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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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aber doch nicht wahr! Läßt man sich einmal zu dem Zugeständnis an die
Willkür des Dichters herbei, so giebt es keine Schranke mehr; wird die so¬
genannte poetische Freiheit wieder gestattet, so sitzen wir im Handumdrehen
abermals in dem Sumpf des Idealismus, den die moderne Schule ver¬
dientermaßen so sehr verabscheut. Sie führen wohl zu ihrer Entschuldigung
an, daß sie nur nach unten idecilisiren, nicht nach oben, wie das früher Sitte
war, die Menschen nicht so edel, so aufopferungsfähig, so zartfühlend machen,
wie sie vielleicht manchmal sein können, sondern so gemein, eigennützig und
roh, wie sich irgend denken läßt. Und es muß ja zugegeben werden, daß
dies etwas weniger verwerflich ist, aber zu billigen ist es nicht. Sind wir
darüber einverstanden, daß Poesie und Kunst streng wissenschaftlich betrieben
werden müssen, so versteht sichs von selbst, daß jeder Zug in ihren Schö¬
pfungen aus Alten und Protokollen geschöpft wird, und Dichter und Maler
sich nicht die geringste Abweichung von dem "erhobenen Thatbestande" erlauben.
Dann wären sie auch imstande, jeden Widerspruch bündig abzufertigen. Die
Kritik glaubt die und die Szene als unwahrscheinlich, die und die Äußerung
als psychologisch falsch tadeln zu dürfen; uun wohl, hier ist der von zwei
Zeugen bestätigte Befund, aufgenommen im Wirtshause zum blauen Bock am
12. Februar d. I. abends elf Uhr u. s. w. Auf dieser Höhe aber ist, ich wieder¬
hole es, die Dichtkunst noch nicht angelangt.

Viel schlimmer steht es aber um die Darstellung; die Schauspieler sind
weit hinter den Dichtern zurückgeblieben, obwohl einzelne bestrebt sind, den
"Spuren des großen Jtalieners Salvini zu folgen, der sich als Othello auf
die unglückliche Desdemona stürzt, als wollte er sie mit Haut und Haaren
auffressen, und sie dann wenigstens so würgt, daß sie förmlich zappelt. Doch
fehlt es seinen deutschen Nachahmern an dem rechten Mute, sie möchten wohl,
aber sie geniren sich im entscheidenden Augenblick. Bei Kleinigkeiten hat man
früher schon gewußt, daß sich das Theater zu wenig um die Wahrheit kümmert,
z. B. wenn jemand in der Mitte eines Zimmers, das im zweiten Stockwerk
liegen soll, steht, den Blick auf ein gemaltes Fenster richtet und behauptet,
er sehe einen Bekannten unten am Hause vorübergehen, oder wenn alle Leute
unangemeldet in fremde Wohnungen, und sei es die Wohnung eines Fürsten,
eintreten, oder wenn Monologe gehalten werden ohne Rücksicht darauf, daß
nicht allein das gesamte Publikum, sondern sogar die Coulisseuschieber jedes
Wort mit anhören und folglich sehr leicht jemand dein Tyrannen oder dem
Vormund oder dem Nebenbuhler die Anschläge des mit sich selbst sprechenden
hinterbringen könnte. Es ist gerügt worden, bleibt aber beim alten. Da wird
von einem argen Unwetter erzählt, man hört das Heulen des Sturmes und
das Prasseln des Regens ziemlich natürlich; nun tritt einer ins Zimmer, giebt
sich für durchnäßt aus, schüttelt den Mantel und schwenkt den Hut, aber kein
Wasser spritzt herum und klatscht auf den Boden. Wo bleibt da die Wahrheit?


Grenzboten 1 1892 31

aber doch nicht wahr! Läßt man sich einmal zu dem Zugeständnis an die
Willkür des Dichters herbei, so giebt es keine Schranke mehr; wird die so¬
genannte poetische Freiheit wieder gestattet, so sitzen wir im Handumdrehen
abermals in dem Sumpf des Idealismus, den die moderne Schule ver¬
dientermaßen so sehr verabscheut. Sie führen wohl zu ihrer Entschuldigung
an, daß sie nur nach unten idecilisiren, nicht nach oben, wie das früher Sitte
war, die Menschen nicht so edel, so aufopferungsfähig, so zartfühlend machen,
wie sie vielleicht manchmal sein können, sondern so gemein, eigennützig und
roh, wie sich irgend denken läßt. Und es muß ja zugegeben werden, daß
dies etwas weniger verwerflich ist, aber zu billigen ist es nicht. Sind wir
darüber einverstanden, daß Poesie und Kunst streng wissenschaftlich betrieben
werden müssen, so versteht sichs von selbst, daß jeder Zug in ihren Schö¬
pfungen aus Alten und Protokollen geschöpft wird, und Dichter und Maler
sich nicht die geringste Abweichung von dem „erhobenen Thatbestande" erlauben.
Dann wären sie auch imstande, jeden Widerspruch bündig abzufertigen. Die
Kritik glaubt die und die Szene als unwahrscheinlich, die und die Äußerung
als psychologisch falsch tadeln zu dürfen; uun wohl, hier ist der von zwei
Zeugen bestätigte Befund, aufgenommen im Wirtshause zum blauen Bock am
12. Februar d. I. abends elf Uhr u. s. w. Auf dieser Höhe aber ist, ich wieder¬
hole es, die Dichtkunst noch nicht angelangt.

Viel schlimmer steht es aber um die Darstellung; die Schauspieler sind
weit hinter den Dichtern zurückgeblieben, obwohl einzelne bestrebt sind, den
«Spuren des großen Jtalieners Salvini zu folgen, der sich als Othello auf
die unglückliche Desdemona stürzt, als wollte er sie mit Haut und Haaren
auffressen, und sie dann wenigstens so würgt, daß sie förmlich zappelt. Doch
fehlt es seinen deutschen Nachahmern an dem rechten Mute, sie möchten wohl,
aber sie geniren sich im entscheidenden Augenblick. Bei Kleinigkeiten hat man
früher schon gewußt, daß sich das Theater zu wenig um die Wahrheit kümmert,
z. B. wenn jemand in der Mitte eines Zimmers, das im zweiten Stockwerk
liegen soll, steht, den Blick auf ein gemaltes Fenster richtet und behauptet,
er sehe einen Bekannten unten am Hause vorübergehen, oder wenn alle Leute
unangemeldet in fremde Wohnungen, und sei es die Wohnung eines Fürsten,
eintreten, oder wenn Monologe gehalten werden ohne Rücksicht darauf, daß
nicht allein das gesamte Publikum, sondern sogar die Coulisseuschieber jedes
Wort mit anhören und folglich sehr leicht jemand dein Tyrannen oder dem
Vormund oder dem Nebenbuhler die Anschläge des mit sich selbst sprechenden
hinterbringen könnte. Es ist gerügt worden, bleibt aber beim alten. Da wird
von einem argen Unwetter erzählt, man hört das Heulen des Sturmes und
das Prasseln des Regens ziemlich natürlich; nun tritt einer ins Zimmer, giebt
sich für durchnäßt aus, schüttelt den Mantel und schwenkt den Hut, aber kein
Wasser spritzt herum und klatscht auf den Boden. Wo bleibt da die Wahrheit?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/249>, abgerufen am 23.07.2024.