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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

entgegen. Auch in dem Abschnitt über die Religion der Sozmldemokrcitie wird'
die Sache so dargestellt, als ob Marx der Erfinder und Schöpfer des Atheismus
und Materialismus und die Sozialdemokratin in Deutschland die einzige Ver¬
breiterin dieser Lehren wäre. Nun weiß aber doch alle Welt, daß der Atheismus
in allen Kulturstaaten, das fromme England nicht ausgeuounnen, die Religion der
"Wissenschaftlich" gebildeten ist, daß in Deutschland viele der angesehenste" Zei¬
tungen und Zeitschriften, darunter auch solche, die der politische" Partei des Ver¬
fassers dienen, den Atheismus als selbstverständlich vorauszusehen Pflegen, und daß
eine Wochenschrift für die Gebildeten, die gleich den Grenzboten den Mut hat,
sich zum Glauben an den persönlichen Gott zu bekennen, dadurch beinahe ihre
Existenz aufs Spiel setzt. Nur illustrirten Familienblättern gestattet man dergleichen,
indem der gebildete Hausvater sich der doppelten Buchführung zu bedienen Pflegt:
das "Wissenschaftliche" für sich, das Religiös-Erbauliche für Weib und Kinder.
Der eine fromme Professor der Medizin, auf den sich Blum beruft -- es wird
ja noch einige solche geben --, bestätigt ja nur als Ausnahme die Regel. Ist es
denkbar, daß sich im Zeitalter des allgemeinen Schnlzwauges und der Presse die
Volksmassen von dem Mitgenuß der "Errungenschaften der Forschung" sollten
ausschließen lassen, daß nach Vernichtung der Sozialdemokratie nicht sofort wieder
andre Organisationen entstehen sollten, die das von den alten Bildungsvereinen
begonnene "Aufklärungswerk" fortsetzen? Den Unglauben der Sozialdemokratie
bekämpfen und dabei den Atheismus der modernen Wissenschaft ignoriren, das ist
so, wie wenn ein Hausbesitzer, dem es in die Bilde regnet, immer nur die faulenden
Dielen ausbessern, die Löcher im Dache aber offen lassen wollte. Vielleicht sieht
sich der Verfasser, bevor er eine neue Auflage veranstaltet, einmal die Verhand¬
lungen der letzten Augustkonferenz über diesen Punkt an.


Zu Theodor Körners Geburtstage.

Den 23. September feiert das
deutsche Volk den hundertjährigen Geburtstag eines seiner Lieblinge, des jugend¬
lichen Säugers und Helden der Freiheitskriege Theodor Körner. Wenn sich auch
erwarten ließ, daß die lebhaftere Aufmerksamkeit, die bei der diesjährigen Wieder¬
kehr des Tages auf deu Dichter gelenkt werden würde, vielleicht auch neues über
ihn und same Kreise zu Tage fördern würde --- eine so reiche Ausbeute, wie
sie in der That gespendet worden ist, hätte niemand zu hoffen gewagt. Der
Lebenserinnerungen Alfred von Arneths, die das anmutige Bild der schönen
Dichterbraut Antonie Adamberger in das hellste Licht gerückt haben, ist in diesen
Blättern schon ausführlicher gedacht worden (vgl. Heft 32). Über den Kreis
der Familie Körner selbst bringt wertvolle Nachrichten das inzwischen erschienene
Werk von Rudolf Brockhaus: Theodor Körner. Zum 23. September 1891.
Leipzig, F. A. Brockhaus.

Aus seiner reichen Aulvgraphensamiuluug, die die deutsche Litteraturgeschichte
Von Gottsched bis auf Heine umfaßt, hat der Herausgeber hier eine Reihe bisher
zum großen Teil uugedrnckter Briefe und Schriftstücke veröffentlicht, die sich auf
die Familie Körner beziehen. Eingeleitet wird die Sammlung durch drei Facsimile,
und alle Leser werden mit uns dem Herausgeber Dank wissen, daß er gleich an
die Spitze den herrlichen Brief Theodors gestellt hat, worin der Sohn dem Vater,
dem treuen Freunde, in ungestümer Freude feine junge Liebe gesteht -- man
glaubt es beim Anblick der kühnen Schriftzüge zu sehen, wie die jugendlich kräftige
Hand die Feder hat über das Papier fliegen lassen. Dann folgt ein weniger
bekannter prächtiger Brief Tonis an Theodors Mutter; er ist wenige Wochen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

entgegen. Auch in dem Abschnitt über die Religion der Sozmldemokrcitie wird'
die Sache so dargestellt, als ob Marx der Erfinder und Schöpfer des Atheismus
und Materialismus und die Sozialdemokratin in Deutschland die einzige Ver¬
breiterin dieser Lehren wäre. Nun weiß aber doch alle Welt, daß der Atheismus
in allen Kulturstaaten, das fromme England nicht ausgeuounnen, die Religion der
„Wissenschaftlich" gebildeten ist, daß in Deutschland viele der angesehenste« Zei¬
tungen und Zeitschriften, darunter auch solche, die der politische» Partei des Ver¬
fassers dienen, den Atheismus als selbstverständlich vorauszusehen Pflegen, und daß
eine Wochenschrift für die Gebildeten, die gleich den Grenzboten den Mut hat,
sich zum Glauben an den persönlichen Gott zu bekennen, dadurch beinahe ihre
Existenz aufs Spiel setzt. Nur illustrirten Familienblättern gestattet man dergleichen,
indem der gebildete Hausvater sich der doppelten Buchführung zu bedienen Pflegt:
das „Wissenschaftliche" für sich, das Religiös-Erbauliche für Weib und Kinder.
Der eine fromme Professor der Medizin, auf den sich Blum beruft — es wird
ja noch einige solche geben —, bestätigt ja nur als Ausnahme die Regel. Ist es
denkbar, daß sich im Zeitalter des allgemeinen Schnlzwauges und der Presse die
Volksmassen von dem Mitgenuß der „Errungenschaften der Forschung" sollten
ausschließen lassen, daß nach Vernichtung der Sozialdemokratie nicht sofort wieder
andre Organisationen entstehen sollten, die das von den alten Bildungsvereinen
begonnene „Aufklärungswerk" fortsetzen? Den Unglauben der Sozialdemokratie
bekämpfen und dabei den Atheismus der modernen Wissenschaft ignoriren, das ist
so, wie wenn ein Hausbesitzer, dem es in die Bilde regnet, immer nur die faulenden
Dielen ausbessern, die Löcher im Dache aber offen lassen wollte. Vielleicht sieht
sich der Verfasser, bevor er eine neue Auflage veranstaltet, einmal die Verhand¬
lungen der letzten Augustkonferenz über diesen Punkt an.


Zu Theodor Körners Geburtstage.

Den 23. September feiert das
deutsche Volk den hundertjährigen Geburtstag eines seiner Lieblinge, des jugend¬
lichen Säugers und Helden der Freiheitskriege Theodor Körner. Wenn sich auch
erwarten ließ, daß die lebhaftere Aufmerksamkeit, die bei der diesjährigen Wieder¬
kehr des Tages auf deu Dichter gelenkt werden würde, vielleicht auch neues über
ihn und same Kreise zu Tage fördern würde -— eine so reiche Ausbeute, wie
sie in der That gespendet worden ist, hätte niemand zu hoffen gewagt. Der
Lebenserinnerungen Alfred von Arneths, die das anmutige Bild der schönen
Dichterbraut Antonie Adamberger in das hellste Licht gerückt haben, ist in diesen
Blättern schon ausführlicher gedacht worden (vgl. Heft 32). Über den Kreis
der Familie Körner selbst bringt wertvolle Nachrichten das inzwischen erschienene
Werk von Rudolf Brockhaus: Theodor Körner. Zum 23. September 1891.
Leipzig, F. A. Brockhaus.

Aus seiner reichen Aulvgraphensamiuluug, die die deutsche Litteraturgeschichte
Von Gottsched bis auf Heine umfaßt, hat der Herausgeber hier eine Reihe bisher
zum großen Teil uugedrnckter Briefe und Schriftstücke veröffentlicht, die sich auf
die Familie Körner beziehen. Eingeleitet wird die Sammlung durch drei Facsimile,
und alle Leser werden mit uns dem Herausgeber Dank wissen, daß er gleich an
die Spitze den herrlichen Brief Theodors gestellt hat, worin der Sohn dem Vater,
dem treuen Freunde, in ungestümer Freude feine junge Liebe gesteht — man
glaubt es beim Anblick der kühnen Schriftzüge zu sehen, wie die jugendlich kräftige
Hand die Feder hat über das Papier fliegen lassen. Dann folgt ein weniger
bekannter prächtiger Brief Tonis an Theodors Mutter; er ist wenige Wochen


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[0630] Maßgebliches und Unmaßgebliches entgegen. Auch in dem Abschnitt über die Religion der Sozmldemokrcitie wird' die Sache so dargestellt, als ob Marx der Erfinder und Schöpfer des Atheismus und Materialismus und die Sozialdemokratin in Deutschland die einzige Ver¬ breiterin dieser Lehren wäre. Nun weiß aber doch alle Welt, daß der Atheismus in allen Kulturstaaten, das fromme England nicht ausgeuounnen, die Religion der „Wissenschaftlich" gebildeten ist, daß in Deutschland viele der angesehenste« Zei¬ tungen und Zeitschriften, darunter auch solche, die der politische» Partei des Ver¬ fassers dienen, den Atheismus als selbstverständlich vorauszusehen Pflegen, und daß eine Wochenschrift für die Gebildeten, die gleich den Grenzboten den Mut hat, sich zum Glauben an den persönlichen Gott zu bekennen, dadurch beinahe ihre Existenz aufs Spiel setzt. Nur illustrirten Familienblättern gestattet man dergleichen, indem der gebildete Hausvater sich der doppelten Buchführung zu bedienen Pflegt: das „Wissenschaftliche" für sich, das Religiös-Erbauliche für Weib und Kinder. Der eine fromme Professor der Medizin, auf den sich Blum beruft — es wird ja noch einige solche geben —, bestätigt ja nur als Ausnahme die Regel. Ist es denkbar, daß sich im Zeitalter des allgemeinen Schnlzwauges und der Presse die Volksmassen von dem Mitgenuß der „Errungenschaften der Forschung" sollten ausschließen lassen, daß nach Vernichtung der Sozialdemokratie nicht sofort wieder andre Organisationen entstehen sollten, die das von den alten Bildungsvereinen begonnene „Aufklärungswerk" fortsetzen? Den Unglauben der Sozialdemokratie bekämpfen und dabei den Atheismus der modernen Wissenschaft ignoriren, das ist so, wie wenn ein Hausbesitzer, dem es in die Bilde regnet, immer nur die faulenden Dielen ausbessern, die Löcher im Dache aber offen lassen wollte. Vielleicht sieht sich der Verfasser, bevor er eine neue Auflage veranstaltet, einmal die Verhand¬ lungen der letzten Augustkonferenz über diesen Punkt an. Zu Theodor Körners Geburtstage. Den 23. September feiert das deutsche Volk den hundertjährigen Geburtstag eines seiner Lieblinge, des jugend¬ lichen Säugers und Helden der Freiheitskriege Theodor Körner. Wenn sich auch erwarten ließ, daß die lebhaftere Aufmerksamkeit, die bei der diesjährigen Wieder¬ kehr des Tages auf deu Dichter gelenkt werden würde, vielleicht auch neues über ihn und same Kreise zu Tage fördern würde -— eine so reiche Ausbeute, wie sie in der That gespendet worden ist, hätte niemand zu hoffen gewagt. Der Lebenserinnerungen Alfred von Arneths, die das anmutige Bild der schönen Dichterbraut Antonie Adamberger in das hellste Licht gerückt haben, ist in diesen Blättern schon ausführlicher gedacht worden (vgl. Heft 32). Über den Kreis der Familie Körner selbst bringt wertvolle Nachrichten das inzwischen erschienene Werk von Rudolf Brockhaus: Theodor Körner. Zum 23. September 1891. Leipzig, F. A. Brockhaus. Aus seiner reichen Aulvgraphensamiuluug, die die deutsche Litteraturgeschichte Von Gottsched bis auf Heine umfaßt, hat der Herausgeber hier eine Reihe bisher zum großen Teil uugedrnckter Briefe und Schriftstücke veröffentlicht, die sich auf die Familie Körner beziehen. Eingeleitet wird die Sammlung durch drei Facsimile, und alle Leser werden mit uns dem Herausgeber Dank wissen, daß er gleich an die Spitze den herrlichen Brief Theodors gestellt hat, worin der Sohn dem Vater, dem treuen Freunde, in ungestümer Freude feine junge Liebe gesteht — man glaubt es beim Anblick der kühnen Schriftzüge zu sehen, wie die jugendlich kräftige Hand die Feder hat über das Papier fliegen lassen. Dann folgt ein weniger bekannter prächtiger Brief Tonis an Theodors Mutter; er ist wenige Wochen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/630>, abgerufen am 13.11.2024.