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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Wahrheit auf der Bühne

sie abspiegelt! Auch ist der Widerstand ohnmächtig. Der Pöbel freilich, der
auf den obersten Galerien des Schauspielhauses sitzt, begünstigt noch Auf¬
führungen, durch die er sich erschüttert und erhoben oder über das Einerlei
des Alltagslebens hinweggetauscht fühlt. Aber die Höhergebildeten huldigen
immer entschiedener der neuen Richtung. Gerade die Bilder, von denen die
Ungebildeten behaupten, man sehe auf ihnen gar nichts, üben auf die immer
zahlreicher werdenden Kenner die größte Anziehungskraft aus. Kein Gemälde
auf der letzten Ausstellung war stets so unilagert, wie der Kampf ums Dnsein
von SchmierinSky. Zuerst zog es durch seine Größeiwerhültuisfe an (zwei zu
drei Metern); hatten sich aber die Augen an das allgemeine Gelbgrau gewöhnt
und darin den Novembernebel, den Kehrichthaufen, die beiden an einem .Knochen
zerrenden rändigen Köter und den mit einem goldnen Ringe davoneilenden
Raben unterschieden, so war alles voll Bewunderung für die großartige Idee
und die eminente Malerei und stimmte dem Ausspruche eines unsrer gewieg¬
testen Kritiker bei, das Bild sei von so packender Lebenswnhrheit, daß sich der
Beschauer unwillkürlich mich persischem Jnsektenpulver umsehe. Und was die
modernen Theaterdichtnngen betrifft, so sind sie längst nicht mehr auf die
freien Bühnen beschränkt, das höhergebildete Publikum erzwingt ihnen den
Zulaß zu deu größten Hof- und Stadttheatern.

Die landläufige Vehanptung, daß diese Richtung dem Volke Lebensmut
oder Lebenslust stehle, ist einfach lächerlich. Wenn wir uns nach der "Premiere"
einer modernen dramatischen Dichtung in dem gastlichen Hause des Herrn
Rosenstein versammeln, um deu neuen Lorbeer unsers Freundes, der abermals
einen so tiefen Blick und Griff in deu Schmutz des heutigen Lebens gethan
hat. mit Champagner zu begießen. wenn wir dann, behaglich in die Tiefe
eines Plüschfautemls oder eines mit persischen Teppichen belegten Divans ver¬
senkt, um uns blicken und nicht mehr eine öde. feuchte Kellerwohnung, souderu
die warmen, taghell beleuchteten und mit tausend Kostbarkeiten ausgestatteten
Salons sehen, nicht mehr dnrch übermäßige Arbeit und Hunger ausgemergelte
Gestalten, betrunkene Eltern und verwahrloste Kinder sehen, sondern geputzte,
sorgenfreie, plaudernde und schäkernde Herren und Damen -- dann überkommt
uns erst recht das Gefühl des Wohlseins oder der Zufriedenheit mit dieser
Welt. Der stets geistreiche Theaterreferent Dr. Schnatterwitz pflegt dieser
Empfindung Ausdruck zu geben, indem er der in Diamanten strahlenden
Hausfrau zuruft: Königin, das Leben ist doch schön! Das soll Pessi¬
mismus sein?

Bei einer solchen Gelegenheit machte einer meiner Bekannten, ein ebenso
tief- als freisinniger Bernfsparlamentarier, allerdings die Bemerkung, ihm fange
an bange zu werden. Die Kunst habe unverkennbar den Gipfel erstiegen, ein
weiterer Fortschritt sei unmöglich, und jeder Stillstand die Einleitung zum
Rückschritt. Ich mußte ihm im Prinzip recht geben. Deshalb ist es ja die


Die Wahrheit auf der Bühne

sie abspiegelt! Auch ist der Widerstand ohnmächtig. Der Pöbel freilich, der
auf den obersten Galerien des Schauspielhauses sitzt, begünstigt noch Auf¬
führungen, durch die er sich erschüttert und erhoben oder über das Einerlei
des Alltagslebens hinweggetauscht fühlt. Aber die Höhergebildeten huldigen
immer entschiedener der neuen Richtung. Gerade die Bilder, von denen die
Ungebildeten behaupten, man sehe auf ihnen gar nichts, üben auf die immer
zahlreicher werdenden Kenner die größte Anziehungskraft aus. Kein Gemälde
auf der letzten Ausstellung war stets so unilagert, wie der Kampf ums Dnsein
von SchmierinSky. Zuerst zog es durch seine Größeiwerhültuisfe an (zwei zu
drei Metern); hatten sich aber die Augen an das allgemeine Gelbgrau gewöhnt
und darin den Novembernebel, den Kehrichthaufen, die beiden an einem .Knochen
zerrenden rändigen Köter und den mit einem goldnen Ringe davoneilenden
Raben unterschieden, so war alles voll Bewunderung für die großartige Idee
und die eminente Malerei und stimmte dem Ausspruche eines unsrer gewieg¬
testen Kritiker bei, das Bild sei von so packender Lebenswnhrheit, daß sich der
Beschauer unwillkürlich mich persischem Jnsektenpulver umsehe. Und was die
modernen Theaterdichtnngen betrifft, so sind sie längst nicht mehr auf die
freien Bühnen beschränkt, das höhergebildete Publikum erzwingt ihnen den
Zulaß zu deu größten Hof- und Stadttheatern.

Die landläufige Vehanptung, daß diese Richtung dem Volke Lebensmut
oder Lebenslust stehle, ist einfach lächerlich. Wenn wir uns nach der „Premiere"
einer modernen dramatischen Dichtung in dem gastlichen Hause des Herrn
Rosenstein versammeln, um deu neuen Lorbeer unsers Freundes, der abermals
einen so tiefen Blick und Griff in deu Schmutz des heutigen Lebens gethan
hat. mit Champagner zu begießen. wenn wir dann, behaglich in die Tiefe
eines Plüschfautemls oder eines mit persischen Teppichen belegten Divans ver¬
senkt, um uns blicken und nicht mehr eine öde. feuchte Kellerwohnung, souderu
die warmen, taghell beleuchteten und mit tausend Kostbarkeiten ausgestatteten
Salons sehen, nicht mehr dnrch übermäßige Arbeit und Hunger ausgemergelte
Gestalten, betrunkene Eltern und verwahrloste Kinder sehen, sondern geputzte,
sorgenfreie, plaudernde und schäkernde Herren und Damen — dann überkommt
uns erst recht das Gefühl des Wohlseins oder der Zufriedenheit mit dieser
Welt. Der stets geistreiche Theaterreferent Dr. Schnatterwitz pflegt dieser
Empfindung Ausdruck zu geben, indem er der in Diamanten strahlenden
Hausfrau zuruft: Königin, das Leben ist doch schön! Das soll Pessi¬
mismus sein?

Bei einer solchen Gelegenheit machte einer meiner Bekannten, ein ebenso
tief- als freisinniger Bernfsparlamentarier, allerdings die Bemerkung, ihm fange
an bange zu werden. Die Kunst habe unverkennbar den Gipfel erstiegen, ein
weiterer Fortschritt sei unmöglich, und jeder Stillstand die Einleitung zum
Rückschritt. Ich mußte ihm im Prinzip recht geben. Deshalb ist es ja die


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[0247] Die Wahrheit auf der Bühne sie abspiegelt! Auch ist der Widerstand ohnmächtig. Der Pöbel freilich, der auf den obersten Galerien des Schauspielhauses sitzt, begünstigt noch Auf¬ führungen, durch die er sich erschüttert und erhoben oder über das Einerlei des Alltagslebens hinweggetauscht fühlt. Aber die Höhergebildeten huldigen immer entschiedener der neuen Richtung. Gerade die Bilder, von denen die Ungebildeten behaupten, man sehe auf ihnen gar nichts, üben auf die immer zahlreicher werdenden Kenner die größte Anziehungskraft aus. Kein Gemälde auf der letzten Ausstellung war stets so unilagert, wie der Kampf ums Dnsein von SchmierinSky. Zuerst zog es durch seine Größeiwerhültuisfe an (zwei zu drei Metern); hatten sich aber die Augen an das allgemeine Gelbgrau gewöhnt und darin den Novembernebel, den Kehrichthaufen, die beiden an einem .Knochen zerrenden rändigen Köter und den mit einem goldnen Ringe davoneilenden Raben unterschieden, so war alles voll Bewunderung für die großartige Idee und die eminente Malerei und stimmte dem Ausspruche eines unsrer gewieg¬ testen Kritiker bei, das Bild sei von so packender Lebenswnhrheit, daß sich der Beschauer unwillkürlich mich persischem Jnsektenpulver umsehe. Und was die modernen Theaterdichtnngen betrifft, so sind sie längst nicht mehr auf die freien Bühnen beschränkt, das höhergebildete Publikum erzwingt ihnen den Zulaß zu deu größten Hof- und Stadttheatern. Die landläufige Vehanptung, daß diese Richtung dem Volke Lebensmut oder Lebenslust stehle, ist einfach lächerlich. Wenn wir uns nach der „Premiere" einer modernen dramatischen Dichtung in dem gastlichen Hause des Herrn Rosenstein versammeln, um deu neuen Lorbeer unsers Freundes, der abermals einen so tiefen Blick und Griff in deu Schmutz des heutigen Lebens gethan hat. mit Champagner zu begießen. wenn wir dann, behaglich in die Tiefe eines Plüschfautemls oder eines mit persischen Teppichen belegten Divans ver¬ senkt, um uns blicken und nicht mehr eine öde. feuchte Kellerwohnung, souderu die warmen, taghell beleuchteten und mit tausend Kostbarkeiten ausgestatteten Salons sehen, nicht mehr dnrch übermäßige Arbeit und Hunger ausgemergelte Gestalten, betrunkene Eltern und verwahrloste Kinder sehen, sondern geputzte, sorgenfreie, plaudernde und schäkernde Herren und Damen — dann überkommt uns erst recht das Gefühl des Wohlseins oder der Zufriedenheit mit dieser Welt. Der stets geistreiche Theaterreferent Dr. Schnatterwitz pflegt dieser Empfindung Ausdruck zu geben, indem er der in Diamanten strahlenden Hausfrau zuruft: Königin, das Leben ist doch schön! Das soll Pessi¬ mismus sein? Bei einer solchen Gelegenheit machte einer meiner Bekannten, ein ebenso tief- als freisinniger Bernfsparlamentarier, allerdings die Bemerkung, ihm fange an bange zu werden. Die Kunst habe unverkennbar den Gipfel erstiegen, ein weiterer Fortschritt sei unmöglich, und jeder Stillstand die Einleitung zum Rückschritt. Ich mußte ihm im Prinzip recht geben. Deshalb ist es ja die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/247>, abgerufen am 23.07.2024.