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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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aber das sittliche, und ob ein den entscheidenden Stellen das Maß sittlichen
Rechtsgesühles vorhanden ist, um die Frage, ob die Verbreitung des Urteiles
angemessen sei, zu beantworten, darüber darf mau umso mehr im Zweifel sein,
als auch uur eine ausreichende Kenntnis der maßgebenden Verhältnisse kanui
jemals vorhanden sein wird. Die Leute, denen das traurige Los beschieden
ist, ihr Brot durch Berichte über das Schicksal von Übertretern der Gesetze,
von Verbrechern zu verdienen, stehen meist auf eiuer niedrigen Bildungsstufe.
Das Bewußtsein der Erfüllung einer hohen und heiligen Pflicht, das den
Richter selbst bei den trockensten und tagtäglichsten Fällen in eine ideale Em¬
pfindung erhebt, kann sie nicht erfüllen, und unausbleiblich stellt sich bei
ihnen der Hunger nach anziehenden und darum einträglichen Fällen ein.
Was diese bedauernswerten Diener der Öffentlichkeit zusammenschreiben, nach
Wert oder Unwert zu prüfen und zu richten ist meist Aufgabe eines Mannes,
der den Thatsachen selbst so fern steht, daß er nicht beurteilen kann, wie der
sittliche Eindruck einer Veröffentlichung für den Thäter beschaffen sein wird.
Wie die richterlichen Behörden über diese gewissermaßen nachrichtcnde und ihren
Spruch beschwerende Thätigkeit der Presse denken, darüber wäre eine Be¬
lehrung von maßgebender Seite aus sehr erwünscht, da es sich hier um eine
recht bedeutsame Frage des öffentlichen Lebens handelt. Nach unsrer Meinung
und nach den beschriebenen Verhältnissen ist der sittliche Nutzen der Preßberichte
für den Betroffenen ebenso zweifelhaft, wie die sittliche Berechtigung der Presse,
in der angedeuteten Richtung zu wirken.

Allen diesen Betrachtungen liegt in erster Reihe der rein sachgemäße und
ernst gehaltene öffentliche Bericht über Verhandlungen vor der Strafkammer
und vor dem Schwurgericht zu Grunde. Nach dem Gesagten können die
Ausartungen dieses Zweiges der Preßthätigkeit mit wenigen Worten abgethan
werden. Zu thuen rechnen wir vor allem die sensationelle Ausbeutung schwerer
Und gemeiner Verbrechen, deren Zweck der Sinnenkitzel entweder nach der
Seite des Grausigen oder Geschlechtlichen ist. Leider bietet unsre Presse in
dieser Richtung schon recht Erkleckliches, und sie hat durchaus keine Veran¬
lassung, im Pharisäerstolz nach Paris zu blicken. Sie sollte lieber vor der
eignen Thüre kehren. Nicht, als ob alles Aufsehenerregende totgeschwiegen
werden sollte. Im Gegenteil. Vorgänge, wie sie jetzt der Bochnmer Prozeß
zur Sprache gebracht hat, müssen im öffentlichen Interesse enthüllt und frei
und offen behandelt werden, und auch ein Prozeß wie der Londoner Spiel-
Prozeß verdient, so unliebsames er entdeckt, bekannt zu werden. Freude an solchen
Enthüllungen hat nur die Gemeinheit und das engherzige Standes- und Partei-
interesse. Das höhnische Grinsen aber dieser Schadenfrohen darf nicht davon
abhalten, Dinge von eingreifender gesellschaftlicher Bedeutung offen und überall,
selbstverständlich mit dem der Sache entsprechenden Ernste, zu behandeln.
Daß das überall geschehen sei, kann nun aber nicht behaupten. Der Bochumer


aber das sittliche, und ob ein den entscheidenden Stellen das Maß sittlichen
Rechtsgesühles vorhanden ist, um die Frage, ob die Verbreitung des Urteiles
angemessen sei, zu beantworten, darüber darf mau umso mehr im Zweifel sein,
als auch uur eine ausreichende Kenntnis der maßgebenden Verhältnisse kanui
jemals vorhanden sein wird. Die Leute, denen das traurige Los beschieden
ist, ihr Brot durch Berichte über das Schicksal von Übertretern der Gesetze,
von Verbrechern zu verdienen, stehen meist auf eiuer niedrigen Bildungsstufe.
Das Bewußtsein der Erfüllung einer hohen und heiligen Pflicht, das den
Richter selbst bei den trockensten und tagtäglichsten Fällen in eine ideale Em¬
pfindung erhebt, kann sie nicht erfüllen, und unausbleiblich stellt sich bei
ihnen der Hunger nach anziehenden und darum einträglichen Fällen ein.
Was diese bedauernswerten Diener der Öffentlichkeit zusammenschreiben, nach
Wert oder Unwert zu prüfen und zu richten ist meist Aufgabe eines Mannes,
der den Thatsachen selbst so fern steht, daß er nicht beurteilen kann, wie der
sittliche Eindruck einer Veröffentlichung für den Thäter beschaffen sein wird.
Wie die richterlichen Behörden über diese gewissermaßen nachrichtcnde und ihren
Spruch beschwerende Thätigkeit der Presse denken, darüber wäre eine Be¬
lehrung von maßgebender Seite aus sehr erwünscht, da es sich hier um eine
recht bedeutsame Frage des öffentlichen Lebens handelt. Nach unsrer Meinung
und nach den beschriebenen Verhältnissen ist der sittliche Nutzen der Preßberichte
für den Betroffenen ebenso zweifelhaft, wie die sittliche Berechtigung der Presse,
in der angedeuteten Richtung zu wirken.

Allen diesen Betrachtungen liegt in erster Reihe der rein sachgemäße und
ernst gehaltene öffentliche Bericht über Verhandlungen vor der Strafkammer
und vor dem Schwurgericht zu Grunde. Nach dem Gesagten können die
Ausartungen dieses Zweiges der Preßthätigkeit mit wenigen Worten abgethan
werden. Zu thuen rechnen wir vor allem die sensationelle Ausbeutung schwerer
Und gemeiner Verbrechen, deren Zweck der Sinnenkitzel entweder nach der
Seite des Grausigen oder Geschlechtlichen ist. Leider bietet unsre Presse in
dieser Richtung schon recht Erkleckliches, und sie hat durchaus keine Veran¬
lassung, im Pharisäerstolz nach Paris zu blicken. Sie sollte lieber vor der
eignen Thüre kehren. Nicht, als ob alles Aufsehenerregende totgeschwiegen
werden sollte. Im Gegenteil. Vorgänge, wie sie jetzt der Bochnmer Prozeß
zur Sprache gebracht hat, müssen im öffentlichen Interesse enthüllt und frei
und offen behandelt werden, und auch ein Prozeß wie der Londoner Spiel-
Prozeß verdient, so unliebsames er entdeckt, bekannt zu werden. Freude an solchen
Enthüllungen hat nur die Gemeinheit und das engherzige Standes- und Partei-
interesse. Das höhnische Grinsen aber dieser Schadenfrohen darf nicht davon
abhalten, Dinge von eingreifender gesellschaftlicher Bedeutung offen und überall,
selbstverständlich mit dem der Sache entsprechenden Ernste, zu behandeln.
Daß das überall geschehen sei, kann nun aber nicht behaupten. Der Bochumer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/71>, abgerufen am 26.08.2024.