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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Sprache in Wort und Schrift, die sobald wie möglich auch Unterrichtssprache
wurde, und eine gewisse Kenntnis der lateinische" Litteratur, namentlich der
Dichter und Geschichtschreiber, aber wesentlich von dem Gesichtspunkte aus,
daß sie Vorbilder für die eigne lateinische Darstellung boten. Dem ent¬
sprechend wurden sie nur als rhetorisch-stilistische Kunstwerke behandelt und
zergliederte in die eigentümliche Kultur, aus der sie erwachsen waren, ein¬
zudringen war dem Mittelalter schon deshalb ganz unmöglich, weil seine eigne
Kultur dafür noch viel zu unreif war, also tief uuter der antiken stand. Der
Hauptzweck der ganzen kirchlichen Bildung war also rein formell, wie sich
schon ans den Gegenständen des Triviums (Grammatik, Rhetorik, Logik) er¬
giebt. Der höhere Kursus des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Astro¬
nomie, Musik) gab dazu eine realistische Ergänzung, eine mathematisch-natur¬
wissenschaftliche Bildung, die sich zwar thatsächlich auf etwas Rechnen, einige
geometrische Sätze und ein paar Formel" zur Berechnung der kirchlichen Feste
(Lomxutus elivIkÄastious) beschränkte, aber doch den Bedürfnissen völlig ge¬
nügte. Sind doch selbst die großartigsten romanischen Dome von geistliche"
Baukünstlern und Werkmeistern aufgeführt worden.

So blieb es bis tief ins zwölfte Jahrhundert. Wie die damalige Welt
nach der geistlichen Anschauung in ein Gvttesreich und ein Reich der Sünde,
in die Kirche und die Laienschaft, zerfiel, so standen zwei völlig getrennte
Bildungskreise neben einander, der eine national, halb heidnisch, ohne Schrift,
der andre römisch, geistlich, litterarisch. Aber sie waren dnrch die praktische"
Interessen so eng mit einander verflochten, daß der innere Gegensatz selten und
immer u"r stoßweise z"in Bewußtsei" kam.

Diese naiven Zustände begannen sich zu ändern, als mit der zweiten
Hälfte des elften Jahrhunderts der weltfeindliche, rücksichtslose Idealismus
der französischen Cluniacenser die praktischen Folgerungen aus jener Weltan¬
schauung zog. Als ein Gvttesreich sollte sich die Kirche von der sündigen
Welt trennen und sie sich unterwerfen. Für den mittelalterlichen Staat und
namentlich für Deutschland, dessen Nerwaltuug auf der engsten Nerbinduug
des .Königtums und der Kirche beruhte, bedeutete das eine Umwälzung ohne
gleichen. Für diese Ideen galt es die Geister zu Schulen. Daher wichen zu¬
erst in den nordfranzösischen Bildungsanstalten die klassischen Schriftsteller vor
moralischen Handbüchern, und die stilistisch-rhetorische Behandlung der Autoren
trat völlig zurück hinter der logisch-dialektischen, denn der Zweck war jetzt, die
Zöglinge tüchtig zu machen zur verstandesmäßigen Erfassung, Begründung
und Verteidigung der Kirchenlehre. Selbst die Grammatik wurde jetzt durch¬
aus als angewandte Logik und als Vorschule ster die shstematische Behand¬
lung der Logik betrieben. So bildete sich jene eigentümliche Schulsprache,
tanz scholastische Latein, das mit der klassischen Latinität fast nichts mehr ge¬
mein hatte, sondern ganz den Bedürfnissen der Zeit angepaßt, daher aber auch


Sprache in Wort und Schrift, die sobald wie möglich auch Unterrichtssprache
wurde, und eine gewisse Kenntnis der lateinische» Litteratur, namentlich der
Dichter und Geschichtschreiber, aber wesentlich von dem Gesichtspunkte aus,
daß sie Vorbilder für die eigne lateinische Darstellung boten. Dem ent¬
sprechend wurden sie nur als rhetorisch-stilistische Kunstwerke behandelt und
zergliederte in die eigentümliche Kultur, aus der sie erwachsen waren, ein¬
zudringen war dem Mittelalter schon deshalb ganz unmöglich, weil seine eigne
Kultur dafür noch viel zu unreif war, also tief uuter der antiken stand. Der
Hauptzweck der ganzen kirchlichen Bildung war also rein formell, wie sich
schon ans den Gegenständen des Triviums (Grammatik, Rhetorik, Logik) er¬
giebt. Der höhere Kursus des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Astro¬
nomie, Musik) gab dazu eine realistische Ergänzung, eine mathematisch-natur¬
wissenschaftliche Bildung, die sich zwar thatsächlich auf etwas Rechnen, einige
geometrische Sätze und ein paar Formel» zur Berechnung der kirchlichen Feste
(Lomxutus elivIkÄastious) beschränkte, aber doch den Bedürfnissen völlig ge¬
nügte. Sind doch selbst die großartigsten romanischen Dome von geistliche»
Baukünstlern und Werkmeistern aufgeführt worden.

So blieb es bis tief ins zwölfte Jahrhundert. Wie die damalige Welt
nach der geistlichen Anschauung in ein Gvttesreich und ein Reich der Sünde,
in die Kirche und die Laienschaft, zerfiel, so standen zwei völlig getrennte
Bildungskreise neben einander, der eine national, halb heidnisch, ohne Schrift,
der andre römisch, geistlich, litterarisch. Aber sie waren dnrch die praktische»
Interessen so eng mit einander verflochten, daß der innere Gegensatz selten und
immer u»r stoßweise z»in Bewußtsei» kam.

Diese naiven Zustände begannen sich zu ändern, als mit der zweiten
Hälfte des elften Jahrhunderts der weltfeindliche, rücksichtslose Idealismus
der französischen Cluniacenser die praktischen Folgerungen aus jener Weltan¬
schauung zog. Als ein Gvttesreich sollte sich die Kirche von der sündigen
Welt trennen und sie sich unterwerfen. Für den mittelalterlichen Staat und
namentlich für Deutschland, dessen Nerwaltuug auf der engsten Nerbinduug
des .Königtums und der Kirche beruhte, bedeutete das eine Umwälzung ohne
gleichen. Für diese Ideen galt es die Geister zu Schulen. Daher wichen zu¬
erst in den nordfranzösischen Bildungsanstalten die klassischen Schriftsteller vor
moralischen Handbüchern, und die stilistisch-rhetorische Behandlung der Autoren
trat völlig zurück hinter der logisch-dialektischen, denn der Zweck war jetzt, die
Zöglinge tüchtig zu machen zur verstandesmäßigen Erfassung, Begründung
und Verteidigung der Kirchenlehre. Selbst die Grammatik wurde jetzt durch¬
aus als angewandte Logik und als Vorschule ster die shstematische Behand¬
lung der Logik betrieben. So bildete sich jene eigentümliche Schulsprache,
tanz scholastische Latein, das mit der klassischen Latinität fast nichts mehr ge¬
mein hatte, sondern ganz den Bedürfnissen der Zeit angepaßt, daher aber auch


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[0288] Sprache in Wort und Schrift, die sobald wie möglich auch Unterrichtssprache wurde, und eine gewisse Kenntnis der lateinische» Litteratur, namentlich der Dichter und Geschichtschreiber, aber wesentlich von dem Gesichtspunkte aus, daß sie Vorbilder für die eigne lateinische Darstellung boten. Dem ent¬ sprechend wurden sie nur als rhetorisch-stilistische Kunstwerke behandelt und zergliederte in die eigentümliche Kultur, aus der sie erwachsen waren, ein¬ zudringen war dem Mittelalter schon deshalb ganz unmöglich, weil seine eigne Kultur dafür noch viel zu unreif war, also tief uuter der antiken stand. Der Hauptzweck der ganzen kirchlichen Bildung war also rein formell, wie sich schon ans den Gegenständen des Triviums (Grammatik, Rhetorik, Logik) er¬ giebt. Der höhere Kursus des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Astro¬ nomie, Musik) gab dazu eine realistische Ergänzung, eine mathematisch-natur¬ wissenschaftliche Bildung, die sich zwar thatsächlich auf etwas Rechnen, einige geometrische Sätze und ein paar Formel» zur Berechnung der kirchlichen Feste (Lomxutus elivIkÄastious) beschränkte, aber doch den Bedürfnissen völlig ge¬ nügte. Sind doch selbst die großartigsten romanischen Dome von geistliche» Baukünstlern und Werkmeistern aufgeführt worden. So blieb es bis tief ins zwölfte Jahrhundert. Wie die damalige Welt nach der geistlichen Anschauung in ein Gvttesreich und ein Reich der Sünde, in die Kirche und die Laienschaft, zerfiel, so standen zwei völlig getrennte Bildungskreise neben einander, der eine national, halb heidnisch, ohne Schrift, der andre römisch, geistlich, litterarisch. Aber sie waren dnrch die praktische» Interessen so eng mit einander verflochten, daß der innere Gegensatz selten und immer u»r stoßweise z»in Bewußtsei» kam. Diese naiven Zustände begannen sich zu ändern, als mit der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts der weltfeindliche, rücksichtslose Idealismus der französischen Cluniacenser die praktischen Folgerungen aus jener Weltan¬ schauung zog. Als ein Gvttesreich sollte sich die Kirche von der sündigen Welt trennen und sie sich unterwerfen. Für den mittelalterlichen Staat und namentlich für Deutschland, dessen Nerwaltuug auf der engsten Nerbinduug des .Königtums und der Kirche beruhte, bedeutete das eine Umwälzung ohne gleichen. Für diese Ideen galt es die Geister zu Schulen. Daher wichen zu¬ erst in den nordfranzösischen Bildungsanstalten die klassischen Schriftsteller vor moralischen Handbüchern, und die stilistisch-rhetorische Behandlung der Autoren trat völlig zurück hinter der logisch-dialektischen, denn der Zweck war jetzt, die Zöglinge tüchtig zu machen zur verstandesmäßigen Erfassung, Begründung und Verteidigung der Kirchenlehre. Selbst die Grammatik wurde jetzt durch¬ aus als angewandte Logik und als Vorschule ster die shstematische Behand¬ lung der Logik betrieben. So bildete sich jene eigentümliche Schulsprache, tanz scholastische Latein, das mit der klassischen Latinität fast nichts mehr ge¬ mein hatte, sondern ganz den Bedürfnissen der Zeit angepaßt, daher aber auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/288>, abgerufen am 23.07.2024.