Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Die Wahrheit auf der Bühne höchste stantsmännische Weisheit, in den Völker" die Unzufriedenheit immer Es ist wahr, die großen Dichter und Maler der "Jetztzeit" haben viel er¬ Und, bei aller Bewunderung für unsre moderne" Heroen sei es gesagt, Die Wahrheit auf der Bühne höchste stantsmännische Weisheit, in den Völker» die Unzufriedenheit immer Es ist wahr, die großen Dichter und Maler der „Jetztzeit" haben viel er¬ Und, bei aller Bewunderung für unsre moderne» Heroen sei es gesagt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0248" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211416"/> <fw type="header" place="top"> Die Wahrheit auf der Bühne</fw><lb/> <p xml:id="ID_768" prev="#ID_767"> höchste stantsmännische Weisheit, in den Völker» die Unzufriedenheit immer<lb/> rege zu erhalten, ihnen die augenblicklichen Zustünde als die denkbar schlech¬<lb/> testen zu schildern. Allein ich konnte ihn damit trösten, daß der nie rastende<lb/> Geist des Fortschritts stets neue Höhen entdecken würde, die noch zu erklimmen<lb/> wären, und müßte er auch endlich noch so luftige Gerüste zu diesem Zwecke auf¬<lb/> führen. Übrigens seien wir noch gar nicht so weit und hoch, wie er meine.<lb/> Die Andeutungen, die ich ihm darüber ox iinproviM gab, verdienen wohl,<lb/> weitern Kreisen zugänglich gemacht zu werden, damit nicht der Irrtum, der<lb/> meinen Freund bekümmerte, bei andern die so gefährliche selbstznfriedne<lb/> Stimmung, ein Erlahmen im Vorwärtsstreben erzeugt. ,</p><lb/> <p xml:id="ID_769"> Es ist wahr, die großen Dichter und Maler der „Jetztzeit" haben viel er¬<lb/> reicht. Sie sind unermüdlich beflissen gewesen, aus den Schatten- und Nacht¬<lb/> seiten der menschlichen Gesellschaft das Widerwärtigste und Trostloseste hervor¬<lb/> zuziehen. Aber erschöpft ist der Vorrat noch lange nicht. Noch hat, so viel<lb/> mir bekannt ist, niemand daran gedacht, die Zuchthäuser zum Schauplatze von<lb/> Dramen zu machen, in denen doch die abstoßendsten Stoffe sozusagen haus¬<lb/> hoch liegen müssen. Mit Zuchthauskandidaten allein ist uns für die Länge<lb/> nicht gedient. Mein Freund bemerkte dazu sarkastisch, Gefängnisse und Stras-<lb/> häuser werde es ja in der sozialen Gesellschaft nicht mehr geben, lind ich<lb/> antwortete ihm in demselben Tone, wir dürften uns doch noch einer Zeit des<lb/> Überganges erfreuen. Und wenn nicht, die Krankheiten des Körpers werde<lb/> selbst Herr Bebel nicht Wegdekretiren, es sei sogar unzweifelhaft, daß wir<lb/> immer mehr Irrenhäuser würden bauen müssen. Lacht denn nicht unsern<lb/> naturalistischen Dichtern das Herz im Leibe, wenn sie bedenken, welches Feld<lb/> ihnen die pathologische Anatomie, Mikroskopie, Chemie u. s. w. eröffnen?<lb/> Schüchterne Anfänge sind wohl in früherer Zeit gemacht worden, einige haben<lb/> die Schwindsucht auf die Bretter gebracht, aber wie oberflächlich, dilettanten-<lb/> haft — mit einem Worte: feig! Der moderne Dichter muß Medizinstudien,<lb/> Kurse in deu Krankenhäusern mitmachen, um mit der Gründlichkeit und Sicher¬<lb/> heit eines Prosektors dem Publikum die zahllosen Leibschaden der unterdrückten<lb/> Menschheit vordemvnstriren zu können. Er darf nicht davor zurückschrecken,<lb/> die ekelhaftesten Operationen auf die Bühne zu bringen, treu nach dem Leben.</p><lb/> <p xml:id="ID_770" next="#ID_771"> Und, bei aller Bewunderung für unsre moderne» Heroen sei es gesagt,<lb/> den Grundsatz „Treu nach dem Leben" befolgen sie in der Regel nicht mit<lb/> der nötigen Gewissenhaftigkeit. Sie verlangen mit Recht von dem Zuschauer,<lb/> der etwa uoch an Phantasie leidet, daß er diese mit dem Oberrock in der Garde¬<lb/> robe ablege. Sie selbst aber entäußern sich dieses Luxus nicht völlig. Fragt<lb/> man, ob sie die in ihren Stücken mitgeteilten Borgänge genau so mit angesehen,<lb/> die dünnnen oder unflätigen Reden der handelnden Personen stenographisch<lb/> aufgezeichnet haben, so erfährt man, daß sie Studien nach dem Leben frei be¬<lb/> nutzt haben für die von ihnen erfnndne Handlung. Was erfunden ist, ist</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0248]
Die Wahrheit auf der Bühne
höchste stantsmännische Weisheit, in den Völker» die Unzufriedenheit immer
rege zu erhalten, ihnen die augenblicklichen Zustünde als die denkbar schlech¬
testen zu schildern. Allein ich konnte ihn damit trösten, daß der nie rastende
Geist des Fortschritts stets neue Höhen entdecken würde, die noch zu erklimmen
wären, und müßte er auch endlich noch so luftige Gerüste zu diesem Zwecke auf¬
führen. Übrigens seien wir noch gar nicht so weit und hoch, wie er meine.
Die Andeutungen, die ich ihm darüber ox iinproviM gab, verdienen wohl,
weitern Kreisen zugänglich gemacht zu werden, damit nicht der Irrtum, der
meinen Freund bekümmerte, bei andern die so gefährliche selbstznfriedne
Stimmung, ein Erlahmen im Vorwärtsstreben erzeugt. ,
Es ist wahr, die großen Dichter und Maler der „Jetztzeit" haben viel er¬
reicht. Sie sind unermüdlich beflissen gewesen, aus den Schatten- und Nacht¬
seiten der menschlichen Gesellschaft das Widerwärtigste und Trostloseste hervor¬
zuziehen. Aber erschöpft ist der Vorrat noch lange nicht. Noch hat, so viel
mir bekannt ist, niemand daran gedacht, die Zuchthäuser zum Schauplatze von
Dramen zu machen, in denen doch die abstoßendsten Stoffe sozusagen haus¬
hoch liegen müssen. Mit Zuchthauskandidaten allein ist uns für die Länge
nicht gedient. Mein Freund bemerkte dazu sarkastisch, Gefängnisse und Stras-
häuser werde es ja in der sozialen Gesellschaft nicht mehr geben, lind ich
antwortete ihm in demselben Tone, wir dürften uns doch noch einer Zeit des
Überganges erfreuen. Und wenn nicht, die Krankheiten des Körpers werde
selbst Herr Bebel nicht Wegdekretiren, es sei sogar unzweifelhaft, daß wir
immer mehr Irrenhäuser würden bauen müssen. Lacht denn nicht unsern
naturalistischen Dichtern das Herz im Leibe, wenn sie bedenken, welches Feld
ihnen die pathologische Anatomie, Mikroskopie, Chemie u. s. w. eröffnen?
Schüchterne Anfänge sind wohl in früherer Zeit gemacht worden, einige haben
die Schwindsucht auf die Bretter gebracht, aber wie oberflächlich, dilettanten-
haft — mit einem Worte: feig! Der moderne Dichter muß Medizinstudien,
Kurse in deu Krankenhäusern mitmachen, um mit der Gründlichkeit und Sicher¬
heit eines Prosektors dem Publikum die zahllosen Leibschaden der unterdrückten
Menschheit vordemvnstriren zu können. Er darf nicht davor zurückschrecken,
die ekelhaftesten Operationen auf die Bühne zu bringen, treu nach dem Leben.
Und, bei aller Bewunderung für unsre moderne» Heroen sei es gesagt,
den Grundsatz „Treu nach dem Leben" befolgen sie in der Regel nicht mit
der nötigen Gewissenhaftigkeit. Sie verlangen mit Recht von dem Zuschauer,
der etwa uoch an Phantasie leidet, daß er diese mit dem Oberrock in der Garde¬
robe ablege. Sie selbst aber entäußern sich dieses Luxus nicht völlig. Fragt
man, ob sie die in ihren Stücken mitgeteilten Borgänge genau so mit angesehen,
die dünnnen oder unflätigen Reden der handelnden Personen stenographisch
aufgezeichnet haben, so erfährt man, daß sie Studien nach dem Leben frei be¬
nutzt haben für die von ihnen erfnndne Handlung. Was erfunden ist, ist
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