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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

Bildung, gerade wie die Scholastik, nur mit andern Mitteln und in andern
Formen, sie standen dem eigentlichen Volksleben gerade so fremd gegenüber
wie diese, und es bestand eine innere Verwandtschaft zwischen den Bestrebungen
der Humanisten und dem wesentlich romanischen Weltreiche Karls V., geradeso
wie zwischen der scholastischen Gelehrsamkeit und der das Abendland über¬
spannenden römischen Kirche.

So selbstbewußt daher die Humanisten auftraten, so lebhaft sie sich als
die Männer einer neuen Zeit fühlten, sie hätten weder die mittelalterliche
Kirche noch das mittelalterliche Unterrichtswesen ans den Angeln gehoben.
Beides vermochte erst der religiöse Genius, der tiefe deutsche Gewissensernst
des deutschen Volksmannes Martin Luther und zwar mit Hilfe der politisch
führenden Mächte in Deutschland, des Fürstentums und des Bürgertums. Er
war es denn auch, der rasch die Bedeutung einer Umgestaltung des höhern
Unterrichtswesens für sein eignes Werk begriff.

Mit genialen Blicke stellte Luther schon 1523 in jenem Sendschreiben an die
Bürgermeister und Ratsherren aller Städte in deutschen Landen, das ein geist¬
voller Schulmann als den Stiftungsbrief der deutschen Gymnasien bezeichnet
hat, den höhern Schulen die Aufgabe, dnrch die Pflege der alten Sprachen,
der Geschichte und Mathematik, der Musik und der körperlichen Ausbildung
nicht nur Diener der Kirche, sondern auch der Gemeinde und des Staates zu
erziehen und eine allgemeine höhere Allsbildung überhaupt zu geben. Doch
die Zeit war für sein Ideal nicht reif; hier so wenig wie in der thatsächlichen
Gestaltung der evangelischen Kirche wurde es verwirklicht, und das politische
Ergebnis der Reformationszeit war für Deutschland nicht der nationale, son¬
dern der ständisch-territoriale, konfessionell geschlossene Staat. In ihm herrschten
der Adel, die städtischen Patriziergeschlechter und die lutherische oder die
katholische Geistlichkeit über die Massen der Bauern und der zünftigen Hand¬
werker; er stellte demnach eine lose Verbindung fürstlicher Domänen, adliger
oder kirchlicher Güter und städtischer Gebiete dar, über denen sich eine schwache
landesherrliche Gewalt erhob. Das einst so starke, noch in der Reformations¬
zeit so kräftige Nationalgefühl war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
im Absterben, seitdem der politische Zerfall und der kirchliche Zwiespalt die
Nation von jeder gemeinsamen Teilnahme an der großen europäischen Politik
ausschloß; das geistige Leben beherrschte auf der einen Seite die bald in
scholastische Erstarrung versinkende lutherische Theologie, auf der andern
der Jesuitismus und in beiden Lagern das römische Recht. Mit Verachtung
schallten diese "Gelehrten" auf das Leben des Volkes und auf alles Volks¬
tümliche herab, die nationale Litteratur verkümmerte. Diesen Zuständen ent¬
spricht genau, was die höhern protestantischen Schulen damals waren und
leisteten. In engster Verbindung mit der Kirche, wie vielfach bisher, daher
auch oft in alten kirchlichen Gebäuden untergebracht und mit kirchlichen


Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

Bildung, gerade wie die Scholastik, nur mit andern Mitteln und in andern
Formen, sie standen dem eigentlichen Volksleben gerade so fremd gegenüber
wie diese, und es bestand eine innere Verwandtschaft zwischen den Bestrebungen
der Humanisten und dem wesentlich romanischen Weltreiche Karls V., geradeso
wie zwischen der scholastischen Gelehrsamkeit und der das Abendland über¬
spannenden römischen Kirche.

So selbstbewußt daher die Humanisten auftraten, so lebhaft sie sich als
die Männer einer neuen Zeit fühlten, sie hätten weder die mittelalterliche
Kirche noch das mittelalterliche Unterrichtswesen ans den Angeln gehoben.
Beides vermochte erst der religiöse Genius, der tiefe deutsche Gewissensernst
des deutschen Volksmannes Martin Luther und zwar mit Hilfe der politisch
führenden Mächte in Deutschland, des Fürstentums und des Bürgertums. Er
war es denn auch, der rasch die Bedeutung einer Umgestaltung des höhern
Unterrichtswesens für sein eignes Werk begriff.

Mit genialen Blicke stellte Luther schon 1523 in jenem Sendschreiben an die
Bürgermeister und Ratsherren aller Städte in deutschen Landen, das ein geist¬
voller Schulmann als den Stiftungsbrief der deutschen Gymnasien bezeichnet
hat, den höhern Schulen die Aufgabe, dnrch die Pflege der alten Sprachen,
der Geschichte und Mathematik, der Musik und der körperlichen Ausbildung
nicht nur Diener der Kirche, sondern auch der Gemeinde und des Staates zu
erziehen und eine allgemeine höhere Allsbildung überhaupt zu geben. Doch
die Zeit war für sein Ideal nicht reif; hier so wenig wie in der thatsächlichen
Gestaltung der evangelischen Kirche wurde es verwirklicht, und das politische
Ergebnis der Reformationszeit war für Deutschland nicht der nationale, son¬
dern der ständisch-territoriale, konfessionell geschlossene Staat. In ihm herrschten
der Adel, die städtischen Patriziergeschlechter und die lutherische oder die
katholische Geistlichkeit über die Massen der Bauern und der zünftigen Hand¬
werker; er stellte demnach eine lose Verbindung fürstlicher Domänen, adliger
oder kirchlicher Güter und städtischer Gebiete dar, über denen sich eine schwache
landesherrliche Gewalt erhob. Das einst so starke, noch in der Reformations¬
zeit so kräftige Nationalgefühl war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
im Absterben, seitdem der politische Zerfall und der kirchliche Zwiespalt die
Nation von jeder gemeinsamen Teilnahme an der großen europäischen Politik
ausschloß; das geistige Leben beherrschte auf der einen Seite die bald in
scholastische Erstarrung versinkende lutherische Theologie, auf der andern
der Jesuitismus und in beiden Lagern das römische Recht. Mit Verachtung
schallten diese „Gelehrten" auf das Leben des Volkes und auf alles Volks¬
tümliche herab, die nationale Litteratur verkümmerte. Diesen Zuständen ent¬
spricht genau, was die höhern protestantischen Schulen damals waren und
leisteten. In engster Verbindung mit der Kirche, wie vielfach bisher, daher
auch oft in alten kirchlichen Gebäuden untergebracht und mit kirchlichen


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[0292] Wandlungen in unserm höhern Schulwesen Bildung, gerade wie die Scholastik, nur mit andern Mitteln und in andern Formen, sie standen dem eigentlichen Volksleben gerade so fremd gegenüber wie diese, und es bestand eine innere Verwandtschaft zwischen den Bestrebungen der Humanisten und dem wesentlich romanischen Weltreiche Karls V., geradeso wie zwischen der scholastischen Gelehrsamkeit und der das Abendland über¬ spannenden römischen Kirche. So selbstbewußt daher die Humanisten auftraten, so lebhaft sie sich als die Männer einer neuen Zeit fühlten, sie hätten weder die mittelalterliche Kirche noch das mittelalterliche Unterrichtswesen ans den Angeln gehoben. Beides vermochte erst der religiöse Genius, der tiefe deutsche Gewissensernst des deutschen Volksmannes Martin Luther und zwar mit Hilfe der politisch führenden Mächte in Deutschland, des Fürstentums und des Bürgertums. Er war es denn auch, der rasch die Bedeutung einer Umgestaltung des höhern Unterrichtswesens für sein eignes Werk begriff. Mit genialen Blicke stellte Luther schon 1523 in jenem Sendschreiben an die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte in deutschen Landen, das ein geist¬ voller Schulmann als den Stiftungsbrief der deutschen Gymnasien bezeichnet hat, den höhern Schulen die Aufgabe, dnrch die Pflege der alten Sprachen, der Geschichte und Mathematik, der Musik und der körperlichen Ausbildung nicht nur Diener der Kirche, sondern auch der Gemeinde und des Staates zu erziehen und eine allgemeine höhere Allsbildung überhaupt zu geben. Doch die Zeit war für sein Ideal nicht reif; hier so wenig wie in der thatsächlichen Gestaltung der evangelischen Kirche wurde es verwirklicht, und das politische Ergebnis der Reformationszeit war für Deutschland nicht der nationale, son¬ dern der ständisch-territoriale, konfessionell geschlossene Staat. In ihm herrschten der Adel, die städtischen Patriziergeschlechter und die lutherische oder die katholische Geistlichkeit über die Massen der Bauern und der zünftigen Hand¬ werker; er stellte demnach eine lose Verbindung fürstlicher Domänen, adliger oder kirchlicher Güter und städtischer Gebiete dar, über denen sich eine schwache landesherrliche Gewalt erhob. Das einst so starke, noch in der Reformations¬ zeit so kräftige Nationalgefühl war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Absterben, seitdem der politische Zerfall und der kirchliche Zwiespalt die Nation von jeder gemeinsamen Teilnahme an der großen europäischen Politik ausschloß; das geistige Leben beherrschte auf der einen Seite die bald in scholastische Erstarrung versinkende lutherische Theologie, auf der andern der Jesuitismus und in beiden Lagern das römische Recht. Mit Verachtung schallten diese „Gelehrten" auf das Leben des Volkes und auf alles Volks¬ tümliche herab, die nationale Litteratur verkümmerte. Diesen Zuständen ent¬ spricht genau, was die höhern protestantischen Schulen damals waren und leisteten. In engster Verbindung mit der Kirche, wie vielfach bisher, daher auch oft in alten kirchlichen Gebäuden untergebracht und mit kirchlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/292>, abgerufen am 23.07.2024.