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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

der Gymnasien zerstören würde; dafür sind die Realschulen ohne Latein und mit
Prvgymnasialklassen möglichst zu vermehren, nnter Umständen auf Kosten der
Gymnasien. 4. Die Examina sind im Sinne größerer Freiheit der Bewegung
zu vermeiden und zu vereinfachen. 5. Den Lehrern ist eine entsprechende ge¬
sellschaftliche Stellung und materielle Ausstattung zu gewähren, aber sie ganz
und gar als Beamte zu behandeln, wie die juristischen Beamten, erscheint
weder in ihrem Interesse noch in dem der Schule, weil sich die strenge Dis¬
ziplin des Beamtentums mit der individuellen Freiheit, die der Lehrer nicht
entbehren kann, nicht vertragen würde, und weil der Staat an ihre Zeit nicht
dieselben Ansprüche stellt, wie bei jenen.

Die neuen preußischen Lehrpläue, die soeben amtlich veröffentlicht worden
sind, stimmen mit den hier aufgestellten und begründeten Gesichtspunkten teil¬
weise überein, aber in sehr wichtigen Punkten stehen sie damit in Widerspruch.
Wem? sie in den Realgymnasien das Latein zu der Bedeutung eiuer Nebensache
Herabdrücken, so ist damit diesen Schulen als wissenschaftlichen Vorbereitungs-
anstalten das Urteil gesprochen, denn eine Erweiterung der Berechtigungen
wird ihnen damit abgeschnitten, sie werden also thatsächlich auf den Aussterbe¬
etat gesetzt, und zwar keineswegs nur in Preußen, sondern in ganz Deutsch-
land, denn diese Frage müßte einheitlich gelöst werden. Wir bedauern das
nicht nur im Interesse der Realgymnasien und der folgerichtigen geschichtlichen
Entwicklung überhaupt, sondern auch im Interesse der humanistischen Gym-
nasien. Denn es ist zu fürchten, daß das realistische Prinzip, das nun doch
einmal Geltung verlangt, noch tiefer in das humanistische Gymnasium ein-
dringen und es schließlich vou innen heraus zerstören wird. Das wäre aber
ein schwerer Schade sür unsre ganze Kultur; denn wenn auch heute das
humanistische Prinzip nicht mehr die Alleinherrschaft beanspruchen kann, es ist
eine Notwendigkeit, daß es überhaupt in einer Schulgattung zu kräftigem Aus¬
drucke gelangt. Jeue Gefahr aber wird sehr in die Nähe gerückt durch die
starke Beschränkung, die der klassische Unterricht in den neuen preußischen
Plänen erfahrt. Deal künftig wird er nur etwa 38 Prozent aller Pslicht-
stunden beanspruchen (98 von 252, bisher 117 von 268, also über 43 Pro¬
zent, in Sachsen auch künftig über 43 Prozent). Wir fürchten, es wird dem
ganzen Unterricht das feste Rückgrat sehlen. Für ganz unglücklich, schon weil
rein äußerlichen Gründen entsprungen, halten wir den "Abschluß" nach der
Untersekunda mit der leidigen besondern Prüfung. Dadurch wird das Gym¬
nasium in zwei ganz verschiedenartige Anstalten zerspalten, eine sechsklassige
für die Masse derer, die gnr keine wissenschaftliche Vorbildung suchen oder
brauchen, und eine dreiklnssige Oberschule für die, die eine wissenschaftliche
Bildung erstreben. Daß mit dem "lateinlvsen Unterbau" praktische Versuche
auch bei uus gemacht werden sollen, kann man nur mit Freude" begrüße",
denn ehe dieses Ideal nicht durch die Erfahrung lui ÄbLui'arm geführt, d. h.


Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

der Gymnasien zerstören würde; dafür sind die Realschulen ohne Latein und mit
Prvgymnasialklassen möglichst zu vermehren, nnter Umständen auf Kosten der
Gymnasien. 4. Die Examina sind im Sinne größerer Freiheit der Bewegung
zu vermeiden und zu vereinfachen. 5. Den Lehrern ist eine entsprechende ge¬
sellschaftliche Stellung und materielle Ausstattung zu gewähren, aber sie ganz
und gar als Beamte zu behandeln, wie die juristischen Beamten, erscheint
weder in ihrem Interesse noch in dem der Schule, weil sich die strenge Dis¬
ziplin des Beamtentums mit der individuellen Freiheit, die der Lehrer nicht
entbehren kann, nicht vertragen würde, und weil der Staat an ihre Zeit nicht
dieselben Ansprüche stellt, wie bei jenen.

Die neuen preußischen Lehrpläue, die soeben amtlich veröffentlicht worden
sind, stimmen mit den hier aufgestellten und begründeten Gesichtspunkten teil¬
weise überein, aber in sehr wichtigen Punkten stehen sie damit in Widerspruch.
Wem? sie in den Realgymnasien das Latein zu der Bedeutung eiuer Nebensache
Herabdrücken, so ist damit diesen Schulen als wissenschaftlichen Vorbereitungs-
anstalten das Urteil gesprochen, denn eine Erweiterung der Berechtigungen
wird ihnen damit abgeschnitten, sie werden also thatsächlich auf den Aussterbe¬
etat gesetzt, und zwar keineswegs nur in Preußen, sondern in ganz Deutsch-
land, denn diese Frage müßte einheitlich gelöst werden. Wir bedauern das
nicht nur im Interesse der Realgymnasien und der folgerichtigen geschichtlichen
Entwicklung überhaupt, sondern auch im Interesse der humanistischen Gym-
nasien. Denn es ist zu fürchten, daß das realistische Prinzip, das nun doch
einmal Geltung verlangt, noch tiefer in das humanistische Gymnasium ein-
dringen und es schließlich vou innen heraus zerstören wird. Das wäre aber
ein schwerer Schade sür unsre ganze Kultur; denn wenn auch heute das
humanistische Prinzip nicht mehr die Alleinherrschaft beanspruchen kann, es ist
eine Notwendigkeit, daß es überhaupt in einer Schulgattung zu kräftigem Aus¬
drucke gelangt. Jeue Gefahr aber wird sehr in die Nähe gerückt durch die
starke Beschränkung, die der klassische Unterricht in den neuen preußischen
Plänen erfahrt. Deal künftig wird er nur etwa 38 Prozent aller Pslicht-
stunden beanspruchen (98 von 252, bisher 117 von 268, also über 43 Pro¬
zent, in Sachsen auch künftig über 43 Prozent). Wir fürchten, es wird dem
ganzen Unterricht das feste Rückgrat sehlen. Für ganz unglücklich, schon weil
rein äußerlichen Gründen entsprungen, halten wir den „Abschluß" nach der
Untersekunda mit der leidigen besondern Prüfung. Dadurch wird das Gym¬
nasium in zwei ganz verschiedenartige Anstalten zerspalten, eine sechsklassige
für die Masse derer, die gnr keine wissenschaftliche Vorbildung suchen oder
brauchen, und eine dreiklnssige Oberschule für die, die eine wissenschaftliche
Bildung erstreben. Daß mit dem „lateinlvsen Unterbau" praktische Versuche
auch bei uus gemacht werden sollen, kann man nur mit Freude» begrüße»,
denn ehe dieses Ideal nicht durch die Erfahrung lui ÄbLui'arm geführt, d. h.


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[0304] Wandlungen in unserm höhern Schulwesen der Gymnasien zerstören würde; dafür sind die Realschulen ohne Latein und mit Prvgymnasialklassen möglichst zu vermehren, nnter Umständen auf Kosten der Gymnasien. 4. Die Examina sind im Sinne größerer Freiheit der Bewegung zu vermeiden und zu vereinfachen. 5. Den Lehrern ist eine entsprechende ge¬ sellschaftliche Stellung und materielle Ausstattung zu gewähren, aber sie ganz und gar als Beamte zu behandeln, wie die juristischen Beamten, erscheint weder in ihrem Interesse noch in dem der Schule, weil sich die strenge Dis¬ ziplin des Beamtentums mit der individuellen Freiheit, die der Lehrer nicht entbehren kann, nicht vertragen würde, und weil der Staat an ihre Zeit nicht dieselben Ansprüche stellt, wie bei jenen. Die neuen preußischen Lehrpläue, die soeben amtlich veröffentlicht worden sind, stimmen mit den hier aufgestellten und begründeten Gesichtspunkten teil¬ weise überein, aber in sehr wichtigen Punkten stehen sie damit in Widerspruch. Wem? sie in den Realgymnasien das Latein zu der Bedeutung eiuer Nebensache Herabdrücken, so ist damit diesen Schulen als wissenschaftlichen Vorbereitungs- anstalten das Urteil gesprochen, denn eine Erweiterung der Berechtigungen wird ihnen damit abgeschnitten, sie werden also thatsächlich auf den Aussterbe¬ etat gesetzt, und zwar keineswegs nur in Preußen, sondern in ganz Deutsch- land, denn diese Frage müßte einheitlich gelöst werden. Wir bedauern das nicht nur im Interesse der Realgymnasien und der folgerichtigen geschichtlichen Entwicklung überhaupt, sondern auch im Interesse der humanistischen Gym- nasien. Denn es ist zu fürchten, daß das realistische Prinzip, das nun doch einmal Geltung verlangt, noch tiefer in das humanistische Gymnasium ein- dringen und es schließlich vou innen heraus zerstören wird. Das wäre aber ein schwerer Schade sür unsre ganze Kultur; denn wenn auch heute das humanistische Prinzip nicht mehr die Alleinherrschaft beanspruchen kann, es ist eine Notwendigkeit, daß es überhaupt in einer Schulgattung zu kräftigem Aus¬ drucke gelangt. Jeue Gefahr aber wird sehr in die Nähe gerückt durch die starke Beschränkung, die der klassische Unterricht in den neuen preußischen Plänen erfahrt. Deal künftig wird er nur etwa 38 Prozent aller Pslicht- stunden beanspruchen (98 von 252, bisher 117 von 268, also über 43 Pro¬ zent, in Sachsen auch künftig über 43 Prozent). Wir fürchten, es wird dem ganzen Unterricht das feste Rückgrat sehlen. Für ganz unglücklich, schon weil rein äußerlichen Gründen entsprungen, halten wir den „Abschluß" nach der Untersekunda mit der leidigen besondern Prüfung. Dadurch wird das Gym¬ nasium in zwei ganz verschiedenartige Anstalten zerspalten, eine sechsklassige für die Masse derer, die gnr keine wissenschaftliche Vorbildung suchen oder brauchen, und eine dreiklnssige Oberschule für die, die eine wissenschaftliche Bildung erstreben. Daß mit dem „lateinlvsen Unterbau" praktische Versuche auch bei uus gemacht werden sollen, kann man nur mit Freude» begrüße», denn ehe dieses Ideal nicht durch die Erfahrung lui ÄbLui'arm geführt, d. h.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/304>, abgerufen am 23.07.2024.