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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Politische Aussichten

Eisenbahn aufgelegt werden sollen, während eine zweite größere Staatsanleihe
ebenfalls in Angriff genommen sei.

So muß man dem Ausgange mit Spannung entgegensehen. Sonst ist
man von allen Seiten her bemüht, die auftauchenden politischen "Zwischenfälle"
auszugleichen. Wo immer etwas "Akutes" vorlag, hat man es durch Ver¬
handlungen zu beseitigen gewußt. Im äußersten Osten wird der chinesische
Aufruhr, soweit irgend möglich, so gedeutet, daß ein bewaffnetes Eingreifen
der europäischen Mächte nicht notwendig erscheint; man käme auch in arge
Verlegenheit dadurch. Frankreich, England, Deutschland und Rußland können,
wo es Handelsinteressen gilt, nicht Hand in Hand gehen, da eine Macht mit
der audern koukurrirt. Eher schon ließe sich eine Gruppirung: England-
Deutschland auf der einen und Fmnkreich-Rußland auf der andern Seite
denken. Da aber Rußland, um in Pamir freie Hand zu haben, es ablehnt,
einen Druck auf China auszuüben, geht jeder seine eignen Wege. Die russisch¬
englischen Stetigkeiten auf dem "Dache der Welt" haben schon zu Verhand¬
lungen über eine Grenzkommission geführt. Die Frage der Räumung Ägyptens
ist, kaum angeregt, wieder begraben worden, und jetzt, wo ein Thronwechsel
in Ägypten eingetreten ist, macht sich allseitig das Interesse geltend, den
8rÄt,u8 <imo aufrecht zu erhalten. Über deu Fall Chadourne wird auch
nicht mehr lange zu reden sein, da Frankreich einen gewundnen Rück-
zug, wenn auch unter Begleitung tönender Worte, anzutreten beginnt.
Aus diesen Fragen wird also nichts entstehen. Nicht von dem, was sich vor-
hersehen läßt, sondern von dem völlig unerwarteten droht die Gesahr der
Zukunft. Wenn daher die Engländer immer aufs neue wiederhole", daß
Rußland eine Überrumpelung Konstantinopels vorbereite, scheint uns das
schon aus diesem Gründe unwahrscheinlich. Kennen die Engländer den Plan,
so können sie ihn anch verhindern. Die 90000 Mann aber, die angeblich
bei Sebnstopol liegen, sind in das Gebiet der Fabel zu verweisen.

In Betreff der auswärtigen Politik heißt es also ruhig Blut liehalten.
Sollte die Überraschung kommen, so wird mau ihr zu begegnen wissen. Man
ist in Deutschland dnrch das chronische Kriegsrnfen so abgehärtet, daß man
kaum noch hinhört.

Viel wichtiger ist die Frage, welches die Parteien sind, mit denen die
Regierung, nachdem die Handelsverträge nnn angenommen sind, weiter zu
arbeiten gedenkt. Daß die bisherige Mehrheit auseinanderfällt, sobald im
preußischen Landtage das Schulgesetz, im Reichstage das Gesetz über deu
llnterstlltzuugswvhnsitz zur Verba"dluug kommt, gilt für sicher. Leider weisen
viele Anzeichen daraus hin, daß sich die Regierung namentlich auf das
Zentrum zu stützen gedenkt. In ganz Norddeutschlnud würde diese Politik
auf den heftigsten Widerspruch stoßen; man will nieder das Schulgesetz in
einer Fassung, wie sie Herr von Goßler dem Abgeordneten Windthorst der-


Politische Aussichten

Eisenbahn aufgelegt werden sollen, während eine zweite größere Staatsanleihe
ebenfalls in Angriff genommen sei.

So muß man dem Ausgange mit Spannung entgegensehen. Sonst ist
man von allen Seiten her bemüht, die auftauchenden politischen „Zwischenfälle"
auszugleichen. Wo immer etwas „Akutes" vorlag, hat man es durch Ver¬
handlungen zu beseitigen gewußt. Im äußersten Osten wird der chinesische
Aufruhr, soweit irgend möglich, so gedeutet, daß ein bewaffnetes Eingreifen
der europäischen Mächte nicht notwendig erscheint; man käme auch in arge
Verlegenheit dadurch. Frankreich, England, Deutschland und Rußland können,
wo es Handelsinteressen gilt, nicht Hand in Hand gehen, da eine Macht mit
der audern koukurrirt. Eher schon ließe sich eine Gruppirung: England-
Deutschland auf der einen und Fmnkreich-Rußland auf der andern Seite
denken. Da aber Rußland, um in Pamir freie Hand zu haben, es ablehnt,
einen Druck auf China auszuüben, geht jeder seine eignen Wege. Die russisch¬
englischen Stetigkeiten auf dem „Dache der Welt" haben schon zu Verhand¬
lungen über eine Grenzkommission geführt. Die Frage der Räumung Ägyptens
ist, kaum angeregt, wieder begraben worden, und jetzt, wo ein Thronwechsel
in Ägypten eingetreten ist, macht sich allseitig das Interesse geltend, den
8rÄt,u8 <imo aufrecht zu erhalten. Über deu Fall Chadourne wird auch
nicht mehr lange zu reden sein, da Frankreich einen gewundnen Rück-
zug, wenn auch unter Begleitung tönender Worte, anzutreten beginnt.
Aus diesen Fragen wird also nichts entstehen. Nicht von dem, was sich vor-
hersehen läßt, sondern von dem völlig unerwarteten droht die Gesahr der
Zukunft. Wenn daher die Engländer immer aufs neue wiederhole«, daß
Rußland eine Überrumpelung Konstantinopels vorbereite, scheint uns das
schon aus diesem Gründe unwahrscheinlich. Kennen die Engländer den Plan,
so können sie ihn anch verhindern. Die 90000 Mann aber, die angeblich
bei Sebnstopol liegen, sind in das Gebiet der Fabel zu verweisen.

In Betreff der auswärtigen Politik heißt es also ruhig Blut liehalten.
Sollte die Überraschung kommen, so wird mau ihr zu begegnen wissen. Man
ist in Deutschland dnrch das chronische Kriegsrnfen so abgehärtet, daß man
kaum noch hinhört.

Viel wichtiger ist die Frage, welches die Parteien sind, mit denen die
Regierung, nachdem die Handelsverträge nnn angenommen sind, weiter zu
arbeiten gedenkt. Daß die bisherige Mehrheit auseinanderfällt, sobald im
preußischen Landtage das Schulgesetz, im Reichstage das Gesetz über deu
llnterstlltzuugswvhnsitz zur Verba»dluug kommt, gilt für sicher. Leider weisen
viele Anzeichen daraus hin, daß sich die Regierung namentlich auf das
Zentrum zu stützen gedenkt. In ganz Norddeutschlnud würde diese Politik
auf den heftigsten Widerspruch stoßen; man will nieder das Schulgesetz in
einer Fassung, wie sie Herr von Goßler dem Abgeordneten Windthorst der-


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[0115] Politische Aussichten Eisenbahn aufgelegt werden sollen, während eine zweite größere Staatsanleihe ebenfalls in Angriff genommen sei. So muß man dem Ausgange mit Spannung entgegensehen. Sonst ist man von allen Seiten her bemüht, die auftauchenden politischen „Zwischenfälle" auszugleichen. Wo immer etwas „Akutes" vorlag, hat man es durch Ver¬ handlungen zu beseitigen gewußt. Im äußersten Osten wird der chinesische Aufruhr, soweit irgend möglich, so gedeutet, daß ein bewaffnetes Eingreifen der europäischen Mächte nicht notwendig erscheint; man käme auch in arge Verlegenheit dadurch. Frankreich, England, Deutschland und Rußland können, wo es Handelsinteressen gilt, nicht Hand in Hand gehen, da eine Macht mit der audern koukurrirt. Eher schon ließe sich eine Gruppirung: England- Deutschland auf der einen und Fmnkreich-Rußland auf der andern Seite denken. Da aber Rußland, um in Pamir freie Hand zu haben, es ablehnt, einen Druck auf China auszuüben, geht jeder seine eignen Wege. Die russisch¬ englischen Stetigkeiten auf dem „Dache der Welt" haben schon zu Verhand¬ lungen über eine Grenzkommission geführt. Die Frage der Räumung Ägyptens ist, kaum angeregt, wieder begraben worden, und jetzt, wo ein Thronwechsel in Ägypten eingetreten ist, macht sich allseitig das Interesse geltend, den 8rÄt,u8 <imo aufrecht zu erhalten. Über deu Fall Chadourne wird auch nicht mehr lange zu reden sein, da Frankreich einen gewundnen Rück- zug, wenn auch unter Begleitung tönender Worte, anzutreten beginnt. Aus diesen Fragen wird also nichts entstehen. Nicht von dem, was sich vor- hersehen läßt, sondern von dem völlig unerwarteten droht die Gesahr der Zukunft. Wenn daher die Engländer immer aufs neue wiederhole«, daß Rußland eine Überrumpelung Konstantinopels vorbereite, scheint uns das schon aus diesem Gründe unwahrscheinlich. Kennen die Engländer den Plan, so können sie ihn anch verhindern. Die 90000 Mann aber, die angeblich bei Sebnstopol liegen, sind in das Gebiet der Fabel zu verweisen. In Betreff der auswärtigen Politik heißt es also ruhig Blut liehalten. Sollte die Überraschung kommen, so wird mau ihr zu begegnen wissen. Man ist in Deutschland dnrch das chronische Kriegsrnfen so abgehärtet, daß man kaum noch hinhört. Viel wichtiger ist die Frage, welches die Parteien sind, mit denen die Regierung, nachdem die Handelsverträge nnn angenommen sind, weiter zu arbeiten gedenkt. Daß die bisherige Mehrheit auseinanderfällt, sobald im preußischen Landtage das Schulgesetz, im Reichstage das Gesetz über deu llnterstlltzuugswvhnsitz zur Verba»dluug kommt, gilt für sicher. Leider weisen viele Anzeichen daraus hin, daß sich die Regierung namentlich auf das Zentrum zu stützen gedenkt. In ganz Norddeutschlnud würde diese Politik auf den heftigsten Widerspruch stoßen; man will nieder das Schulgesetz in einer Fassung, wie sie Herr von Goßler dem Abgeordneten Windthorst der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/115>, abgerufen am 25.08.2024.