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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Brei stieß und dazu ausrief: Friß, was du dir gewürzt hast! ist niemals
das Vorbild unsrer wohlunterrichteten und wohlanständigen Leute gewesen,
obwohl er sicher in seinem Recht war. Wir lassen uns von einigen hundert
dreisten und nichtigen Gesellen verunglimpfen, was uns heilig ist, lassen uns die
sehenden Augen staarblind nennen, die eignen Empfindungen hinwegleugnen,
den gefunden Sinn als Rest vorsintflutlicher Eigenschaften abdispntiren. Wir
glauben zwar kein Wort von dein ganzen Gewäsch, daß das Häßliche in Kunst
und Litteratur das allein berechtigte, weil allein wahre sei, wir schütteln uns
vor dem Geruch, der in Bildern und Büchern als das notwendige, weil allein
"neue" über uns ausgegossen wird, wir suchen nach wie vor Genuß bei dem,
was nach den Dekreten unsrer ästhetischen Wohlfahrtsausschusse keinen Genuß
mehr gewähren darf, aber wir lassen die Terroristen über uns schalten, lassen
Presse, Litteratur, Bühne und Kunstausstellung in die Hände der ästhetischen
Ohnehosen geraten und schreien höchstens, wenn es uns zu bunt wird, nach
dem Staatsanwalt und der Polizei.

Und was können angesichts der ästhetischen und kritischen Schreckensherr¬
schaft Polizei und Staatsanwalt thun? Sie spielen meist keine bessere und glück¬
lichere Rolle als die ausländischen Mächte im revolutionirten Frankreich vor
hundert Jahren. Sie steigern das Übel, anstatt es zu besiegen. Ein paar
herausfordernde, dein guten Geschmack noch mehr als den guten Sitten ins
(Befiehl schlagende Stücke werden hie und da verboten, ein und das andre
Buch wegen ein paar frecher, unzüchtiger Seiten konfiszirt, ein paar klägliche
Feuilletons strafrechtlich verfolgt. Die in den Händen der "Modernen" befind¬
lichen Zeitungen schlagen dann einen .Höllenlärm, Protestiren im Namen der
Kunst und der geistigen Freiheit gegen ein so plumpes und unberechtigtes Drein-
fahren und macheu mit mehr oder minder Recht geltend, daß die Grenzen
des Darstellbaren von der schöpferischen Natur, dem künstlerischen Talent, aber
nicht vom Staatsanwalt und vom Polizeileuteuant gezogen werden dürften.
Sie weisen auf die Gefahr hin, die mit der Einmischung der Staatsorgane
in die innersten Fragen der poetischen Anlage und des schöpferischen Dranges
notwendig eintreten müsse. Ugt obschon in neunzig von hundert Fällen
die Berufung auf die Kunst eine Lüge ist, obschon die betroffnen Werke
sehr oft ins Gebiet der Publizistik und teilweise noch in ein ganz andres
Gebiet gehören, so genügen doch zehn Fälle, auch den entschiedensten Gegner
der neuen naturalistischen Romane und Dramen für das Recht ungehemmter
künstlicher Lebensdarftellung in die Schranken zu rufen.

Gewiß giebt es eine Linie, die das gemeine Unznchtsbild und die Bvrdell-
litteratur vou der künstlerische" Darstellung scheidet. Aber es bleibt äußerst
bedenklich, die subjektive Bildung und Stimmung jedes Herrn Staatsanwalts
oder Kriminalkoiumissars hier mit der Gewalt des Eingriffs auszustatten.
Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wie leicht eine Reihe der uusterb-


Brei stieß und dazu ausrief: Friß, was du dir gewürzt hast! ist niemals
das Vorbild unsrer wohlunterrichteten und wohlanständigen Leute gewesen,
obwohl er sicher in seinem Recht war. Wir lassen uns von einigen hundert
dreisten und nichtigen Gesellen verunglimpfen, was uns heilig ist, lassen uns die
sehenden Augen staarblind nennen, die eignen Empfindungen hinwegleugnen,
den gefunden Sinn als Rest vorsintflutlicher Eigenschaften abdispntiren. Wir
glauben zwar kein Wort von dein ganzen Gewäsch, daß das Häßliche in Kunst
und Litteratur das allein berechtigte, weil allein wahre sei, wir schütteln uns
vor dem Geruch, der in Bildern und Büchern als das notwendige, weil allein
„neue" über uns ausgegossen wird, wir suchen nach wie vor Genuß bei dem,
was nach den Dekreten unsrer ästhetischen Wohlfahrtsausschusse keinen Genuß
mehr gewähren darf, aber wir lassen die Terroristen über uns schalten, lassen
Presse, Litteratur, Bühne und Kunstausstellung in die Hände der ästhetischen
Ohnehosen geraten und schreien höchstens, wenn es uns zu bunt wird, nach
dem Staatsanwalt und der Polizei.

Und was können angesichts der ästhetischen und kritischen Schreckensherr¬
schaft Polizei und Staatsanwalt thun? Sie spielen meist keine bessere und glück¬
lichere Rolle als die ausländischen Mächte im revolutionirten Frankreich vor
hundert Jahren. Sie steigern das Übel, anstatt es zu besiegen. Ein paar
herausfordernde, dein guten Geschmack noch mehr als den guten Sitten ins
(Befiehl schlagende Stücke werden hie und da verboten, ein und das andre
Buch wegen ein paar frecher, unzüchtiger Seiten konfiszirt, ein paar klägliche
Feuilletons strafrechtlich verfolgt. Die in den Händen der „Modernen" befind¬
lichen Zeitungen schlagen dann einen .Höllenlärm, Protestiren im Namen der
Kunst und der geistigen Freiheit gegen ein so plumpes und unberechtigtes Drein-
fahren und macheu mit mehr oder minder Recht geltend, daß die Grenzen
des Darstellbaren von der schöpferischen Natur, dem künstlerischen Talent, aber
nicht vom Staatsanwalt und vom Polizeileuteuant gezogen werden dürften.
Sie weisen auf die Gefahr hin, die mit der Einmischung der Staatsorgane
in die innersten Fragen der poetischen Anlage und des schöpferischen Dranges
notwendig eintreten müsse. Ugt obschon in neunzig von hundert Fällen
die Berufung auf die Kunst eine Lüge ist, obschon die betroffnen Werke
sehr oft ins Gebiet der Publizistik und teilweise noch in ein ganz andres
Gebiet gehören, so genügen doch zehn Fälle, auch den entschiedensten Gegner
der neuen naturalistischen Romane und Dramen für das Recht ungehemmter
künstlicher Lebensdarftellung in die Schranken zu rufen.

Gewiß giebt es eine Linie, die das gemeine Unznchtsbild und die Bvrdell-
litteratur vou der künstlerische» Darstellung scheidet. Aber es bleibt äußerst
bedenklich, die subjektive Bildung und Stimmung jedes Herrn Staatsanwalts
oder Kriminalkoiumissars hier mit der Gewalt des Eingriffs auszustatten.
Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wie leicht eine Reihe der uusterb-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/243>, abgerufen am 23.07.2024.