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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Sie preußische Justizverwaltung

die aber für einen arbeitsfrohen Dreißiger Orte der Qual sind; die lebhaftesten
und intelligentesten Köpfe, die das unabweisbare Bedürfnis nach geistiger Be¬
thätigung n"d wissenschaftlicher Fortbildung kundthun, werden tu Einöden
geschickt, wo sie die einzigen Inhaber einer den täglichen Broterwerb über¬
ragenden geistigen Bildung sind; Leute, denen das Schicksal den Segen der Häus¬
lichkeit versagt, werden in Orten untergebracht, die überhaupt nur das Gasthaus
und die Kneipe als erträgliche Wvhnungsgelegenheit bieten. Kurz, es mangelt
so gut wie jegliche Individualisirung, und die Folge davon ist der traurige
Rückgang eines großen Teiles des ganzen Standes. Nicht die beklagenswerten
Opfer, sondern die betreffenden Zentralstellen und leitenden Persönlichkeiten
sollte man dafür verantwortlich machen.

Das allerseltsamste und widerspruchsvollste aber bei diesen Erscheinungen,
die nun doch bei der regelmäßigen Wiederkehr ihrer Erwähnung in den Land¬
tagsverhandlungen und in den Zeitungen als notorisch angenommen werden
müssen, ist zweierlei: erstens daß offene und freimütige Charaktere, die
diese Mißstände schildern und den vorgesetzten Stellen zur Kenntnis bringen,
alles andre eher ernten, als Förderung und Dank, sodann daß doch das
Ministerium selbst wieder öffentlich zu Vorschlägen zur Erfüllung der Wünsche
der Richter auffordert, wie dies noch im Februar vorigen Jahres bei der
Gehaltsfrage vom Negiernngskvmmissar im Abgeordnetenhause geschehen ist.
Freilich unsers Wissens bis jetzt ohne Erfolg, und in der That möchten wir auch
nach den Erfahrungen, die andre Männer bei Besprechung der in diesem Auf¬
satz behandelten Frage" gemacht haben, dringend abraten, diesem Wunsche zu
willfahren.

Wir wenden uns nunmehr dem Teile des Richterstandes zu, der zwar
noch nicht etatsmäßig angestellt ist, d. h. Gehalt bezieht, doch im Staatsdienste
bereits volle Rechte und Pflichten der Richter hat -- nämlich den Gcrichts-
assessoren. Was wir schon beklagt haben, daß nämlich das Bewußtsein der
eignen Würde und Selbständigkeit immer mehr schwinde, ist bei dieser Klasse
von Beamten noch viel mehr der Fall. Kann schon die Aussicht auf ein füuf-
bis sechsjähriges Warten auf Anstellung nicht gerade charnkterbefestigend wirken,
so wird diese Zeit für die Ausbildung des innern Menschen geradezu ver¬
hängnisvoll, wenn damit ein ununterbrochener Ambitns um die besoldete
Beschäftigung, ein ewiges Hoffen und Harren in den Borzimmern der Bor¬
gesetzten auf die Befürwortung dieses Wunsches verknüpft ist. Daß bei solcher
Sachlage von Bildung eigner Anschauungen und Auffassungen nur selten
die Rede sein kann, bedarf wohl keiner Darlegung; weiß doch der oft schon
in der Mitte der dreißiger Jahre stehende Mann recht gut, daß jede mi߬
fällige Bemerkung zugleich sein Urteil in den Qualisilativusberichten ausmachen
kann, die nach jeder kommissarischen Beschäftigung nach oben erstattet werden.
Dazu kommt, daß eine viele Jahre hindurch fortgesetzte angeblich (?) völlig


Sie preußische Justizverwaltung

die aber für einen arbeitsfrohen Dreißiger Orte der Qual sind; die lebhaftesten
und intelligentesten Köpfe, die das unabweisbare Bedürfnis nach geistiger Be¬
thätigung n»d wissenschaftlicher Fortbildung kundthun, werden tu Einöden
geschickt, wo sie die einzigen Inhaber einer den täglichen Broterwerb über¬
ragenden geistigen Bildung sind; Leute, denen das Schicksal den Segen der Häus¬
lichkeit versagt, werden in Orten untergebracht, die überhaupt nur das Gasthaus
und die Kneipe als erträgliche Wvhnungsgelegenheit bieten. Kurz, es mangelt
so gut wie jegliche Individualisirung, und die Folge davon ist der traurige
Rückgang eines großen Teiles des ganzen Standes. Nicht die beklagenswerten
Opfer, sondern die betreffenden Zentralstellen und leitenden Persönlichkeiten
sollte man dafür verantwortlich machen.

Das allerseltsamste und widerspruchsvollste aber bei diesen Erscheinungen,
die nun doch bei der regelmäßigen Wiederkehr ihrer Erwähnung in den Land¬
tagsverhandlungen und in den Zeitungen als notorisch angenommen werden
müssen, ist zweierlei: erstens daß offene und freimütige Charaktere, die
diese Mißstände schildern und den vorgesetzten Stellen zur Kenntnis bringen,
alles andre eher ernten, als Förderung und Dank, sodann daß doch das
Ministerium selbst wieder öffentlich zu Vorschlägen zur Erfüllung der Wünsche
der Richter auffordert, wie dies noch im Februar vorigen Jahres bei der
Gehaltsfrage vom Negiernngskvmmissar im Abgeordnetenhause geschehen ist.
Freilich unsers Wissens bis jetzt ohne Erfolg, und in der That möchten wir auch
nach den Erfahrungen, die andre Männer bei Besprechung der in diesem Auf¬
satz behandelten Frage» gemacht haben, dringend abraten, diesem Wunsche zu
willfahren.

Wir wenden uns nunmehr dem Teile des Richterstandes zu, der zwar
noch nicht etatsmäßig angestellt ist, d. h. Gehalt bezieht, doch im Staatsdienste
bereits volle Rechte und Pflichten der Richter hat — nämlich den Gcrichts-
assessoren. Was wir schon beklagt haben, daß nämlich das Bewußtsein der
eignen Würde und Selbständigkeit immer mehr schwinde, ist bei dieser Klasse
von Beamten noch viel mehr der Fall. Kann schon die Aussicht auf ein füuf-
bis sechsjähriges Warten auf Anstellung nicht gerade charnkterbefestigend wirken,
so wird diese Zeit für die Ausbildung des innern Menschen geradezu ver¬
hängnisvoll, wenn damit ein ununterbrochener Ambitns um die besoldete
Beschäftigung, ein ewiges Hoffen und Harren in den Borzimmern der Bor¬
gesetzten auf die Befürwortung dieses Wunsches verknüpft ist. Daß bei solcher
Sachlage von Bildung eigner Anschauungen und Auffassungen nur selten
die Rede sein kann, bedarf wohl keiner Darlegung; weiß doch der oft schon
in der Mitte der dreißiger Jahre stehende Mann recht gut, daß jede mi߬
fällige Bemerkung zugleich sein Urteil in den Qualisilativusberichten ausmachen
kann, die nach jeder kommissarischen Beschäftigung nach oben erstattet werden.
Dazu kommt, daß eine viele Jahre hindurch fortgesetzte angeblich (?) völlig


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[0283] Sie preußische Justizverwaltung die aber für einen arbeitsfrohen Dreißiger Orte der Qual sind; die lebhaftesten und intelligentesten Köpfe, die das unabweisbare Bedürfnis nach geistiger Be¬ thätigung n»d wissenschaftlicher Fortbildung kundthun, werden tu Einöden geschickt, wo sie die einzigen Inhaber einer den täglichen Broterwerb über¬ ragenden geistigen Bildung sind; Leute, denen das Schicksal den Segen der Häus¬ lichkeit versagt, werden in Orten untergebracht, die überhaupt nur das Gasthaus und die Kneipe als erträgliche Wvhnungsgelegenheit bieten. Kurz, es mangelt so gut wie jegliche Individualisirung, und die Folge davon ist der traurige Rückgang eines großen Teiles des ganzen Standes. Nicht die beklagenswerten Opfer, sondern die betreffenden Zentralstellen und leitenden Persönlichkeiten sollte man dafür verantwortlich machen. Das allerseltsamste und widerspruchsvollste aber bei diesen Erscheinungen, die nun doch bei der regelmäßigen Wiederkehr ihrer Erwähnung in den Land¬ tagsverhandlungen und in den Zeitungen als notorisch angenommen werden müssen, ist zweierlei: erstens daß offene und freimütige Charaktere, die diese Mißstände schildern und den vorgesetzten Stellen zur Kenntnis bringen, alles andre eher ernten, als Förderung und Dank, sodann daß doch das Ministerium selbst wieder öffentlich zu Vorschlägen zur Erfüllung der Wünsche der Richter auffordert, wie dies noch im Februar vorigen Jahres bei der Gehaltsfrage vom Negiernngskvmmissar im Abgeordnetenhause geschehen ist. Freilich unsers Wissens bis jetzt ohne Erfolg, und in der That möchten wir auch nach den Erfahrungen, die andre Männer bei Besprechung der in diesem Auf¬ satz behandelten Frage» gemacht haben, dringend abraten, diesem Wunsche zu willfahren. Wir wenden uns nunmehr dem Teile des Richterstandes zu, der zwar noch nicht etatsmäßig angestellt ist, d. h. Gehalt bezieht, doch im Staatsdienste bereits volle Rechte und Pflichten der Richter hat — nämlich den Gcrichts- assessoren. Was wir schon beklagt haben, daß nämlich das Bewußtsein der eignen Würde und Selbständigkeit immer mehr schwinde, ist bei dieser Klasse von Beamten noch viel mehr der Fall. Kann schon die Aussicht auf ein füuf- bis sechsjähriges Warten auf Anstellung nicht gerade charnkterbefestigend wirken, so wird diese Zeit für die Ausbildung des innern Menschen geradezu ver¬ hängnisvoll, wenn damit ein ununterbrochener Ambitns um die besoldete Beschäftigung, ein ewiges Hoffen und Harren in den Borzimmern der Bor¬ gesetzten auf die Befürwortung dieses Wunsches verknüpft ist. Daß bei solcher Sachlage von Bildung eigner Anschauungen und Auffassungen nur selten die Rede sein kann, bedarf wohl keiner Darlegung; weiß doch der oft schon in der Mitte der dreißiger Jahre stehende Mann recht gut, daß jede mi߬ fällige Bemerkung zugleich sein Urteil in den Qualisilativusberichten ausmachen kann, die nach jeder kommissarischen Beschäftigung nach oben erstattet werden. Dazu kommt, daß eine viele Jahre hindurch fortgesetzte angeblich (?) völlig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/283>, abgerufen am 23.07.2024.