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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Wirtschaftsjahr ^8<^

kraft und seinen Kapitalreichtum überschätzt (wir würden lieber sagen: es hat
vergessen, daß die Unternehmungen nur dann gelingen können, wenn ihre
Größe in richtigem Verhältnis zu ihrer natürlichen Grundlage, dem Boden-
reichtnm des Landes steht). Berlin sei die Spielhölle Europas gewesen;
seine Sitten hätten sich in den letzten Jahrzehnten von den höchsten bis in
die niedrigsten Kreise verschlechtert, während den Wienern in demselben Zeit¬
raume die Not ihre Leichtlebigkeit abgestreift und sie zu tüchtigen aufstrebenden
Arbeitern gemacht habe. Das ganze deutsche Volk habe nun die Folgen des
Berliner Leichtsinns zu tragen. Der Konsum habe überall eingeschränkt werden
müssen. Die Montanindustrie liege darnieder. Erholung sei um so schwieriger,
als die deutsche Industrie durch verwegene Preissteigerung einen großen Teil ihres
Absatzgebietes verloren habe. Einige Lichtblicke zeigten den Weg der Rettung>:
Rettung durch verminderte Löhne sei zum Heile der Menschheit durch die Organi¬
sation der Arbeiter, aber auch durch die allgemeine Steigerung der Lebensmittel¬
preise ausgeschlossen. Aber Hilfe komme jetzt durch deu verringerten Preis der Roh¬
stoffe, durch den Aufschwung der Landwirtschaft und durch die Verbilliguug
des Leihkapitals. Der Ausgleichungsprvzeß werde sehr schmerzlich sein, aber
sich doch bei den vortrefflichen sittlichen Eigenschaften des deutschen Volkes
leichter und rascher vollziehen, als es bei irgend einem andern Volke möglich
sein würde. Das hoffen nur auch! Aber man darf nicht vergessen, daß die
Übel, die uns drücken, nicht lediglich von dem Leichtsinn der Berliner und
von dem verwegnen Übermut der Kohlen-, Eisen- und sonstigen Ringe herrühren.
Man darf nicht vergessen, daß das Ausland sehr wohl ohne unser Eisen, ohne
unsern Zucker und ohne unsre Leinwand leben kann, daß wir aber nicht ohne
ausländischen Roggen und Weizen leben können.

Was die Verbilligung des Leihkapitals anlangt, so kommt der "Eeonomist"
nach Aufführung verschiedner Erscheinungen zu dem Schluß: "Alle Zeichen
deuten darauf hin, daß eine Periode sinkenden Zinsfußes im Anzüge ist." Schon
vor dreißig Jahren hat John Stuart Mill die Ansicht ausgesprochen, daß die
Kulturvölker längst bei dem Zinsfuß von einem Prozent (warum nicht Null?)
angelangt sein würden (womit die Nichtigkeit der herrschenden Lehre vom
Kapital für jedermann augenfällig dargethan wäre), wenn dem Zinsfuß nicht
immer wieder durch mutwillige Kapitalzerstörung oder künstliche Mittel, wie
Anleihen zum Kriegführen, Beschaffung von Militürbedürfuissen u. f. w. auf
die Beine geholfen würde. (Grundsätze der politischen Ökonomie, deutsche
Ausgabe von 186ö, Bd. III S. 42 ff).

Es heißt dann weiter: Infolge der fortwährend günstigen Handelsbilanz
Österreichs (seit zehn Jahren anderthalb Milliarden Überschuß), seiner geringen
Verschuldung und steten Schuldentilgung und der emsigen Thätigkeit seiner
Bevölkerung, die verhältnismäßig wenig müßige Rentner zähle, Ströme fort¬
während Gold ins Land ein, und dieser Gvldstrvm werde noch bedeutend


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Das Wirtschaftsjahr ^8<^

kraft und seinen Kapitalreichtum überschätzt (wir würden lieber sagen: es hat
vergessen, daß die Unternehmungen nur dann gelingen können, wenn ihre
Größe in richtigem Verhältnis zu ihrer natürlichen Grundlage, dem Boden-
reichtnm des Landes steht). Berlin sei die Spielhölle Europas gewesen;
seine Sitten hätten sich in den letzten Jahrzehnten von den höchsten bis in
die niedrigsten Kreise verschlechtert, während den Wienern in demselben Zeit¬
raume die Not ihre Leichtlebigkeit abgestreift und sie zu tüchtigen aufstrebenden
Arbeitern gemacht habe. Das ganze deutsche Volk habe nun die Folgen des
Berliner Leichtsinns zu tragen. Der Konsum habe überall eingeschränkt werden
müssen. Die Montanindustrie liege darnieder. Erholung sei um so schwieriger,
als die deutsche Industrie durch verwegene Preissteigerung einen großen Teil ihres
Absatzgebietes verloren habe. Einige Lichtblicke zeigten den Weg der Rettung>:
Rettung durch verminderte Löhne sei zum Heile der Menschheit durch die Organi¬
sation der Arbeiter, aber auch durch die allgemeine Steigerung der Lebensmittel¬
preise ausgeschlossen. Aber Hilfe komme jetzt durch deu verringerten Preis der Roh¬
stoffe, durch den Aufschwung der Landwirtschaft und durch die Verbilliguug
des Leihkapitals. Der Ausgleichungsprvzeß werde sehr schmerzlich sein, aber
sich doch bei den vortrefflichen sittlichen Eigenschaften des deutschen Volkes
leichter und rascher vollziehen, als es bei irgend einem andern Volke möglich
sein würde. Das hoffen nur auch! Aber man darf nicht vergessen, daß die
Übel, die uns drücken, nicht lediglich von dem Leichtsinn der Berliner und
von dem verwegnen Übermut der Kohlen-, Eisen- und sonstigen Ringe herrühren.
Man darf nicht vergessen, daß das Ausland sehr wohl ohne unser Eisen, ohne
unsern Zucker und ohne unsre Leinwand leben kann, daß wir aber nicht ohne
ausländischen Roggen und Weizen leben können.

Was die Verbilligung des Leihkapitals anlangt, so kommt der „Eeonomist"
nach Aufführung verschiedner Erscheinungen zu dem Schluß: „Alle Zeichen
deuten darauf hin, daß eine Periode sinkenden Zinsfußes im Anzüge ist." Schon
vor dreißig Jahren hat John Stuart Mill die Ansicht ausgesprochen, daß die
Kulturvölker längst bei dem Zinsfuß von einem Prozent (warum nicht Null?)
angelangt sein würden (womit die Nichtigkeit der herrschenden Lehre vom
Kapital für jedermann augenfällig dargethan wäre), wenn dem Zinsfuß nicht
immer wieder durch mutwillige Kapitalzerstörung oder künstliche Mittel, wie
Anleihen zum Kriegführen, Beschaffung von Militürbedürfuissen u. f. w. auf
die Beine geholfen würde. (Grundsätze der politischen Ökonomie, deutsche
Ausgabe von 186ö, Bd. III S. 42 ff).

Es heißt dann weiter: Infolge der fortwährend günstigen Handelsbilanz
Österreichs (seit zehn Jahren anderthalb Milliarden Überschuß), seiner geringen
Verschuldung und steten Schuldentilgung und der emsigen Thätigkeit seiner
Bevölkerung, die verhältnismäßig wenig müßige Rentner zähle, Ströme fort¬
während Gold ins Land ein, und dieser Gvldstrvm werde noch bedeutend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/121>, abgerufen am 23.07.2024.