pein reiche Zwangs¬
lage zu versetzen, die vierte, die Schulbildung, macht, daß der Arme sein
Elend nicht allein im vollen Umfange erkennt und empfindet, sondern auch
noch übertreibt und unerträglich findet. Selbstmord ist die Flucht des Einzelnen
aus diesem unerträglichen, oft vielleicht nnr in der Einbildung unerträglichen
Zustande. Ist aber die Schulbildung so weit gediehen, daß sie im Berein mit
der Presse eine Organisation zum gemeinsamen Widerstande gegen die be¬
drückenden Mächte ermöglicht, so kann der Einzelne in der Hoffnung auf den
Erfolg der Bewegung seinen Fluchtversuch verschieben. Selbst wo keine Hoff¬
nung auf Besserung vorhanden ist, macht schon der Kampf den Zustand er¬
träglicher. Denn reine Passivität ist für den geweckten Menschen das schlecht¬
hin unerträgliche. Den Druck mit Stoß und Schlag abwehren, selbst schon
in Gemeinschaft mit Genossen auf den Gegner schimpfen dürfen, das flößt
sofort neue Lebenslust ein. Wer das Material dazu hat, der mag sich eine
Tabelle oder eine farbige Karte anfertigen, in der die Größe der genannten
vier Faktoren für die einzelnen Länder in Ziffern oder schattirter Farben an¬
gegeben ist, und daneben die Verbreitung der Sozialdemokratie, und er wird
finden, daß diese mit dem Produkt jener vier Faktoren zunimmt. Wenn seit
einiger Zeit die englischen Gewerkvereine mehr und mehr ins sozialdemokratische
Fahrwasser geraten, so ist daran ohne Zweifel der seit zwei Jahrzehnten
wirkende mäßige Schulzwang schuld, der die bis dahin ganz tierischen, fürs
öffentliche Leben gar nicht vorhandnen Proletariermassen organisationsfähig
macht; deren Überzahl droht nnn die in den Gewerkvereinen organisirte
Arbeiteraristokratie zu verschlingen.

Die Bekämpfung der Sozialdemokratie, von der jetzt so unendlich viel
geschrieben wird, hat demnach nur dann einen Sinn, wenn man darunter die
Beseitigung jener vier Ursachen versteht, d. h. nicht aller vier zugleich, sondern


Grenzboten I 1892 4S
Die sozicildemokratische Presse

der Roben ist, und daß es sich einer höchst entwickelten Industrie und der
vortrefflichsten allgemeinen Schulbildung erfreut. Dazu ist dann noch seit
Ausbruch der sozialdemokratischen Bewegung das strammste Polizeiregiment
getreten. Es giebt zwar Leute, die sich anstellen, als bemerkten sie den ur¬
sächlichen Zusammenhang zwischen den genannten vier Faktoren und der Menge
der Selbstmorde nicht, aber es giebt sicherlich niemanden, der ihn nicht sofort
sähe, sobald seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird. Ganz eben so klar ist
es aber, daß diese vier Faktoren zusammen eine soziale Bewegung hervorbringen
müssen, mag sie nun Sozialdemokratie oder sonstwie heißen, und zwar läßt
sich vermuten, daß die zuerst hervorgetretne Wirkung, die Selbstmordsucht,
in dem Maße abnehmen werde, als sich die soziale Bewegung verbreitet. Ob
eine Abnahme bereits eingetreten ist, weiß ich nicht; schon wenn die Selbst¬
morde in den Industriebezirken seit 1860 nicht sehr zugenommen hätten, würde
ich darin eine Bestätigung meiner Ansicht finden. Drei der genannten Fak¬
toren wirken zusammen, die Armem in eine an allerhand Pein reiche Zwangs¬
lage zu versetzen, die vierte, die Schulbildung, macht, daß der Arme sein
Elend nicht allein im vollen Umfange erkennt und empfindet, sondern auch
noch übertreibt und unerträglich findet. Selbstmord ist die Flucht des Einzelnen
aus diesem unerträglichen, oft vielleicht nnr in der Einbildung unerträglichen
Zustande. Ist aber die Schulbildung so weit gediehen, daß sie im Berein mit
der Presse eine Organisation zum gemeinsamen Widerstande gegen die be¬
drückenden Mächte ermöglicht, so kann der Einzelne in der Hoffnung auf den
Erfolg der Bewegung seinen Fluchtversuch verschieben. Selbst wo keine Hoff¬
nung auf Besserung vorhanden ist, macht schon der Kampf den Zustand er¬
träglicher. Denn reine Passivität ist für den geweckten Menschen das schlecht¬
hin unerträgliche. Den Druck mit Stoß und Schlag abwehren, selbst schon
in Gemeinschaft mit Genossen auf den Gegner schimpfen dürfen, das flößt
sofort neue Lebenslust ein. Wer das Material dazu hat, der mag sich eine
Tabelle oder eine farbige Karte anfertigen, in der die Größe der genannten
vier Faktoren für die einzelnen Länder in Ziffern oder schattirter Farben an¬
gegeben ist, und daneben die Verbreitung der Sozialdemokratie, und er wird
finden, daß diese mit dem Produkt jener vier Faktoren zunimmt. Wenn seit
einiger Zeit die englischen Gewerkvereine mehr und mehr ins sozialdemokratische
Fahrwasser geraten, so ist daran ohne Zweifel der seit zwei Jahrzehnten
wirkende mäßige Schulzwang schuld, der die bis dahin ganz tierischen, fürs
öffentliche Leben gar nicht vorhandnen Proletariermassen organisationsfähig
macht; deren Überzahl droht nnn die in den Gewerkvereinen organisirte
Arbeiteraristokratie zu verschlingen.

Die Bekämpfung der Sozialdemokratie, von der jetzt so unendlich viel
geschrieben wird, hat demnach nur dann einen Sinn, wenn man darunter die
Beseitigung jener vier Ursachen versteht, d. h. nicht aller vier zugleich, sondern


Grenzboten I 1892 4S
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[0361] Die sozicildemokratische Presse der Roben ist, und daß es sich einer höchst entwickelten Industrie und der vortrefflichsten allgemeinen Schulbildung erfreut. Dazu ist dann noch seit Ausbruch der sozialdemokratischen Bewegung das strammste Polizeiregiment getreten. Es giebt zwar Leute, die sich anstellen, als bemerkten sie den ur¬ sächlichen Zusammenhang zwischen den genannten vier Faktoren und der Menge der Selbstmorde nicht, aber es giebt sicherlich niemanden, der ihn nicht sofort sähe, sobald seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird. Ganz eben so klar ist es aber, daß diese vier Faktoren zusammen eine soziale Bewegung hervorbringen müssen, mag sie nun Sozialdemokratie oder sonstwie heißen, und zwar läßt sich vermuten, daß die zuerst hervorgetretne Wirkung, die Selbstmordsucht, in dem Maße abnehmen werde, als sich die soziale Bewegung verbreitet. Ob eine Abnahme bereits eingetreten ist, weiß ich nicht; schon wenn die Selbst¬ morde in den Industriebezirken seit 1860 nicht sehr zugenommen hätten, würde ich darin eine Bestätigung meiner Ansicht finden. Drei der genannten Fak¬ toren wirken zusammen, die Armem in eine an allerhand Pein reiche Zwangs¬ lage zu versetzen, die vierte, die Schulbildung, macht, daß der Arme sein Elend nicht allein im vollen Umfange erkennt und empfindet, sondern auch noch übertreibt und unerträglich findet. Selbstmord ist die Flucht des Einzelnen aus diesem unerträglichen, oft vielleicht nnr in der Einbildung unerträglichen Zustande. Ist aber die Schulbildung so weit gediehen, daß sie im Berein mit der Presse eine Organisation zum gemeinsamen Widerstande gegen die be¬ drückenden Mächte ermöglicht, so kann der Einzelne in der Hoffnung auf den Erfolg der Bewegung seinen Fluchtversuch verschieben. Selbst wo keine Hoff¬ nung auf Besserung vorhanden ist, macht schon der Kampf den Zustand er¬ träglicher. Denn reine Passivität ist für den geweckten Menschen das schlecht¬ hin unerträgliche. Den Druck mit Stoß und Schlag abwehren, selbst schon in Gemeinschaft mit Genossen auf den Gegner schimpfen dürfen, das flößt sofort neue Lebenslust ein. Wer das Material dazu hat, der mag sich eine Tabelle oder eine farbige Karte anfertigen, in der die Größe der genannten vier Faktoren für die einzelnen Länder in Ziffern oder schattirter Farben an¬ gegeben ist, und daneben die Verbreitung der Sozialdemokratie, und er wird finden, daß diese mit dem Produkt jener vier Faktoren zunimmt. Wenn seit einiger Zeit die englischen Gewerkvereine mehr und mehr ins sozialdemokratische Fahrwasser geraten, so ist daran ohne Zweifel der seit zwei Jahrzehnten wirkende mäßige Schulzwang schuld, der die bis dahin ganz tierischen, fürs öffentliche Leben gar nicht vorhandnen Proletariermassen organisationsfähig macht; deren Überzahl droht nnn die in den Gewerkvereinen organisirte Arbeiteraristokratie zu verschlingen. Die Bekämpfung der Sozialdemokratie, von der jetzt so unendlich viel geschrieben wird, hat demnach nur dann einen Sinn, wenn man darunter die Beseitigung jener vier Ursachen versteht, d. h. nicht aller vier zugleich, sondern Grenzboten I 1892 4S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/361>, abgerufen am 23.07.2024.