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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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der Gymnasien, so ungleich weniger Aussichten zu eröffnen als diesen? Und
konnte nicht behauptet werden, daß diese Realschulen für neuere Sprachen,
Mathematik und Naturwissenschaften sogar eine bessere Vorbildung gewährten
als die Gymnasien? Der Staat gab diesen Erwägungen Recht, indem er
1870 die Zöglinge der nennklassigen Realschulen zu dem Universitätsstudium
dieser Fächer zuließ. Aber er ging noch weiter. Im Jahre 1882 stellte er
die Realschulen erster Ordnung als Realgymnasien mit einer Verstürknng
des Latein neben die humanistischen Gymnasien und gab ihren Lehrern den¬
selben Rang. Damit erkannte er grundsätzlich die Gleichberechtigung der beiden
Bildungswege an. Aber indem er den Abiturienten der Realgymnasien die
Pforten der Universität nicht wesentlich weiter aufthat als bisher, stellte er
ein Verhältnis her, das vielen durchaus widerspruchsvoll erschien und der
Forderung, den Renlgymuasiasten mindestens noch das Studium der Medizin
freizugeben, nur neue Nahrung gab.

Der augenblickliche Stand der Dinge ist also der: Nebeneinander stehen zwei
gymnasiale Anstalten, beide mit neunjährigen Lehrgänge, beide mit Latein,
das bei beiden als Grundlage für allen fremdsprachlichen Unterricht behandelt
wird, beide mit wenig verschiednen Unterrichtszielen in de" exakten Fächern
und in den Realien, das humanistische Gymnasium von dem Realgymnasium
unterschieden durch den Betrieb des Griechischen, wofür das Realgymnasium
das Englische setzt. Beide erheben den Anspruch, eine allgemeine wissenschaft¬
liche Vorbildung zu vermitteln. Die lauge festgehaltene Einheit dieser wissen¬
schaftlichen Vorbildung ist also grundsätzlich und thatsächlich aufgegeben, aber
beide Anstalten haben so wichtige Grundlagen gemeinsam, haben namentlich
den Zusammenhang mit der altsprachigeu Grundlage aller hohem Bildung,
dem Latein, so entschieden festgehalten, daß das, was sie einigt, stärker ist, als
das, was sie trennt, nnr daß ebeu die eine mehr die ......- kurz gesagt --
sprachlich-historischen, die andre die modernen Bildungsmittel betont. Unter
ihnen stehen "lateiulosc" Schulen mit verschieden bemessener KursuSdauer, die
gar nicht die Vorbereitung für wissenschaftliches Studium, sondern unmittelbar
für das praktische Leben anstreben, demnach, sie mögen Realschulen oder anders
heißen, mit dem modernen Realgymnasium innerlich nichts gemein haben, als
den ersten Bestandteil ihres Namens. Diese Gestaltung der Dinge entspricht
genau den allgemeinen Knlturverhültnissen: dem mächtigen Aufschwünge der
uaturlvissenschaftlich-mathematischen Fächer und dem Aufstreben eines bürger¬
lichen Mittelstandes, der die Führung auf wirtschaftlichem Gebiete besitzt, in
den Parlamenten sich zu den liberalen Parteien organisirt hat, eine oft äußerst
verwickelte städtische Verwaltung leitet und an der Rechtsprechung wie an
der Kirchenverwaltung einen bedeutenden Anteil gewonnen hat. Die gegen¬
wärtige Gliederung des höhern Unterrichtswesens ist also ganz organisch er¬
wachsen und kann daher nicht willkürlich geändert werden.


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der Gymnasien, so ungleich weniger Aussichten zu eröffnen als diesen? Und
konnte nicht behauptet werden, daß diese Realschulen für neuere Sprachen,
Mathematik und Naturwissenschaften sogar eine bessere Vorbildung gewährten
als die Gymnasien? Der Staat gab diesen Erwägungen Recht, indem er
1870 die Zöglinge der nennklassigen Realschulen zu dem Universitätsstudium
dieser Fächer zuließ. Aber er ging noch weiter. Im Jahre 1882 stellte er
die Realschulen erster Ordnung als Realgymnasien mit einer Verstürknng
des Latein neben die humanistischen Gymnasien und gab ihren Lehrern den¬
selben Rang. Damit erkannte er grundsätzlich die Gleichberechtigung der beiden
Bildungswege an. Aber indem er den Abiturienten der Realgymnasien die
Pforten der Universität nicht wesentlich weiter aufthat als bisher, stellte er
ein Verhältnis her, das vielen durchaus widerspruchsvoll erschien und der
Forderung, den Renlgymuasiasten mindestens noch das Studium der Medizin
freizugeben, nur neue Nahrung gab.

Der augenblickliche Stand der Dinge ist also der: Nebeneinander stehen zwei
gymnasiale Anstalten, beide mit neunjährigen Lehrgänge, beide mit Latein,
das bei beiden als Grundlage für allen fremdsprachlichen Unterricht behandelt
wird, beide mit wenig verschiednen Unterrichtszielen in de» exakten Fächern
und in den Realien, das humanistische Gymnasium von dem Realgymnasium
unterschieden durch den Betrieb des Griechischen, wofür das Realgymnasium
das Englische setzt. Beide erheben den Anspruch, eine allgemeine wissenschaft¬
liche Vorbildung zu vermitteln. Die lauge festgehaltene Einheit dieser wissen¬
schaftlichen Vorbildung ist also grundsätzlich und thatsächlich aufgegeben, aber
beide Anstalten haben so wichtige Grundlagen gemeinsam, haben namentlich
den Zusammenhang mit der altsprachigeu Grundlage aller hohem Bildung,
dem Latein, so entschieden festgehalten, daß das, was sie einigt, stärker ist, als
das, was sie trennt, nnr daß ebeu die eine mehr die ......- kurz gesagt —
sprachlich-historischen, die andre die modernen Bildungsmittel betont. Unter
ihnen stehen „lateiulosc" Schulen mit verschieden bemessener KursuSdauer, die
gar nicht die Vorbereitung für wissenschaftliches Studium, sondern unmittelbar
für das praktische Leben anstreben, demnach, sie mögen Realschulen oder anders
heißen, mit dem modernen Realgymnasium innerlich nichts gemein haben, als
den ersten Bestandteil ihres Namens. Diese Gestaltung der Dinge entspricht
genau den allgemeinen Knlturverhültnissen: dem mächtigen Aufschwünge der
uaturlvissenschaftlich-mathematischen Fächer und dem Aufstreben eines bürger¬
lichen Mittelstandes, der die Führung auf wirtschaftlichem Gebiete besitzt, in
den Parlamenten sich zu den liberalen Parteien organisirt hat, eine oft äußerst
verwickelte städtische Verwaltung leitet und an der Rechtsprechung wie an
der Kirchenverwaltung einen bedeutenden Anteil gewonnen hat. Die gegen¬
wärtige Gliederung des höhern Unterrichtswesens ist also ganz organisch er¬
wachsen und kann daher nicht willkürlich geändert werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/300>, abgerufen am 23.07.2024.