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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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städtischer Zeitungen, die sich in ihrem politischen Teil wohl hüten, revolu¬
tionär zu sein, in allen Kunst- und Litteraturfrngen die widerlichen Renom-
magen, die persönlichen Gelüste weniger Catilinarier als Urteile, als ihre
Zeitanschauungen und Bilduugsergebuisfe aufgedrängt werden. Wie zur Zeit
des Schreckens in Paris soll die ganze ungeheure Mehrzahl des deutscheu
Publikums gezwungen werden, sich zu einer Losung in Kunst und Litteratur
zu bekennen, die ihr in innerster Seele fremd, ja verhaßt ist. Wie die Pariser
"Citohens" von 17L3 vor dem Verdacht "kontrerevolutionärer Gesinnung"
zitterten und lieber die rote Mütze aufstülpten, als sich mißhandeln ließen,
so sind ganze Reihen unsrer Gebildeten dahin gebracht, daß sie Dinge auf
dem Papiere bewundern, die sie im Leben weit von sich weisen. Der Bilduugs-
Philister hat sich zu alleu Zeiten das Neueste aufreden lassen. Wenn es ihm
nnn vollends mit Fünften aufgedrängt, in die würgende Kehle hinabgestoßen
wird, wenn er ununterbrochen annehmen muß, daß er ein Narr, sein Blick
getrübt, sein Geschmack veraltet und ganz und gar unzulässig sei, wird er klüg¬
lich gefügig. Dann glaubt er zwar nicht, daß die mit ihm schaltenden Recht
haben, aber da er nicht mehr recht weiß, wie seine Nachbarn zur "Moderne"
stehen, und vollkommen übersieht, daß die ganze Macht ihrer Apostel, ihrer
kritischen Schreckensmänner, ihrer harten Fauste aus seiner eignen Trägheit
und Feigheit stammt, so hilft er die große Täuschung verstärken, als ob hinter
der frivolen Neuerungs- und Erfolgslust einer kleinen Schar, deren Ehrgeiz
ihr Talent überragt, der Himmel weiß, welche Massen, welche Kräfte, welches
Bedürfnis von Millionen stünden. Es steht nichts, absolut nichts dahinter, als
die schlechte Gewöhnung, hinter jedem dreisten Sprecher und Schreiber einen
Propheten, hinter jedem im Orakelton vorgetragnen Unsinn einen Sinn zu
suchen, nichts als die Unfähigkeit, sich seiner Haut zu wehren und die eigne
Empfindung von der tagtäglich aus der Zeitung vernommenen fremden und
aufgenötigten zu unterscheiden. Ist es dem, gar so viel gefordert, daß unsre
"Besten" gegen einen wüsten und rohen Zwang ihr zur Zeit noch unbestritt-
nes Hausrecht wahren solle"?

Die Ähnlichkeit des in unsrer Litteratur versuchten Schreckensregiments
mit den Erscheinungen des glorreichen Schreckens in Frankreich tritt much
darin zu Tage, daß die Hälfte der Vertreter der "neuen Litteratur", des
Naturalismus, oder wie das Ding sonst genannt werden mag, so wenig an
die Zukunft der eignen Sache glaubt, wie die Männer des Pariser Gemeinde¬
rath von 1793 an die Verfassung eben dieses Jahres. Wenn man genau
zusieht, wie sich die extremsten und scheinbar überzeugtester Wortführer beständig
den Rückzug offen halte", wie sie mitten in den sinnlosesten Lobpreisungen der
nach ihrem Evangelium allein berechtigten Bilder und Bücher von vornherein
einräumen, daß eine Zeit kommen werde, wo man wiederum das Häßliche
mit dem Erhebenden und Schönen werde vertauschen können (einzelne sagen


städtischer Zeitungen, die sich in ihrem politischen Teil wohl hüten, revolu¬
tionär zu sein, in allen Kunst- und Litteraturfrngen die widerlichen Renom-
magen, die persönlichen Gelüste weniger Catilinarier als Urteile, als ihre
Zeitanschauungen und Bilduugsergebuisfe aufgedrängt werden. Wie zur Zeit
des Schreckens in Paris soll die ganze ungeheure Mehrzahl des deutscheu
Publikums gezwungen werden, sich zu einer Losung in Kunst und Litteratur
zu bekennen, die ihr in innerster Seele fremd, ja verhaßt ist. Wie die Pariser
„Citohens" von 17L3 vor dem Verdacht „kontrerevolutionärer Gesinnung"
zitterten und lieber die rote Mütze aufstülpten, als sich mißhandeln ließen,
so sind ganze Reihen unsrer Gebildeten dahin gebracht, daß sie Dinge auf
dem Papiere bewundern, die sie im Leben weit von sich weisen. Der Bilduugs-
Philister hat sich zu alleu Zeiten das Neueste aufreden lassen. Wenn es ihm
nnn vollends mit Fünften aufgedrängt, in die würgende Kehle hinabgestoßen
wird, wenn er ununterbrochen annehmen muß, daß er ein Narr, sein Blick
getrübt, sein Geschmack veraltet und ganz und gar unzulässig sei, wird er klüg¬
lich gefügig. Dann glaubt er zwar nicht, daß die mit ihm schaltenden Recht
haben, aber da er nicht mehr recht weiß, wie seine Nachbarn zur „Moderne"
stehen, und vollkommen übersieht, daß die ganze Macht ihrer Apostel, ihrer
kritischen Schreckensmänner, ihrer harten Fauste aus seiner eignen Trägheit
und Feigheit stammt, so hilft er die große Täuschung verstärken, als ob hinter
der frivolen Neuerungs- und Erfolgslust einer kleinen Schar, deren Ehrgeiz
ihr Talent überragt, der Himmel weiß, welche Massen, welche Kräfte, welches
Bedürfnis von Millionen stünden. Es steht nichts, absolut nichts dahinter, als
die schlechte Gewöhnung, hinter jedem dreisten Sprecher und Schreiber einen
Propheten, hinter jedem im Orakelton vorgetragnen Unsinn einen Sinn zu
suchen, nichts als die Unfähigkeit, sich seiner Haut zu wehren und die eigne
Empfindung von der tagtäglich aus der Zeitung vernommenen fremden und
aufgenötigten zu unterscheiden. Ist es dem, gar so viel gefordert, daß unsre
„Besten" gegen einen wüsten und rohen Zwang ihr zur Zeit noch unbestritt-
nes Hausrecht wahren solle»?

Die Ähnlichkeit des in unsrer Litteratur versuchten Schreckensregiments
mit den Erscheinungen des glorreichen Schreckens in Frankreich tritt much
darin zu Tage, daß die Hälfte der Vertreter der „neuen Litteratur", des
Naturalismus, oder wie das Ding sonst genannt werden mag, so wenig an
die Zukunft der eignen Sache glaubt, wie die Männer des Pariser Gemeinde¬
rath von 1793 an die Verfassung eben dieses Jahres. Wenn man genau
zusieht, wie sich die extremsten und scheinbar überzeugtester Wortführer beständig
den Rückzug offen halte», wie sie mitten in den sinnlosesten Lobpreisungen der
nach ihrem Evangelium allein berechtigten Bilder und Bücher von vornherein
einräumen, daß eine Zeit kommen werde, wo man wiederum das Häßliche
mit dem Erhebenden und Schönen werde vertauschen können (einzelne sagen


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[0245] städtischer Zeitungen, die sich in ihrem politischen Teil wohl hüten, revolu¬ tionär zu sein, in allen Kunst- und Litteraturfrngen die widerlichen Renom- magen, die persönlichen Gelüste weniger Catilinarier als Urteile, als ihre Zeitanschauungen und Bilduugsergebuisfe aufgedrängt werden. Wie zur Zeit des Schreckens in Paris soll die ganze ungeheure Mehrzahl des deutscheu Publikums gezwungen werden, sich zu einer Losung in Kunst und Litteratur zu bekennen, die ihr in innerster Seele fremd, ja verhaßt ist. Wie die Pariser „Citohens" von 17L3 vor dem Verdacht „kontrerevolutionärer Gesinnung" zitterten und lieber die rote Mütze aufstülpten, als sich mißhandeln ließen, so sind ganze Reihen unsrer Gebildeten dahin gebracht, daß sie Dinge auf dem Papiere bewundern, die sie im Leben weit von sich weisen. Der Bilduugs- Philister hat sich zu alleu Zeiten das Neueste aufreden lassen. Wenn es ihm nnn vollends mit Fünften aufgedrängt, in die würgende Kehle hinabgestoßen wird, wenn er ununterbrochen annehmen muß, daß er ein Narr, sein Blick getrübt, sein Geschmack veraltet und ganz und gar unzulässig sei, wird er klüg¬ lich gefügig. Dann glaubt er zwar nicht, daß die mit ihm schaltenden Recht haben, aber da er nicht mehr recht weiß, wie seine Nachbarn zur „Moderne" stehen, und vollkommen übersieht, daß die ganze Macht ihrer Apostel, ihrer kritischen Schreckensmänner, ihrer harten Fauste aus seiner eignen Trägheit und Feigheit stammt, so hilft er die große Täuschung verstärken, als ob hinter der frivolen Neuerungs- und Erfolgslust einer kleinen Schar, deren Ehrgeiz ihr Talent überragt, der Himmel weiß, welche Massen, welche Kräfte, welches Bedürfnis von Millionen stünden. Es steht nichts, absolut nichts dahinter, als die schlechte Gewöhnung, hinter jedem dreisten Sprecher und Schreiber einen Propheten, hinter jedem im Orakelton vorgetragnen Unsinn einen Sinn zu suchen, nichts als die Unfähigkeit, sich seiner Haut zu wehren und die eigne Empfindung von der tagtäglich aus der Zeitung vernommenen fremden und aufgenötigten zu unterscheiden. Ist es dem, gar so viel gefordert, daß unsre „Besten" gegen einen wüsten und rohen Zwang ihr zur Zeit noch unbestritt- nes Hausrecht wahren solle»? Die Ähnlichkeit des in unsrer Litteratur versuchten Schreckensregiments mit den Erscheinungen des glorreichen Schreckens in Frankreich tritt much darin zu Tage, daß die Hälfte der Vertreter der „neuen Litteratur", des Naturalismus, oder wie das Ding sonst genannt werden mag, so wenig an die Zukunft der eignen Sache glaubt, wie die Männer des Pariser Gemeinde¬ rath von 1793 an die Verfassung eben dieses Jahres. Wenn man genau zusieht, wie sich die extremsten und scheinbar überzeugtester Wortführer beständig den Rückzug offen halte», wie sie mitten in den sinnlosesten Lobpreisungen der nach ihrem Evangelium allein berechtigten Bilder und Bücher von vornherein einräumen, daß eine Zeit kommen werde, wo man wiederum das Häßliche mit dem Erhebenden und Schönen werde vertauschen können (einzelne sagen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/245>, abgerufen am 23.07.2024.