Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Bekämpfung der Socialdemokratie vom psychologischen Standpunkt

kein konservativeres Element im öffentlichen Leben, als eine Familie, die sich
wohl befindet.

Der Mensch gehört aber nicht nur der Familie und dem Staate (dem öffent¬
lichen Leben im engern Sinne) an, sondern auch der Gesellschaft, die zwischen Staat
und Familie steht und in gewissem Sinne die Grundlage beider bildet. Die Gesell¬
schaft ist keine rechtliche Gemeinschaft wie der Staat, fondern eine geistige Gemein¬
schaft mit gleichartigen Bestrebungen und Zielen; sie ist auch eine freiwillige Ge¬
meinschaft, kein Mensch kann gezwungen werden, mehr als Physisch einer Gesellschaft
anzugehören und an ihren Bestrebungen teilzunehmen. Trotzdem hat sie eine gewal¬
tige sittliche Macht, in ihr entsteht die öffentliche Meinung, und ein Menfch, über
den sie ein vernichtendes Urteil gefällt hat, erscheint aus ihr ausgestoßen und gilt
als verloren. Nichts fühlt der Einzelne so sehr, als das Urteil der Gesellschaft,
sie steht sogar über dem durch den Richter gefällten strafrechtlichen Urteil; denn
nur das Urteil und feine Vollziehung wird eine mehr als physische Wirkung
zur Folge habe", das von der öffentlichen Meinung grundsätzlich gebilligt er-
scheint. Deswegen kann keine Strafe für eine That ehrlos machen, die von
der öffentlichen Meinung nicht für ehrlos gehalten wird. Dabei ist die Gesell¬
schaft keine begrenzte Gemeinschaft; man kann ebensogut voll einer europäischen
und amerikanischen wie von der Wiener Gesellschaft oder von der Gesellschaft
der kleinsten Stadt oder des kleinsten Dorfes sprechen.

Die Gesellschaft erscheint aber äußerlich bestimmt durch deu Verkehr: den
öffentlichen und den privaten; innerlich aber durch die gemeinsame" geistigen
Bestrebungen und Ziele. Diese können wieder dreifach sein: öffentliche
(politische), geschäftliche (die den Beruf der Einzelnen betreffen) und ge¬
sellige (dem gemeinsamen Vergnügen gewidmet). Alle diese Ziele greisen in
einander über und bilden die geistigen Bande, die die Einzelnen zur Gesellschaft
verknüpfen.

Es ist nun natürlich, daß sich innerhalb der größten Gemeinschaft, der
menfchlichen Gesellschaft, nicht nur engere' Gemeinschaften nach Staaten und
Nationalitäten bilden, sondern daß sich auch innerhalb der Maaten und
Nationalitäten wieder kleinere Gemeinschaften bilden, verschiedne Gesellschafts¬
kreise. Diese Gesellschaftskreise haben aber eine, wenn auch nicht streng be¬
grenzte Rangordnung je nach dem Einfluß, den sie aus die öffentliche Meinung
und das politische Leben ausüben. Eine je tiefere Kluft die einzelnen Gesell-
schaftskreise voll einander scheidet, eine desto größere Unzufnedenheit darüber
wird in den untern Kreisen herrschen. Alles verträgt der Mensch eher als
soziale Mißachtung, Man kann mit wenigem und mit vielem leben, aber das
Geld kaun einem nicht ganz verkommene". Charakter niemals die gesellschaftlich
geachtete Stellung ersetzen. Es wird daher niemals gemigeu, die materielle
Lage der vierten Standes zu heben, thu aber im übrigen mit Geringschätzung
links liegen zu lassen; man kann die sozialdemokratische Bewegung im vierten


Die Bekämpfung der Socialdemokratie vom psychologischen Standpunkt

kein konservativeres Element im öffentlichen Leben, als eine Familie, die sich
wohl befindet.

Der Mensch gehört aber nicht nur der Familie und dem Staate (dem öffent¬
lichen Leben im engern Sinne) an, sondern auch der Gesellschaft, die zwischen Staat
und Familie steht und in gewissem Sinne die Grundlage beider bildet. Die Gesell¬
schaft ist keine rechtliche Gemeinschaft wie der Staat, fondern eine geistige Gemein¬
schaft mit gleichartigen Bestrebungen und Zielen; sie ist auch eine freiwillige Ge¬
meinschaft, kein Mensch kann gezwungen werden, mehr als Physisch einer Gesellschaft
anzugehören und an ihren Bestrebungen teilzunehmen. Trotzdem hat sie eine gewal¬
tige sittliche Macht, in ihr entsteht die öffentliche Meinung, und ein Menfch, über
den sie ein vernichtendes Urteil gefällt hat, erscheint aus ihr ausgestoßen und gilt
als verloren. Nichts fühlt der Einzelne so sehr, als das Urteil der Gesellschaft,
sie steht sogar über dem durch den Richter gefällten strafrechtlichen Urteil; denn
nur das Urteil und feine Vollziehung wird eine mehr als physische Wirkung
zur Folge habe», das von der öffentlichen Meinung grundsätzlich gebilligt er-
scheint. Deswegen kann keine Strafe für eine That ehrlos machen, die von
der öffentlichen Meinung nicht für ehrlos gehalten wird. Dabei ist die Gesell¬
schaft keine begrenzte Gemeinschaft; man kann ebensogut voll einer europäischen
und amerikanischen wie von der Wiener Gesellschaft oder von der Gesellschaft
der kleinsten Stadt oder des kleinsten Dorfes sprechen.

Die Gesellschaft erscheint aber äußerlich bestimmt durch deu Verkehr: den
öffentlichen und den privaten; innerlich aber durch die gemeinsame» geistigen
Bestrebungen und Ziele. Diese können wieder dreifach sein: öffentliche
(politische), geschäftliche (die den Beruf der Einzelnen betreffen) und ge¬
sellige (dem gemeinsamen Vergnügen gewidmet). Alle diese Ziele greisen in
einander über und bilden die geistigen Bande, die die Einzelnen zur Gesellschaft
verknüpfen.

Es ist nun natürlich, daß sich innerhalb der größten Gemeinschaft, der
menfchlichen Gesellschaft, nicht nur engere' Gemeinschaften nach Staaten und
Nationalitäten bilden, sondern daß sich auch innerhalb der Maaten und
Nationalitäten wieder kleinere Gemeinschaften bilden, verschiedne Gesellschafts¬
kreise. Diese Gesellschaftskreise haben aber eine, wenn auch nicht streng be¬
grenzte Rangordnung je nach dem Einfluß, den sie aus die öffentliche Meinung
und das politische Leben ausüben. Eine je tiefere Kluft die einzelnen Gesell-
schaftskreise voll einander scheidet, eine desto größere Unzufnedenheit darüber
wird in den untern Kreisen herrschen. Alles verträgt der Mensch eher als
soziale Mißachtung, Man kann mit wenigem und mit vielem leben, aber das
Geld kaun einem nicht ganz verkommene». Charakter niemals die gesellschaftlich
geachtete Stellung ersetzen. Es wird daher niemals gemigeu, die materielle
Lage der vierten Standes zu heben, thu aber im übrigen mit Geringschätzung
links liegen zu lassen; man kann die sozialdemokratische Bewegung im vierten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211182"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Bekämpfung der Socialdemokratie vom psychologischen Standpunkt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_19" prev="#ID_18"> kein konservativeres Element im öffentlichen Leben, als eine Familie, die sich<lb/>
wohl befindet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_20"> Der Mensch gehört aber nicht nur der Familie und dem Staate (dem öffent¬<lb/>
lichen Leben im engern Sinne) an, sondern auch der Gesellschaft, die zwischen Staat<lb/>
und Familie steht und in gewissem Sinne die Grundlage beider bildet. Die Gesell¬<lb/>
schaft ist keine rechtliche Gemeinschaft wie der Staat, fondern eine geistige Gemein¬<lb/>
schaft mit gleichartigen Bestrebungen und Zielen; sie ist auch eine freiwillige Ge¬<lb/>
meinschaft, kein Mensch kann gezwungen werden, mehr als Physisch einer Gesellschaft<lb/>
anzugehören und an ihren Bestrebungen teilzunehmen. Trotzdem hat sie eine gewal¬<lb/>
tige sittliche Macht, in ihr entsteht die öffentliche Meinung, und ein Menfch, über<lb/>
den sie ein vernichtendes Urteil gefällt hat, erscheint aus ihr ausgestoßen und gilt<lb/>
als verloren. Nichts fühlt der Einzelne so sehr, als das Urteil der Gesellschaft,<lb/>
sie steht sogar über dem durch den Richter gefällten strafrechtlichen Urteil; denn<lb/>
nur das Urteil und feine Vollziehung wird eine mehr als physische Wirkung<lb/>
zur Folge habe», das von der öffentlichen Meinung grundsätzlich gebilligt er-<lb/>
scheint. Deswegen kann keine Strafe für eine That ehrlos machen, die von<lb/>
der öffentlichen Meinung nicht für ehrlos gehalten wird. Dabei ist die Gesell¬<lb/>
schaft keine begrenzte Gemeinschaft; man kann ebensogut voll einer europäischen<lb/>
und amerikanischen wie von der Wiener Gesellschaft oder von der Gesellschaft<lb/>
der kleinsten Stadt oder des kleinsten Dorfes sprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_21"> Die Gesellschaft erscheint aber äußerlich bestimmt durch deu Verkehr: den<lb/>
öffentlichen und den privaten; innerlich aber durch die gemeinsame» geistigen<lb/>
Bestrebungen und Ziele. Diese können wieder dreifach sein: öffentliche<lb/>
(politische), geschäftliche (die den Beruf der Einzelnen betreffen) und ge¬<lb/>
sellige (dem gemeinsamen Vergnügen gewidmet). Alle diese Ziele greisen in<lb/>
einander über und bilden die geistigen Bande, die die Einzelnen zur Gesellschaft<lb/>
verknüpfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_22" next="#ID_23"> Es ist nun natürlich, daß sich innerhalb der größten Gemeinschaft, der<lb/>
menfchlichen Gesellschaft, nicht nur engere' Gemeinschaften nach Staaten und<lb/>
Nationalitäten bilden, sondern daß sich auch innerhalb der Maaten und<lb/>
Nationalitäten wieder kleinere Gemeinschaften bilden, verschiedne Gesellschafts¬<lb/>
kreise. Diese Gesellschaftskreise haben aber eine, wenn auch nicht streng be¬<lb/>
grenzte Rangordnung je nach dem Einfluß, den sie aus die öffentliche Meinung<lb/>
und das politische Leben ausüben. Eine je tiefere Kluft die einzelnen Gesell-<lb/>
schaftskreise voll einander scheidet, eine desto größere Unzufnedenheit darüber<lb/>
wird in den untern Kreisen herrschen. Alles verträgt der Mensch eher als<lb/>
soziale Mißachtung, Man kann mit wenigem und mit vielem leben, aber das<lb/>
Geld kaun einem nicht ganz verkommene». Charakter niemals die gesellschaftlich<lb/>
geachtete Stellung ersetzen. Es wird daher niemals gemigeu, die materielle<lb/>
Lage der vierten Standes zu heben, thu aber im übrigen mit Geringschätzung<lb/>
links liegen zu lassen; man kann die sozialdemokratische Bewegung im vierten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] Die Bekämpfung der Socialdemokratie vom psychologischen Standpunkt kein konservativeres Element im öffentlichen Leben, als eine Familie, die sich wohl befindet. Der Mensch gehört aber nicht nur der Familie und dem Staate (dem öffent¬ lichen Leben im engern Sinne) an, sondern auch der Gesellschaft, die zwischen Staat und Familie steht und in gewissem Sinne die Grundlage beider bildet. Die Gesell¬ schaft ist keine rechtliche Gemeinschaft wie der Staat, fondern eine geistige Gemein¬ schaft mit gleichartigen Bestrebungen und Zielen; sie ist auch eine freiwillige Ge¬ meinschaft, kein Mensch kann gezwungen werden, mehr als Physisch einer Gesellschaft anzugehören und an ihren Bestrebungen teilzunehmen. Trotzdem hat sie eine gewal¬ tige sittliche Macht, in ihr entsteht die öffentliche Meinung, und ein Menfch, über den sie ein vernichtendes Urteil gefällt hat, erscheint aus ihr ausgestoßen und gilt als verloren. Nichts fühlt der Einzelne so sehr, als das Urteil der Gesellschaft, sie steht sogar über dem durch den Richter gefällten strafrechtlichen Urteil; denn nur das Urteil und feine Vollziehung wird eine mehr als physische Wirkung zur Folge habe», das von der öffentlichen Meinung grundsätzlich gebilligt er- scheint. Deswegen kann keine Strafe für eine That ehrlos machen, die von der öffentlichen Meinung nicht für ehrlos gehalten wird. Dabei ist die Gesell¬ schaft keine begrenzte Gemeinschaft; man kann ebensogut voll einer europäischen und amerikanischen wie von der Wiener Gesellschaft oder von der Gesellschaft der kleinsten Stadt oder des kleinsten Dorfes sprechen. Die Gesellschaft erscheint aber äußerlich bestimmt durch deu Verkehr: den öffentlichen und den privaten; innerlich aber durch die gemeinsame» geistigen Bestrebungen und Ziele. Diese können wieder dreifach sein: öffentliche (politische), geschäftliche (die den Beruf der Einzelnen betreffen) und ge¬ sellige (dem gemeinsamen Vergnügen gewidmet). Alle diese Ziele greisen in einander über und bilden die geistigen Bande, die die Einzelnen zur Gesellschaft verknüpfen. Es ist nun natürlich, daß sich innerhalb der größten Gemeinschaft, der menfchlichen Gesellschaft, nicht nur engere' Gemeinschaften nach Staaten und Nationalitäten bilden, sondern daß sich auch innerhalb der Maaten und Nationalitäten wieder kleinere Gemeinschaften bilden, verschiedne Gesellschafts¬ kreise. Diese Gesellschaftskreise haben aber eine, wenn auch nicht streng be¬ grenzte Rangordnung je nach dem Einfluß, den sie aus die öffentliche Meinung und das politische Leben ausüben. Eine je tiefere Kluft die einzelnen Gesell- schaftskreise voll einander scheidet, eine desto größere Unzufnedenheit darüber wird in den untern Kreisen herrschen. Alles verträgt der Mensch eher als soziale Mißachtung, Man kann mit wenigem und mit vielem leben, aber das Geld kaun einem nicht ganz verkommene». Charakter niemals die gesellschaftlich geachtete Stellung ersetzen. Es wird daher niemals gemigeu, die materielle Lage der vierten Standes zu heben, thu aber im übrigen mit Geringschätzung links liegen zu lassen; man kann die sozialdemokratische Bewegung im vierten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/14
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/14>, abgerufen am 23.07.2024.