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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Schweizer Dichter

es erzogen worden ist. Nur mit dem "Nettuugsgürtel ihres Leichtsinns" vermag
Lukrezia die Wucht ihrer sie in die Tiefe zerrenden Thaten zu besiegen. Sie
hat die merkwürdige Gabe, vergessen zu können, was sie gethan hat, als wäre
es nie geschehen. Sie wird uns (und das eben ist das Schwerverständliche)
als ein Doppelwesen geschildert, in dem Mensch und Teufel unvermittelt neben
einander wohne". Ihr weibliches, alle Welt mit seiner Anmut bezauberndes
Wesen wehrt sich ohnmächtig gegen die höhere Hälfte in ihr, und diese steht
im Dienste ihres Familienehrgeizes. Solange ihr Bruder Cesare Borgia im
Kerker ist, atmet Lukrezia frei auf, ist sie ein liebendes Weib voller Schön¬
heit und Klugheit. Kaum aber verlangt Cesare ihre Hilfe, so mird sie zur
Meduse, die mit dämonischer Rücksichtslosigkeit über Leichen hinwegschreitet,
wenn es gilt, seine Pläne zu fördern. Und offenbar nur um dieses seltsame
Charakterbild durch den Kontrast zu heben, hat Meyer seine engelreine
Angela geschaffen. Diese Vorgia ist von der zartesten Gewissenhaftig¬
keit; sie kann nicht bloß kein Unrecht thun, sie fühlt sich auch mitschuldig,
wem, sie, ohne zu wollen, Anlaß zu einem Verbreche" eines andern
geworden ist. Rede" diesem lieblich zarten guten Wesen steht Lukrezia in
gespenstischer Furchtbarkeit da: eine Meduse, und um so wirksamer, als sie
der Dichter mit wohlerwogner Absicht in die zweite Linie seiner Erzählung
gerückt hat, von wo sie im Halbdunkel leuchtet.

Angela liebt unbewußt einen Halbbruder des Herzogs, deu Prinzen
Giulio von Este. Seine schönen Augen allein haben es ihr angethan, seine
Lebensführung verabscheut sie; denn als echter Renaissaneemeusch gehört er zu
deu Ehr- und Geuußsüchtigen, die sich aus einem Mord kein Gewissen machen,
wenn sie nur ihre Ziele erreichen. Giulio liebt zunächst Angeln gar nicht, da sie
ihn, sie weiß selbst nicht warum, mit Moralpredigten überfüllt; umso leidenschaft¬
licher liebt sie sein Bruder, der Kardinal Jppolitv, die rechte Hand des Herzogs,
wegen seiner diplomatischen Kunst ihm unentbehrlich. Jppolito ist gerade so
ein leidenschaftlicher Egoist wie Giulio; er ist so eifersüchtig auf die kühle
Angela, daß er jedem verbietet, sich ihr zu nähern, und als sie einmal vor
ihm Giulios Augen lobt, da läßt der rasende Kardinal diese Augen aus¬
stechen. Diese entsetzliche That ist der Mittelpunkt der Erzählung, in der nun
ihre Folgen für alle Beteiligten geschildert werden. Jppolito wird von der
Gewissensqual niedergeworfen und langsam physisch und moralisch zu Tode
gemartert. Giulio läutert sich in der Nacht seiner Blindheit und "ach allerlei
furchtbaren Erlebnissen, sodaß er schließlich -- in sehr romantischer Weise --
der Gatte Angelas wird, die nach und nach zur Erkenntnis ihrer Liebe für
den weit über Gebühr gestraften Blinden gelangt. Parallel kunst eine Ge¬
schichte der Lukrezia mit dem jungen Oberrichter Strozzi. Bei dieser Lukrezia
fühlt man sich an die angefaulten Frauengestalten aus den modernsten Ro¬
manen erinnert, nämlich dadurch, daß sie jenen Mnun haßt, der ihrem bösen


Schweizer Dichter

es erzogen worden ist. Nur mit dem „Nettuugsgürtel ihres Leichtsinns" vermag
Lukrezia die Wucht ihrer sie in die Tiefe zerrenden Thaten zu besiegen. Sie
hat die merkwürdige Gabe, vergessen zu können, was sie gethan hat, als wäre
es nie geschehen. Sie wird uns (und das eben ist das Schwerverständliche)
als ein Doppelwesen geschildert, in dem Mensch und Teufel unvermittelt neben
einander wohne». Ihr weibliches, alle Welt mit seiner Anmut bezauberndes
Wesen wehrt sich ohnmächtig gegen die höhere Hälfte in ihr, und diese steht
im Dienste ihres Familienehrgeizes. Solange ihr Bruder Cesare Borgia im
Kerker ist, atmet Lukrezia frei auf, ist sie ein liebendes Weib voller Schön¬
heit und Klugheit. Kaum aber verlangt Cesare ihre Hilfe, so mird sie zur
Meduse, die mit dämonischer Rücksichtslosigkeit über Leichen hinwegschreitet,
wenn es gilt, seine Pläne zu fördern. Und offenbar nur um dieses seltsame
Charakterbild durch den Kontrast zu heben, hat Meyer seine engelreine
Angela geschaffen. Diese Vorgia ist von der zartesten Gewissenhaftig¬
keit; sie kann nicht bloß kein Unrecht thun, sie fühlt sich auch mitschuldig,
wem, sie, ohne zu wollen, Anlaß zu einem Verbreche» eines andern
geworden ist. Rede» diesem lieblich zarten guten Wesen steht Lukrezia in
gespenstischer Furchtbarkeit da: eine Meduse, und um so wirksamer, als sie
der Dichter mit wohlerwogner Absicht in die zweite Linie seiner Erzählung
gerückt hat, von wo sie im Halbdunkel leuchtet.

Angela liebt unbewußt einen Halbbruder des Herzogs, deu Prinzen
Giulio von Este. Seine schönen Augen allein haben es ihr angethan, seine
Lebensführung verabscheut sie; denn als echter Renaissaneemeusch gehört er zu
deu Ehr- und Geuußsüchtigen, die sich aus einem Mord kein Gewissen machen,
wenn sie nur ihre Ziele erreichen. Giulio liebt zunächst Angeln gar nicht, da sie
ihn, sie weiß selbst nicht warum, mit Moralpredigten überfüllt; umso leidenschaft¬
licher liebt sie sein Bruder, der Kardinal Jppolitv, die rechte Hand des Herzogs,
wegen seiner diplomatischen Kunst ihm unentbehrlich. Jppolito ist gerade so
ein leidenschaftlicher Egoist wie Giulio; er ist so eifersüchtig auf die kühle
Angela, daß er jedem verbietet, sich ihr zu nähern, und als sie einmal vor
ihm Giulios Augen lobt, da läßt der rasende Kardinal diese Augen aus¬
stechen. Diese entsetzliche That ist der Mittelpunkt der Erzählung, in der nun
ihre Folgen für alle Beteiligten geschildert werden. Jppolito wird von der
Gewissensqual niedergeworfen und langsam physisch und moralisch zu Tode
gemartert. Giulio läutert sich in der Nacht seiner Blindheit und »ach allerlei
furchtbaren Erlebnissen, sodaß er schließlich — in sehr romantischer Weise —
der Gatte Angelas wird, die nach und nach zur Erkenntnis ihrer Liebe für
den weit über Gebühr gestraften Blinden gelangt. Parallel kunst eine Ge¬
schichte der Lukrezia mit dem jungen Oberrichter Strozzi. Bei dieser Lukrezia
fühlt man sich an die angefaulten Frauengestalten aus den modernsten Ro¬
manen erinnert, nämlich dadurch, daß sie jenen Mnun haßt, der ihrem bösen


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[0141] Schweizer Dichter es erzogen worden ist. Nur mit dem „Nettuugsgürtel ihres Leichtsinns" vermag Lukrezia die Wucht ihrer sie in die Tiefe zerrenden Thaten zu besiegen. Sie hat die merkwürdige Gabe, vergessen zu können, was sie gethan hat, als wäre es nie geschehen. Sie wird uns (und das eben ist das Schwerverständliche) als ein Doppelwesen geschildert, in dem Mensch und Teufel unvermittelt neben einander wohne». Ihr weibliches, alle Welt mit seiner Anmut bezauberndes Wesen wehrt sich ohnmächtig gegen die höhere Hälfte in ihr, und diese steht im Dienste ihres Familienehrgeizes. Solange ihr Bruder Cesare Borgia im Kerker ist, atmet Lukrezia frei auf, ist sie ein liebendes Weib voller Schön¬ heit und Klugheit. Kaum aber verlangt Cesare ihre Hilfe, so mird sie zur Meduse, die mit dämonischer Rücksichtslosigkeit über Leichen hinwegschreitet, wenn es gilt, seine Pläne zu fördern. Und offenbar nur um dieses seltsame Charakterbild durch den Kontrast zu heben, hat Meyer seine engelreine Angela geschaffen. Diese Vorgia ist von der zartesten Gewissenhaftig¬ keit; sie kann nicht bloß kein Unrecht thun, sie fühlt sich auch mitschuldig, wem, sie, ohne zu wollen, Anlaß zu einem Verbreche» eines andern geworden ist. Rede» diesem lieblich zarten guten Wesen steht Lukrezia in gespenstischer Furchtbarkeit da: eine Meduse, und um so wirksamer, als sie der Dichter mit wohlerwogner Absicht in die zweite Linie seiner Erzählung gerückt hat, von wo sie im Halbdunkel leuchtet. Angela liebt unbewußt einen Halbbruder des Herzogs, deu Prinzen Giulio von Este. Seine schönen Augen allein haben es ihr angethan, seine Lebensführung verabscheut sie; denn als echter Renaissaneemeusch gehört er zu deu Ehr- und Geuußsüchtigen, die sich aus einem Mord kein Gewissen machen, wenn sie nur ihre Ziele erreichen. Giulio liebt zunächst Angeln gar nicht, da sie ihn, sie weiß selbst nicht warum, mit Moralpredigten überfüllt; umso leidenschaft¬ licher liebt sie sein Bruder, der Kardinal Jppolitv, die rechte Hand des Herzogs, wegen seiner diplomatischen Kunst ihm unentbehrlich. Jppolito ist gerade so ein leidenschaftlicher Egoist wie Giulio; er ist so eifersüchtig auf die kühle Angela, daß er jedem verbietet, sich ihr zu nähern, und als sie einmal vor ihm Giulios Augen lobt, da läßt der rasende Kardinal diese Augen aus¬ stechen. Diese entsetzliche That ist der Mittelpunkt der Erzählung, in der nun ihre Folgen für alle Beteiligten geschildert werden. Jppolito wird von der Gewissensqual niedergeworfen und langsam physisch und moralisch zu Tode gemartert. Giulio läutert sich in der Nacht seiner Blindheit und »ach allerlei furchtbaren Erlebnissen, sodaß er schließlich — in sehr romantischer Weise — der Gatte Angelas wird, die nach und nach zur Erkenntnis ihrer Liebe für den weit über Gebühr gestraften Blinden gelangt. Parallel kunst eine Ge¬ schichte der Lukrezia mit dem jungen Oberrichter Strozzi. Bei dieser Lukrezia fühlt man sich an die angefaulten Frauengestalten aus den modernsten Ro¬ manen erinnert, nämlich dadurch, daß sie jenen Mnun haßt, der ihrem bösen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/141>, abgerufen am 23.07.2024.