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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

dreißiger Jahren in Preußen unter der Verwaltung von Johannes Schulze
und darnach überhaupt in den deutschen Staaten gestaltete. Es lehrte die
alten Sprachen als das vorzüglichste Mittel zu formaler, d, i. logischer Bil¬
dung und wollte durch sie einführen in die antike Kultur als eine in sich
abgeschlossene, harmonisch ausgebildete Welt, es verband damit die Einführung
in die vaterländische Litteratur und in eine moderne Sprache, in Geschichte,
Naturwissenschaften und Mathematik, es beschränkte endlich die lateinische
Unterrichtssprache auf die Verwendung bei der Interpretation und bei den
Disputationen. Es that damit einen weitern Schritt auf der Bah" der
Modernisirung und Verdeutschung, aber es geriet in einen innern Widerspruch,
wenn es mit der starken Vermehrung des jetzt sehr verschiedenartigen Lehrstoffs
und mit der veränderten Behandlung der alten Sprachen und Schriftsteller
die freie schriftliche und mündliche Beherrschung mindestens des Lateinische"
verbinden wollte, und dies in einer Zeit, wo die sozusagen naive Anwendung
dieser Sprache, wie sie noch das achtzehnte Jahrhundert geübt hatte, durch
die immer tiefer eindringende philologische Kritik des antiken Sprachgebrauchs
mehr und mehr unmöglich gemacht wurde nud die geistige Lebenslust immer
weniger diese Stilübungen trug. Trotzdem blieb dies so umgestaltete Gym¬
nasium nicht nur die Vorschule für die Universitäten, sondern überhaupt die
Einheitsschule für alle höhern Berufsarten, die irgendwelche wissenschaftliche
Vorbildung erforderten, "ut zwar besonders infolge des Berechtigungswesens,
das sich vor allem in Preußen daran schloß. Daher trat eben hier eine un¬
gesunde Vermehrung der Gymnasien, zumal in kleinen Städten, ein.

Aber ein bürgerlicher Mittelstand, der in dem immer schärfer angespannten,
wirtschaftlichen Wettbeiverb aller Völker leistungsfähig bleiben wollte, konnte
unmöglich die große Masse seiner Söhne einen Bildungsweg gehe" lasse",
der für deu Übergang ins praktische Leben zu lang und zu stark mit fremd¬
artigem Wissensstoff beladen war. Ehe"sowe"ig konnte er sich freilich jetzt
mit der elementaren Schulung begnügen, die früher genügt hatte. Die Folge
war, daß sich, abgesehen von de" verschiedenartigsten Fachschulen, höhere
Bürgerschule" oder Realschulen ausbildeten, die auf die Aneignung einer an¬
tiken Sprache, also ans wirklich wissenschaftliche sprachliche Ausbildung ver¬
zichtend, sich wesentlich ans moderne Sprachen und deutsche Litteratur, Mathe¬
matik und Naturwissenschaften, begründeten und diesen Bildungsgang in einem
Lebensalter abschlossen, das den unmittelbaren Übertritt zu einem höher"
praktische" Berufe gestattete. Da diese Anstalten aus de" Bedürfnissen des
Bürgerstandes hervorgingen, so wurden sie selbstverständlich nicht El"richt""gen
des Staates, sondern der Stadtgemeinde", doch gab ihnen der Staat -- in
Preußen seit 18Z2 - eine feste gesetzliche Grundlage und wahrte sich die
Oberaufsicht. Darüber hinaus aber strebten bald Anstalten, die i" der Dauer
ihres Lehrganges den humanistischen Gymuasie" gleichkäme" und zu den


Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

dreißiger Jahren in Preußen unter der Verwaltung von Johannes Schulze
und darnach überhaupt in den deutschen Staaten gestaltete. Es lehrte die
alten Sprachen als das vorzüglichste Mittel zu formaler, d, i. logischer Bil¬
dung und wollte durch sie einführen in die antike Kultur als eine in sich
abgeschlossene, harmonisch ausgebildete Welt, es verband damit die Einführung
in die vaterländische Litteratur und in eine moderne Sprache, in Geschichte,
Naturwissenschaften und Mathematik, es beschränkte endlich die lateinische
Unterrichtssprache auf die Verwendung bei der Interpretation und bei den
Disputationen. Es that damit einen weitern Schritt auf der Bah» der
Modernisirung und Verdeutschung, aber es geriet in einen innern Widerspruch,
wenn es mit der starken Vermehrung des jetzt sehr verschiedenartigen Lehrstoffs
und mit der veränderten Behandlung der alten Sprachen und Schriftsteller
die freie schriftliche und mündliche Beherrschung mindestens des Lateinische»
verbinden wollte, und dies in einer Zeit, wo die sozusagen naive Anwendung
dieser Sprache, wie sie noch das achtzehnte Jahrhundert geübt hatte, durch
die immer tiefer eindringende philologische Kritik des antiken Sprachgebrauchs
mehr und mehr unmöglich gemacht wurde nud die geistige Lebenslust immer
weniger diese Stilübungen trug. Trotzdem blieb dies so umgestaltete Gym¬
nasium nicht nur die Vorschule für die Universitäten, sondern überhaupt die
Einheitsschule für alle höhern Berufsarten, die irgendwelche wissenschaftliche
Vorbildung erforderten, »ut zwar besonders infolge des Berechtigungswesens,
das sich vor allem in Preußen daran schloß. Daher trat eben hier eine un¬
gesunde Vermehrung der Gymnasien, zumal in kleinen Städten, ein.

Aber ein bürgerlicher Mittelstand, der in dem immer schärfer angespannten,
wirtschaftlichen Wettbeiverb aller Völker leistungsfähig bleiben wollte, konnte
unmöglich die große Masse seiner Söhne einen Bildungsweg gehe» lasse»,
der für deu Übergang ins praktische Leben zu lang und zu stark mit fremd¬
artigem Wissensstoff beladen war. Ehe»sowe»ig konnte er sich freilich jetzt
mit der elementaren Schulung begnügen, die früher genügt hatte. Die Folge
war, daß sich, abgesehen von de» verschiedenartigsten Fachschulen, höhere
Bürgerschule» oder Realschulen ausbildeten, die auf die Aneignung einer an¬
tiken Sprache, also ans wirklich wissenschaftliche sprachliche Ausbildung ver¬
zichtend, sich wesentlich ans moderne Sprachen und deutsche Litteratur, Mathe¬
matik und Naturwissenschaften, begründeten und diesen Bildungsgang in einem
Lebensalter abschlossen, das den unmittelbaren Übertritt zu einem höher»
praktische» Berufe gestattete. Da diese Anstalten aus de» Bedürfnissen des
Bürgerstandes hervorgingen, so wurden sie selbstverständlich nicht El»richt»»gen
des Staates, sondern der Stadtgemeinde», doch gab ihnen der Staat — in
Preußen seit 18Z2 - eine feste gesetzliche Grundlage und wahrte sich die
Oberaufsicht. Darüber hinaus aber strebten bald Anstalten, die i» der Dauer
ihres Lehrganges den humanistischen Gymuasie» gleichkäme» und zu den


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[0298] Wandlungen in unserm höhern Schulwesen dreißiger Jahren in Preußen unter der Verwaltung von Johannes Schulze und darnach überhaupt in den deutschen Staaten gestaltete. Es lehrte die alten Sprachen als das vorzüglichste Mittel zu formaler, d, i. logischer Bil¬ dung und wollte durch sie einführen in die antike Kultur als eine in sich abgeschlossene, harmonisch ausgebildete Welt, es verband damit die Einführung in die vaterländische Litteratur und in eine moderne Sprache, in Geschichte, Naturwissenschaften und Mathematik, es beschränkte endlich die lateinische Unterrichtssprache auf die Verwendung bei der Interpretation und bei den Disputationen. Es that damit einen weitern Schritt auf der Bah» der Modernisirung und Verdeutschung, aber es geriet in einen innern Widerspruch, wenn es mit der starken Vermehrung des jetzt sehr verschiedenartigen Lehrstoffs und mit der veränderten Behandlung der alten Sprachen und Schriftsteller die freie schriftliche und mündliche Beherrschung mindestens des Lateinische» verbinden wollte, und dies in einer Zeit, wo die sozusagen naive Anwendung dieser Sprache, wie sie noch das achtzehnte Jahrhundert geübt hatte, durch die immer tiefer eindringende philologische Kritik des antiken Sprachgebrauchs mehr und mehr unmöglich gemacht wurde nud die geistige Lebenslust immer weniger diese Stilübungen trug. Trotzdem blieb dies so umgestaltete Gym¬ nasium nicht nur die Vorschule für die Universitäten, sondern überhaupt die Einheitsschule für alle höhern Berufsarten, die irgendwelche wissenschaftliche Vorbildung erforderten, »ut zwar besonders infolge des Berechtigungswesens, das sich vor allem in Preußen daran schloß. Daher trat eben hier eine un¬ gesunde Vermehrung der Gymnasien, zumal in kleinen Städten, ein. Aber ein bürgerlicher Mittelstand, der in dem immer schärfer angespannten, wirtschaftlichen Wettbeiverb aller Völker leistungsfähig bleiben wollte, konnte unmöglich die große Masse seiner Söhne einen Bildungsweg gehe» lasse», der für deu Übergang ins praktische Leben zu lang und zu stark mit fremd¬ artigem Wissensstoff beladen war. Ehe»sowe»ig konnte er sich freilich jetzt mit der elementaren Schulung begnügen, die früher genügt hatte. Die Folge war, daß sich, abgesehen von de» verschiedenartigsten Fachschulen, höhere Bürgerschule» oder Realschulen ausbildeten, die auf die Aneignung einer an¬ tiken Sprache, also ans wirklich wissenschaftliche sprachliche Ausbildung ver¬ zichtend, sich wesentlich ans moderne Sprachen und deutsche Litteratur, Mathe¬ matik und Naturwissenschaften, begründeten und diesen Bildungsgang in einem Lebensalter abschlossen, das den unmittelbaren Übertritt zu einem höher» praktische» Berufe gestattete. Da diese Anstalten aus de» Bedürfnissen des Bürgerstandes hervorgingen, so wurden sie selbstverständlich nicht El»richt»»gen des Staates, sondern der Stadtgemeinde», doch gab ihnen der Staat — in Preußen seit 18Z2 - eine feste gesetzliche Grundlage und wahrte sich die Oberaufsicht. Darüber hinaus aber strebten bald Anstalten, die i» der Dauer ihres Lehrganges den humanistischen Gymuasie» gleichkäme» und zu den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/298>, abgerufen am 23.07.2024.