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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Wirtschaftsjahr 1.895

auf Industrie und Handel, Das glänzendste Zeugnis für den gestiegneu
Wahlstand und den darauf gegründeten unerschütterlichen .Kredit Österreich-
Ungarns bilde der tiefe Stand der Devise London. Obwohl sich im vorige"
Jahre alle Umstünde gegen Österreichs Finanzen verschworen zu haben schienen:
die oben erwähnten "Kapitalvernichtungen," schlimme Krisen, von denen der
Weltmarkt betroffen wurde, die durch manchen Mißgriff der Wiener Börse
begünstigten Künste auswärtiger Börsen, die österreichische Effekten im Werte
von 150 Millionen Gulden in das Land zurücktrieben, habe Österreich seinen
günstigen Wechselkurs bewahrt. Wenn sich Österreich im Verkehr mit England
eines günstigen Wechselkurses erfreut, so ist das doch wohl ein Beweis dafür,
daß sich seine Handelsbilanz auf Kosten Englands stetig bessert. Unsre Man¬
chesterleute haben uns nun zwar unzähligemal gesagt, daß England als reichstes
Land Europas selbstverständlich eine negative Handelsbilanz haben, d. h. im
Handel mehr ans Ausland zahlen als vom Auslande einnehmen müsse, aber
eine nicht zu ferne Zukunft wird doch vielleicht lehren, daß England diese
jährlichen Mehrzahlnngen von seinem Kapital leistet, daß daher dieses stetig
abnimmt oder wenigstens nicht in dein richtigen Verhältnis zur steigenden
Bevölkerungszahl wachst.Aus der Erkenntnis der Engländer, daß die natürliche
Grundlage ihres Reichtums zu schmal ist, daß der heimische Boden den Be¬
dürfnissen seiner Bewohner nicht mehr genügt, entspringen ja ihr unersättlicher
Hunger nach Kolonien und die immer krampfhafter werdenden Anstrengungen,
die Kolonien möglichst innig mit dem Mutterlande zu verbinden und solcher¬
gestalt den Kolonialboden gewissermaßen zu englischem Boden zu macheu.
Die Kolonien, namentlich Kanada und Australien, möchten ihren Reichtum
lieber allein genießen, und man darf gespannt sein auf den Kongreß aller
Handelskammern des britischen Weltreichs, der auf nächsten Juni nach London
einberufen ist, und wo die Herstellung engster Handelsbeziehungen zwischen
dem Mutterlande und deu Kolonien den Hauptgegenstand der Beratungen
bilden soll.

Zu ähnlichen Betrachtungen laden die sehr bittern Wahrheiten ein, die
der "Economist" uns Reichsdeutschen sagt. Deutschland habe seine Unternehmungs-



*) Dnß es mit England noch schlimmer steht, als wir vermuteten, ersehen wir nach¬
träglich aus dem City-Bericht der Neuen Freien Presse vom 5. Januar. Die Ausfuhr hat 1891
gegen das Vorjahr um 14 Millionen Pfund abgenommen, die Zufuhr ist um 11 Millionen
gestiegen. "Und die stärkere Einfuhr ist nicht die Folge erhöhten Wohlstandes oder vermehrter
Kaufkraft des Volkes, sondern sie ergab sich als Notwendigkeit ssoil heißen: als notwendige
Folgej einer ungünstigen Ernte, die England zwang, um 8'/s Millionen Pfund Se. mehr
Nahrungsmittel zu importiren." Weiterhin heißt es: "Dnß das abgelaufene, Jahr für die
Geschäftswelt kein günstiges war, beweisen die Ziffern des Clearinghauses sowohl für rein
kaufmännische Warcntransaktionen wie für die Börsen-Liquidationen." Der Bedarf an Kapi¬
talien für produktive Anlage nimmt reißend ab; die Ziffern für die vier Jahre von 1888--1891
lauten: 346, 223, 216 und 124 Millionen Pfund Sterling.
Das Wirtschaftsjahr 1.895

auf Industrie und Handel, Das glänzendste Zeugnis für den gestiegneu
Wahlstand und den darauf gegründeten unerschütterlichen .Kredit Österreich-
Ungarns bilde der tiefe Stand der Devise London. Obwohl sich im vorige»
Jahre alle Umstünde gegen Österreichs Finanzen verschworen zu haben schienen:
die oben erwähnten „Kapitalvernichtungen," schlimme Krisen, von denen der
Weltmarkt betroffen wurde, die durch manchen Mißgriff der Wiener Börse
begünstigten Künste auswärtiger Börsen, die österreichische Effekten im Werte
von 150 Millionen Gulden in das Land zurücktrieben, habe Österreich seinen
günstigen Wechselkurs bewahrt. Wenn sich Österreich im Verkehr mit England
eines günstigen Wechselkurses erfreut, so ist das doch wohl ein Beweis dafür,
daß sich seine Handelsbilanz auf Kosten Englands stetig bessert. Unsre Man¬
chesterleute haben uns nun zwar unzähligemal gesagt, daß England als reichstes
Land Europas selbstverständlich eine negative Handelsbilanz haben, d. h. im
Handel mehr ans Ausland zahlen als vom Auslande einnehmen müsse, aber
eine nicht zu ferne Zukunft wird doch vielleicht lehren, daß England diese
jährlichen Mehrzahlnngen von seinem Kapital leistet, daß daher dieses stetig
abnimmt oder wenigstens nicht in dein richtigen Verhältnis zur steigenden
Bevölkerungszahl wachst.Aus der Erkenntnis der Engländer, daß die natürliche
Grundlage ihres Reichtums zu schmal ist, daß der heimische Boden den Be¬
dürfnissen seiner Bewohner nicht mehr genügt, entspringen ja ihr unersättlicher
Hunger nach Kolonien und die immer krampfhafter werdenden Anstrengungen,
die Kolonien möglichst innig mit dem Mutterlande zu verbinden und solcher¬
gestalt den Kolonialboden gewissermaßen zu englischem Boden zu macheu.
Die Kolonien, namentlich Kanada und Australien, möchten ihren Reichtum
lieber allein genießen, und man darf gespannt sein auf den Kongreß aller
Handelskammern des britischen Weltreichs, der auf nächsten Juni nach London
einberufen ist, und wo die Herstellung engster Handelsbeziehungen zwischen
dem Mutterlande und deu Kolonien den Hauptgegenstand der Beratungen
bilden soll.

Zu ähnlichen Betrachtungen laden die sehr bittern Wahrheiten ein, die
der „Economist" uns Reichsdeutschen sagt. Deutschland habe seine Unternehmungs-



*) Dnß es mit England noch schlimmer steht, als wir vermuteten, ersehen wir nach¬
träglich aus dem City-Bericht der Neuen Freien Presse vom 5. Januar. Die Ausfuhr hat 1891
gegen das Vorjahr um 14 Millionen Pfund abgenommen, die Zufuhr ist um 11 Millionen
gestiegen. „Und die stärkere Einfuhr ist nicht die Folge erhöhten Wohlstandes oder vermehrter
Kaufkraft des Volkes, sondern sie ergab sich als Notwendigkeit ssoil heißen: als notwendige
Folgej einer ungünstigen Ernte, die England zwang, um 8'/s Millionen Pfund Se. mehr
Nahrungsmittel zu importiren." Weiterhin heißt es: „Dnß das abgelaufene, Jahr für die
Geschäftswelt kein günstiges war, beweisen die Ziffern des Clearinghauses sowohl für rein
kaufmännische Warcntransaktionen wie für die Börsen-Liquidationen." Der Bedarf an Kapi¬
talien für produktive Anlage nimmt reißend ab; die Ziffern für die vier Jahre von 1888—1891
lauten: 346, 223, 216 und 124 Millionen Pfund Sterling.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/120>, abgerufen am 23.07.2024.