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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die soziale Bewegung in Frankreich

le frühere sprichwörtliche Unwissenheit der Franzosen über aus¬
wärtige, namentlich deutsche Verhältnisse hat bekanntlich längst
einem sehr anfmerksnmen Interesse an unsern militärischen, wirt¬
schaftlichen und politischen Angelegenheiten Platz gemacht. Um¬
gekehrt schenkt man in Deutschland der innern, namentlich der
wirtschaftlichen Entwicklung unsrer westlichen Nachbarn zu geringe Beachtung,
Die soziale Frage in Frankreich verknüpft sich fast unwillkürlich mit der Er¬
innerung an die blutige Episode der Kommune von 1871, deren Zeugen wir
ja aus nächster Nähe gewesen sind. Petroleur und Kommunard siud uns
heute noch typisch für den Begriff des französischen Arbeiters, und im letzten
Grunde ist es der Verdacht, auch die deutsche sozialistisch denkende Arbeiter¬
schaft strebe auf den Trümmern der Monarchie die Schreckensherrschaft auf¬
zurichten, was den gebildeten und wohlmeinenden Deutschen vom vierten
Stande im eignen Volke scheidet und ihn verhindert, mancher begründeten For¬
derung eben dieses Standes gerecht zu werden. Es ist hier nicht der Ort, zu
untersuchen, ob man einer politischen Partei von mehr als anderthalb Millionen
deutschen Männern nicht Unrecht thut, wenn man Raub, Mord und Brand
für ihre letzte" politischen Ziele oder doch für die ungewollte Voraussetzung
zur Verwirklichung ihrer Ziele ausgiebt. Auch nicht, ob es eine Entschul¬
digung ist, gegen den Notschrei der wirtschaftlich schwachen taub zu bleiben,
weil sie in ihrer großen Masse fanatischen Führern folgen, von denen einzelne
vielleicht anch vor dem Verbrechen, mindestens vor dem Staatsverbrechen,
nicht zurückschrecken. Jedenfalls ist es eine Thatsache, daß es auch in Frank¬
reich, dem klassischen Lande der Revolutionen, von jeher eine geschlossene Masse
von Arbeitern gegeben hat und noch giebt, die es verstanden haben, sich von


Grenzlwie" I lML 33


Die soziale Bewegung in Frankreich

le frühere sprichwörtliche Unwissenheit der Franzosen über aus¬
wärtige, namentlich deutsche Verhältnisse hat bekanntlich längst
einem sehr anfmerksnmen Interesse an unsern militärischen, wirt¬
schaftlichen und politischen Angelegenheiten Platz gemacht. Um¬
gekehrt schenkt man in Deutschland der innern, namentlich der
wirtschaftlichen Entwicklung unsrer westlichen Nachbarn zu geringe Beachtung,
Die soziale Frage in Frankreich verknüpft sich fast unwillkürlich mit der Er¬
innerung an die blutige Episode der Kommune von 1871, deren Zeugen wir
ja aus nächster Nähe gewesen sind. Petroleur und Kommunard siud uns
heute noch typisch für den Begriff des französischen Arbeiters, und im letzten
Grunde ist es der Verdacht, auch die deutsche sozialistisch denkende Arbeiter¬
schaft strebe auf den Trümmern der Monarchie die Schreckensherrschaft auf¬
zurichten, was den gebildeten und wohlmeinenden Deutschen vom vierten
Stande im eignen Volke scheidet und ihn verhindert, mancher begründeten For¬
derung eben dieses Standes gerecht zu werden. Es ist hier nicht der Ort, zu
untersuchen, ob man einer politischen Partei von mehr als anderthalb Millionen
deutschen Männern nicht Unrecht thut, wenn man Raub, Mord und Brand
für ihre letzte» politischen Ziele oder doch für die ungewollte Voraussetzung
zur Verwirklichung ihrer Ziele ausgiebt. Auch nicht, ob es eine Entschul¬
digung ist, gegen den Notschrei der wirtschaftlich schwachen taub zu bleiben,
weil sie in ihrer großen Masse fanatischen Führern folgen, von denen einzelne
vielleicht anch vor dem Verbrechen, mindestens vor dem Staatsverbrechen,
nicht zurückschrecken. Jedenfalls ist es eine Thatsache, daß es auch in Frank¬
reich, dem klassischen Lande der Revolutionen, von jeher eine geschlossene Masse
von Arbeitern gegeben hat und noch giebt, die es verstanden haben, sich von


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[0265] [Abbildung] Die soziale Bewegung in Frankreich le frühere sprichwörtliche Unwissenheit der Franzosen über aus¬ wärtige, namentlich deutsche Verhältnisse hat bekanntlich längst einem sehr anfmerksnmen Interesse an unsern militärischen, wirt¬ schaftlichen und politischen Angelegenheiten Platz gemacht. Um¬ gekehrt schenkt man in Deutschland der innern, namentlich der wirtschaftlichen Entwicklung unsrer westlichen Nachbarn zu geringe Beachtung, Die soziale Frage in Frankreich verknüpft sich fast unwillkürlich mit der Er¬ innerung an die blutige Episode der Kommune von 1871, deren Zeugen wir ja aus nächster Nähe gewesen sind. Petroleur und Kommunard siud uns heute noch typisch für den Begriff des französischen Arbeiters, und im letzten Grunde ist es der Verdacht, auch die deutsche sozialistisch denkende Arbeiter¬ schaft strebe auf den Trümmern der Monarchie die Schreckensherrschaft auf¬ zurichten, was den gebildeten und wohlmeinenden Deutschen vom vierten Stande im eignen Volke scheidet und ihn verhindert, mancher begründeten For¬ derung eben dieses Standes gerecht zu werden. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, ob man einer politischen Partei von mehr als anderthalb Millionen deutschen Männern nicht Unrecht thut, wenn man Raub, Mord und Brand für ihre letzte» politischen Ziele oder doch für die ungewollte Voraussetzung zur Verwirklichung ihrer Ziele ausgiebt. Auch nicht, ob es eine Entschul¬ digung ist, gegen den Notschrei der wirtschaftlich schwachen taub zu bleiben, weil sie in ihrer großen Masse fanatischen Führern folgen, von denen einzelne vielleicht anch vor dem Verbrechen, mindestens vor dem Staatsverbrechen, nicht zurückschrecken. Jedenfalls ist es eine Thatsache, daß es auch in Frank¬ reich, dem klassischen Lande der Revolutionen, von jeher eine geschlossene Masse von Arbeitern gegeben hat und noch giebt, die es verstanden haben, sich von Grenzlwie» I lML 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/265>, abgerufen am 23.07.2024.