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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die soziale Lewegimg in FniM'reich

.'ii'ehren loir zu v. d, Osten zurück. Nach seinem Zeugnis wächst in
Frankreich innerhalb der Arbeitervereine die gemäßigte Richtung zusehends,
wenn auch der alte revolutionäre Geist noch nicht ganz verschwunden ist, die
Beziehungen zu den Unternehmerverbänden sind dauernd freundlich. Bereits
1889 hatten 29 Arbeitgebervereiue und .-N.2 Arbeitervereine die Schlichtung von
Arbeitsstreitigkeiten durch Vereinbarung der beiderseitigen Verbände in ihre
Satzungen aufgenommen. Das; die Fachvereiue der Arbeiter dem Widerstande
der Großindustrie begegne", wo diese sich kräftig genug fühlt, ihrerseits das
Bedürfnis nach Zusammenschluß nicht zu empfinden, darf nicht Wunder nehmen.
Noch immer wird von Unternehmern der Austritt ans den Fachvereiueu durch
Drohung mit Entlassung erzwungen. Dies hat eine uoch jetzt im Flusse be¬
griffne Bewegung zur Folge gehabt, wonach jedermann ^ also auch der
Arbeiter--, der die Beteiligung an Arbeiterfachvereiuen oder an Koalitionen
gegen Unternehmervereiuigungen hindert, bestraft werden soll.

v. d. Osten giebt noch eine Übersicht über das außerordentlich reichhaltige
gesetzgeberische Programm der französischen Regierung wie der Kammern, das
das ganze sozialpolitische Gebiet umfaßt, vorläufig freilich einen ziemlich chao¬
tischen Anblick gewährt. Er tritt mit voller Wärme für die Fachvereine so¬
wohl der Arbeitgeber als der Arbeiter ein. Wie Brentano verspricht mich
er sich von festen Organisationen das beste für die Beilegung von Arbeits¬
streitigkeiteu sowie für die Stetigkeit der Arbeitsbedingungen überhaupt, besonders
auch für das Zurückdrängen der sozialrevolntivnären Richtung zu Gunsten
nüchterner praktischer Bestrebungen. Die staatliche Forderung der Fachvereine
erscheint ihm. auch für Deutschland als dringend erforderlich, um so mehr, als unsre
großartige staatliche Regelung des Versicherungswesens, "an deren Erfolge die
Bemühungen der Arbeiter aller Länder nicht entfernt hinanreichen," den
bestehenden deutschen korporativen Bildungen ein Gebiet entzogen habe,
das sie innerlich zu befestigen geeignet sei. Dies ist insofern nicht ganz
zutreffend, als die Krankenversicherung auf Seiten der Unternehmer auch
den Großbetrieben und den Innungen, auf Seiten der Arbeiter den
freien Hilfskassen überlassen ist, während für die Unfallversicherung die
Vernfsgenossenschaften zur ausgedehntesten Mitwirkung berufen sind. Den
Kern der Sache trifft v. d. Osten, wenn er in der Befreiung der Arbeiter¬
schaft von Assoziationsschrauteu, die sie an der Einwirkung auf den Arbeits¬
vertrag und auf die Festsetzung der Arbeitsbedingungen hindert, einer Be¬
freiung, die den Drang nach sozialer Anerkennung und Achtung der Persönlichkeit
des Arbeiters zu befriedigen geeignet ist, die sittliche Triebkraft der sozialen
Bewegung erblickt. In der Thatest man kaum berechtigt, über Undankbarkeit
der Arbeiter gegenüber den großartigen Leistungen materieller Fürsorge für
die notleidenden Massen zu klagen, so lange nicht auch diese ihre sittlichen Be¬
dürfnisse Anerkennung gefunden haben. Auch v. d. Osten genügt es nicht,


Die soziale Lewegimg in FniM'reich

.'ii'ehren loir zu v. d, Osten zurück. Nach seinem Zeugnis wächst in
Frankreich innerhalb der Arbeitervereine die gemäßigte Richtung zusehends,
wenn auch der alte revolutionäre Geist noch nicht ganz verschwunden ist, die
Beziehungen zu den Unternehmerverbänden sind dauernd freundlich. Bereits
1889 hatten 29 Arbeitgebervereiue und .-N.2 Arbeitervereine die Schlichtung von
Arbeitsstreitigkeiten durch Vereinbarung der beiderseitigen Verbände in ihre
Satzungen aufgenommen. Das; die Fachvereiue der Arbeiter dem Widerstande
der Großindustrie begegne», wo diese sich kräftig genug fühlt, ihrerseits das
Bedürfnis nach Zusammenschluß nicht zu empfinden, darf nicht Wunder nehmen.
Noch immer wird von Unternehmern der Austritt ans den Fachvereiueu durch
Drohung mit Entlassung erzwungen. Dies hat eine uoch jetzt im Flusse be¬
griffne Bewegung zur Folge gehabt, wonach jedermann ^ also auch der
Arbeiter—, der die Beteiligung an Arbeiterfachvereiuen oder an Koalitionen
gegen Unternehmervereiuigungen hindert, bestraft werden soll.

v. d. Osten giebt noch eine Übersicht über das außerordentlich reichhaltige
gesetzgeberische Programm der französischen Regierung wie der Kammern, das
das ganze sozialpolitische Gebiet umfaßt, vorläufig freilich einen ziemlich chao¬
tischen Anblick gewährt. Er tritt mit voller Wärme für die Fachvereine so¬
wohl der Arbeitgeber als der Arbeiter ein. Wie Brentano verspricht mich
er sich von festen Organisationen das beste für die Beilegung von Arbeits¬
streitigkeiteu sowie für die Stetigkeit der Arbeitsbedingungen überhaupt, besonders
auch für das Zurückdrängen der sozialrevolntivnären Richtung zu Gunsten
nüchterner praktischer Bestrebungen. Die staatliche Forderung der Fachvereine
erscheint ihm. auch für Deutschland als dringend erforderlich, um so mehr, als unsre
großartige staatliche Regelung des Versicherungswesens, „an deren Erfolge die
Bemühungen der Arbeiter aller Länder nicht entfernt hinanreichen," den
bestehenden deutschen korporativen Bildungen ein Gebiet entzogen habe,
das sie innerlich zu befestigen geeignet sei. Dies ist insofern nicht ganz
zutreffend, als die Krankenversicherung auf Seiten der Unternehmer auch
den Großbetrieben und den Innungen, auf Seiten der Arbeiter den
freien Hilfskassen überlassen ist, während für die Unfallversicherung die
Vernfsgenossenschaften zur ausgedehntesten Mitwirkung berufen sind. Den
Kern der Sache trifft v. d. Osten, wenn er in der Befreiung der Arbeiter¬
schaft von Assoziationsschrauteu, die sie an der Einwirkung auf den Arbeits¬
vertrag und auf die Festsetzung der Arbeitsbedingungen hindert, einer Be¬
freiung, die den Drang nach sozialer Anerkennung und Achtung der Persönlichkeit
des Arbeiters zu befriedigen geeignet ist, die sittliche Triebkraft der sozialen
Bewegung erblickt. In der Thatest man kaum berechtigt, über Undankbarkeit
der Arbeiter gegenüber den großartigen Leistungen materieller Fürsorge für
die notleidenden Massen zu klagen, so lange nicht auch diese ihre sittlichen Be¬
dürfnisse Anerkennung gefunden haben. Auch v. d. Osten genügt es nicht,


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[0272] Die soziale Lewegimg in FniM'reich .'ii'ehren loir zu v. d, Osten zurück. Nach seinem Zeugnis wächst in Frankreich innerhalb der Arbeitervereine die gemäßigte Richtung zusehends, wenn auch der alte revolutionäre Geist noch nicht ganz verschwunden ist, die Beziehungen zu den Unternehmerverbänden sind dauernd freundlich. Bereits 1889 hatten 29 Arbeitgebervereiue und .-N.2 Arbeitervereine die Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten durch Vereinbarung der beiderseitigen Verbände in ihre Satzungen aufgenommen. Das; die Fachvereiue der Arbeiter dem Widerstande der Großindustrie begegne», wo diese sich kräftig genug fühlt, ihrerseits das Bedürfnis nach Zusammenschluß nicht zu empfinden, darf nicht Wunder nehmen. Noch immer wird von Unternehmern der Austritt ans den Fachvereiueu durch Drohung mit Entlassung erzwungen. Dies hat eine uoch jetzt im Flusse be¬ griffne Bewegung zur Folge gehabt, wonach jedermann ^ also auch der Arbeiter—, der die Beteiligung an Arbeiterfachvereiuen oder an Koalitionen gegen Unternehmervereiuigungen hindert, bestraft werden soll. v. d. Osten giebt noch eine Übersicht über das außerordentlich reichhaltige gesetzgeberische Programm der französischen Regierung wie der Kammern, das das ganze sozialpolitische Gebiet umfaßt, vorläufig freilich einen ziemlich chao¬ tischen Anblick gewährt. Er tritt mit voller Wärme für die Fachvereine so¬ wohl der Arbeitgeber als der Arbeiter ein. Wie Brentano verspricht mich er sich von festen Organisationen das beste für die Beilegung von Arbeits¬ streitigkeiteu sowie für die Stetigkeit der Arbeitsbedingungen überhaupt, besonders auch für das Zurückdrängen der sozialrevolntivnären Richtung zu Gunsten nüchterner praktischer Bestrebungen. Die staatliche Forderung der Fachvereine erscheint ihm. auch für Deutschland als dringend erforderlich, um so mehr, als unsre großartige staatliche Regelung des Versicherungswesens, „an deren Erfolge die Bemühungen der Arbeiter aller Länder nicht entfernt hinanreichen," den bestehenden deutschen korporativen Bildungen ein Gebiet entzogen habe, das sie innerlich zu befestigen geeignet sei. Dies ist insofern nicht ganz zutreffend, als die Krankenversicherung auf Seiten der Unternehmer auch den Großbetrieben und den Innungen, auf Seiten der Arbeiter den freien Hilfskassen überlassen ist, während für die Unfallversicherung die Vernfsgenossenschaften zur ausgedehntesten Mitwirkung berufen sind. Den Kern der Sache trifft v. d. Osten, wenn er in der Befreiung der Arbeiter¬ schaft von Assoziationsschrauteu, die sie an der Einwirkung auf den Arbeits¬ vertrag und auf die Festsetzung der Arbeitsbedingungen hindert, einer Be¬ freiung, die den Drang nach sozialer Anerkennung und Achtung der Persönlichkeit des Arbeiters zu befriedigen geeignet ist, die sittliche Triebkraft der sozialen Bewegung erblickt. In der Thatest man kaum berechtigt, über Undankbarkeit der Arbeiter gegenüber den großartigen Leistungen materieller Fürsorge für die notleidenden Massen zu klagen, so lange nicht auch diese ihre sittlichen Be¬ dürfnisse Anerkennung gefunden haben. Auch v. d. Osten genügt es nicht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/272>, abgerufen am 23.07.2024.