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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Albrecht Diner

welche Strömungen ein Zeitalter beherrschen. Leicht wird der lebendige Fluß
der Erzählung unterbrochen, die Aufmerksamkeit von dem Wesentlichen abgelenkt."
Man kann es weitern Kreisen nicht zumuten, sich 718 Seiten lang durch
schwierige kritische Streitfragen hindurchzuarbeiten, die ohne ein genügendes
Anschauungsmaterial doch nicht verständlich sind. So wird wohl mancher
mit Freuden zu Springers Werke greifen, das auf 164 Seiten ein zusammen¬
hängendes und auch dem Nichteingeweihten verständliches Lebensbild darbietet.

Damit ist aber keineswegs gesagt, daß die neue Biographie ein abge¬
kürzter Thausing wäre. Im Gegenteil, sie beruht, wie das bei Springer
selbstverständlich ist, vollständig auf eignen Forschungen. Bekanntlich hat sich
der berühmte Kunsthistoriker in seinen jüngern Jahren lange mit der Absicht
getragen, eine Biographie Dürers zu schreiben. An Dürers Nosenkranzfest
im Kloster Strcchof zu Prag hefteten sich die ältesten Kuusterinnernngen des
Klosterbräuersohnes. Die Mitteilungen der k. k. Zentralkvmmission enthalten
mehrere Aufsätze von seiner Hand, die sich auf Dürer beziehen. Als er aber
hörte, daß Thausing die Vorbereitungen zu einer ähnlichen Biographie ge¬
troffen habe, ließ er seine Absicht fallen. Denn er sah wohl ein, daß der
Borstand der Albertina in Wien bessere Gelegenheit habe, sich mit den Werken
des Meisters bekannt zu machen, als der Dozent in einer kleinen rheinischen
Universitätsstadt. Als das erwartete Werk erschien, war er zwar in vielen
Beziehungen befriedigt, mußte aber doch gestehen, daß er in manchen Dingen
abweichender Ansicht sei. Ich erinnere mich, daß er in jenem Kolleg über Dürer,
das ich vor nunmehr fünfzehn Jahren in Leipzig bei ihm hörte, die Behaup¬
tungen Thansings der Reihe nach durchnahm und vielfach zu ganz andern
Ergebnissen kam. Deu Entschluß, seine abweichenden Anschauungen zu ver¬
öffentlichen , faßte er, wie es scheint, erst, nachdem 1883 die zweite Auflage
von Thausiugs Dürer erschienen war. Thausing hatte, wie er selbst im Vor¬
worte sagt, gezweifelt, "ob er zu einer durchgreifenden Veränderung des nnn
einmal in der Welt verbreiteten Werkes noch berechtigt sei, und ob es ihm
heute gelingen würde, etwas besseres an die Stelle des alten zu setzen." Wir
wollen darüber mit dem unglücklichen Verfasser, der damals schon leidend war, nicht
rechten. Aber wir begreifen, daß Springer bei der ersten Gelegenheit, die sich
bot, nämlich als die zweite Auslage seiner "Bilder aus der neuern Kunst¬
geschichte" (1886) erschien, einen Aufsatz über "Dürers Entwicklungsgang"
veröffentlichte, worin er sich vielfach in einen Gegensatz zu Thausing stellte.
Später ist dann Conway in seinen lätorar? rsnnüns of ^Ibroolit vürvr
(Cambridge, 1889), die manches verdienstvolle Material enthalten, in allem
wesentlichen wieder ans Thansings Forschungen zurückgegangen. Die jetzt er¬
schienene Biographie endlich ist keineswegs eine bloße Erweiterung des Essays
von 1886. Neide Schriften haben selbständige Bedeutung. Der Essay ist
mehr forschend, die Biographie mehr schildernd. Erst beide zusammen geben


Albrecht Diner

welche Strömungen ein Zeitalter beherrschen. Leicht wird der lebendige Fluß
der Erzählung unterbrochen, die Aufmerksamkeit von dem Wesentlichen abgelenkt."
Man kann es weitern Kreisen nicht zumuten, sich 718 Seiten lang durch
schwierige kritische Streitfragen hindurchzuarbeiten, die ohne ein genügendes
Anschauungsmaterial doch nicht verständlich sind. So wird wohl mancher
mit Freuden zu Springers Werke greifen, das auf 164 Seiten ein zusammen¬
hängendes und auch dem Nichteingeweihten verständliches Lebensbild darbietet.

Damit ist aber keineswegs gesagt, daß die neue Biographie ein abge¬
kürzter Thausing wäre. Im Gegenteil, sie beruht, wie das bei Springer
selbstverständlich ist, vollständig auf eignen Forschungen. Bekanntlich hat sich
der berühmte Kunsthistoriker in seinen jüngern Jahren lange mit der Absicht
getragen, eine Biographie Dürers zu schreiben. An Dürers Nosenkranzfest
im Kloster Strcchof zu Prag hefteten sich die ältesten Kuusterinnernngen des
Klosterbräuersohnes. Die Mitteilungen der k. k. Zentralkvmmission enthalten
mehrere Aufsätze von seiner Hand, die sich auf Dürer beziehen. Als er aber
hörte, daß Thausing die Vorbereitungen zu einer ähnlichen Biographie ge¬
troffen habe, ließ er seine Absicht fallen. Denn er sah wohl ein, daß der
Borstand der Albertina in Wien bessere Gelegenheit habe, sich mit den Werken
des Meisters bekannt zu machen, als der Dozent in einer kleinen rheinischen
Universitätsstadt. Als das erwartete Werk erschien, war er zwar in vielen
Beziehungen befriedigt, mußte aber doch gestehen, daß er in manchen Dingen
abweichender Ansicht sei. Ich erinnere mich, daß er in jenem Kolleg über Dürer,
das ich vor nunmehr fünfzehn Jahren in Leipzig bei ihm hörte, die Behaup¬
tungen Thansings der Reihe nach durchnahm und vielfach zu ganz andern
Ergebnissen kam. Deu Entschluß, seine abweichenden Anschauungen zu ver¬
öffentlichen , faßte er, wie es scheint, erst, nachdem 1883 die zweite Auflage
von Thausiugs Dürer erschienen war. Thausing hatte, wie er selbst im Vor¬
worte sagt, gezweifelt, „ob er zu einer durchgreifenden Veränderung des nnn
einmal in der Welt verbreiteten Werkes noch berechtigt sei, und ob es ihm
heute gelingen würde, etwas besseres an die Stelle des alten zu setzen." Wir
wollen darüber mit dem unglücklichen Verfasser, der damals schon leidend war, nicht
rechten. Aber wir begreifen, daß Springer bei der ersten Gelegenheit, die sich
bot, nämlich als die zweite Auslage seiner „Bilder aus der neuern Kunst¬
geschichte" (1886) erschien, einen Aufsatz über „Dürers Entwicklungsgang"
veröffentlichte, worin er sich vielfach in einen Gegensatz zu Thausing stellte.
Später ist dann Conway in seinen lätorar? rsnnüns of ^Ibroolit vürvr
(Cambridge, 1889), die manches verdienstvolle Material enthalten, in allem
wesentlichen wieder ans Thansings Forschungen zurückgegangen. Die jetzt er¬
schienene Biographie endlich ist keineswegs eine bloße Erweiterung des Essays
von 1886. Neide Schriften haben selbständige Bedeutung. Der Essay ist
mehr forschend, die Biographie mehr schildernd. Erst beide zusammen geben


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[0340] Albrecht Diner welche Strömungen ein Zeitalter beherrschen. Leicht wird der lebendige Fluß der Erzählung unterbrochen, die Aufmerksamkeit von dem Wesentlichen abgelenkt." Man kann es weitern Kreisen nicht zumuten, sich 718 Seiten lang durch schwierige kritische Streitfragen hindurchzuarbeiten, die ohne ein genügendes Anschauungsmaterial doch nicht verständlich sind. So wird wohl mancher mit Freuden zu Springers Werke greifen, das auf 164 Seiten ein zusammen¬ hängendes und auch dem Nichteingeweihten verständliches Lebensbild darbietet. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß die neue Biographie ein abge¬ kürzter Thausing wäre. Im Gegenteil, sie beruht, wie das bei Springer selbstverständlich ist, vollständig auf eignen Forschungen. Bekanntlich hat sich der berühmte Kunsthistoriker in seinen jüngern Jahren lange mit der Absicht getragen, eine Biographie Dürers zu schreiben. An Dürers Nosenkranzfest im Kloster Strcchof zu Prag hefteten sich die ältesten Kuusterinnernngen des Klosterbräuersohnes. Die Mitteilungen der k. k. Zentralkvmmission enthalten mehrere Aufsätze von seiner Hand, die sich auf Dürer beziehen. Als er aber hörte, daß Thausing die Vorbereitungen zu einer ähnlichen Biographie ge¬ troffen habe, ließ er seine Absicht fallen. Denn er sah wohl ein, daß der Borstand der Albertina in Wien bessere Gelegenheit habe, sich mit den Werken des Meisters bekannt zu machen, als der Dozent in einer kleinen rheinischen Universitätsstadt. Als das erwartete Werk erschien, war er zwar in vielen Beziehungen befriedigt, mußte aber doch gestehen, daß er in manchen Dingen abweichender Ansicht sei. Ich erinnere mich, daß er in jenem Kolleg über Dürer, das ich vor nunmehr fünfzehn Jahren in Leipzig bei ihm hörte, die Behaup¬ tungen Thansings der Reihe nach durchnahm und vielfach zu ganz andern Ergebnissen kam. Deu Entschluß, seine abweichenden Anschauungen zu ver¬ öffentlichen , faßte er, wie es scheint, erst, nachdem 1883 die zweite Auflage von Thausiugs Dürer erschienen war. Thausing hatte, wie er selbst im Vor¬ worte sagt, gezweifelt, „ob er zu einer durchgreifenden Veränderung des nnn einmal in der Welt verbreiteten Werkes noch berechtigt sei, und ob es ihm heute gelingen würde, etwas besseres an die Stelle des alten zu setzen." Wir wollen darüber mit dem unglücklichen Verfasser, der damals schon leidend war, nicht rechten. Aber wir begreifen, daß Springer bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, nämlich als die zweite Auslage seiner „Bilder aus der neuern Kunst¬ geschichte" (1886) erschien, einen Aufsatz über „Dürers Entwicklungsgang" veröffentlichte, worin er sich vielfach in einen Gegensatz zu Thausing stellte. Später ist dann Conway in seinen lätorar? rsnnüns of ^Ibroolit vürvr (Cambridge, 1889), die manches verdienstvolle Material enthalten, in allem wesentlichen wieder ans Thansings Forschungen zurückgegangen. Die jetzt er¬ schienene Biographie endlich ist keineswegs eine bloße Erweiterung des Essays von 1886. Neide Schriften haben selbständige Bedeutung. Der Essay ist mehr forschend, die Biographie mehr schildernd. Erst beide zusammen geben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/340>, abgerufen am 23.07.2024.